13.01.2023 14:10:35
RUSSLAND
Von Ulrich Heyden
us den Lautsprechern tönte der Lennon-Song „Imagine“. Das sanfte Lied über eine Welt der Brüderlichkeit wirkte mitten in der Moskauer Innenstadt, wo es oft hektisch und grob zugeht, fast deplatziert. Doch für die 2.500 Menschen, die sich Ende Dezember auf dem Puschkin-Platz, versammelten, war der Pop-Song gerade die richtige Einstimmung für eine Kundgebung gegen die ausländerfeindliche Krawalle der letzten Wochen. Denn viele der Versammelten hatten Angst. 14 Tage vorher waren auf dem Manege-Platz, direkt vor dem Kreml, 7.000 Jugendliche versammelt. Sie riefen „Russland den Russen“. Manche zeigten auch den Hitler-Gruß.
Die Jugend-Krawalle waren zunächst von Fußball-Fans ausgegangen. Sie protestierten dagegen, dass die Polizei mehrere Kaukasier freigelassen hatte, die sich an einer Schlägerei mit russischen Jugendlichen beteiligt hatten. Ein russischer Fußball-Fan war bei der Schlägerei getötet worden.
Die Menschen auf dem Puschkin-Platz – es waren vor allem Liberale und Intellektuelle gekommen – wollten ein Signal gegen die Ausländerfeindlichkeit setzen. Filmregisseur Waleri Todorowski brachte die Stimmung der Versammelten auf den Punkt, als er erklärte, viele seiner Freunde und Bekannte, schauten schon in den Spiegel, „um zu prüfen, ob sie ein slawisches Äußeres haben.“ Viele seiner Freunde hätten Angst auf die Straße zu gehen.
Rechtsradikale Organisationen wie die „Bewegung gegen illegale Migration“ und „Slawische Kraft“ hatten die Jugend-Proteste aktiv mit geschürt. Doch der Kreml reagierte hilflos. Präsident Dmitri Medwedew ordnete an, gegen die Zusammenrottungen mit aller Härte vorzugehen. An mehreren Tagen wurden in Moskau jeweils über 1.000 Jugendliche kurzzeitig festgenommen. Außerdem plädierte der Kreml-Chef in einer Botschaft an die Eltern, sich besser um ihre Kinder zu kümmern. Viele der Randalierer waren erst zwischen 14 und 16 Jahre alt.
Erst zehn Tage nach Beginn der Krawalle, gab es ein politisches Signal der russischen Führung. Ministerpräsident Wladimir Putin versammelte russische und kaukasische Fußball-Fans um einen Tisch und forderte von beiden Seiten Toleranz. Wenn die Ethnien im Vielvölkerstaat Russland nicht friedlich zusammenleben, werde das Land zerfallen und könne von fremden Mächten „auf die Knie gezwungen werden“, drohte der Premier.
Doch die Warnungen kommen sehr spät. Schon seit Jahren hat sich unter den alteingesessenen Moskauern eine latente Unzufriedenheit entwickelt, über kaukasische Händler, die auf den Märkten Gemüse und Obst verkaufen und über die die zunehmende Zahl von Arbeitern aus den zentralasiatischen Republiken Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan, die in Moskau Hochhäuser bauen und Straßen fegen. Der Moloch Moskau ist geradezu süchtig nach billigen Arbeitskräften, aber Niemand hat sich bisher Gedanken gemacht, wie die Zuzügler in der Hauptstadt integriert werden können und wie die Verständigung zwischen Alteingesessenen und Migranten organisiert werden kann.
Durch die Zuzügler aus Zentralasien und dem Kaukasus hat sich der Anteil der moslemischen Bevölkerung in elf-Millionen-Stadt Moskau auf etwa zwei Million Menschen erhöht. Doch den Bau neuer Moscheen hat die Stadtverwaltung bisher verweigert. Bisher gibt es nur vier Moscheen in der Hauptstadt, was zur Folge hat, dass die Moslems Moskaus an Feiertagen vor den vier Gotteshäusern auf der Straße beten. Das wiederum empfinden viele alteingesessene Moskauer als Zumutung.
Angesichts der aufgeheizten Debatte über die Migranten in Moskau änderte der russische Präsident Dmitri Medwedew Ende Dezember kurzfristig das Thema der regulären Staatsrats-Sitzung. Statt über Geburtenförderung und Kinderbetreuung diskutierten die im großen Kreml-Saal versammelten Gouverneure und Minister nun über die Jugend-Krawalle und eine neue Migrationspolitik.
Dazu muss man wissen: Der Großteil der Moslems lebt schon seit Jahrhunderten in Russland. Von 142 Millionen Einwohnern in Russland sind 16 Millionen Moslems. Die moslemischen Tataren und Baschkiren, die an der Wolga leben, gehören schon seit 400 Jahren zum russischen Imperium, die Tschetschenen und Dagestaner im Nordkaukasus seit 150 Jahren. Als die Sowjetunion 1991 zerfiel schien es für viele Experten im Westen vorstellbar, dass Russland noch weiter zerfällt. Doch mit dem Tschetschenienkrieg setzte der Kreml das Signal, den Zerfall aufzuhalten.
Auf der Staatsratssitzung im Kreml bemängelte Präsident Medwedew nun, dass die Verwalter in den Regionen zu wenig für eine Politik der Verständigung zwischen den Ethnien tun. Man könne sich dabei ruhig die Nationalitätenpolitik der USA zum Vorbild nehmen. Regierungschef Putin dagegen lobte die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion, die angeblich Spannungen verhindert habe. Nach dem Ende der Sowjetunion solle man sich „nicht schämen“ den „russischen Patriotismus“ zur neuen Staats-Ideologie zu machen, so der Premier.
Putin forderte auch die Verschärfung der Meldebestimmungen. Doch der neue Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin schlug im Gegenteil vor, alle Migranten zu legalisieren. Nur so könne man überhaupt feststellen, wie viele Gastarbeiter in Russland leben. Zurzeit seien in Moskau 250.000 Arbeitsmigranten registriert. In Wirklichkeit seien es aber „einige Millionen“, so der Bürgermeister.
Dazu muss man wissen: Bürger aus den Staaten die früher zur Sowjetunion gehörten, können heute ohne Visa nach Russland einreisen. Ausgenommen sind von der Visafreiheit nur die Bürger Georgiens und der baltischen Staaten. In den vergangenen Jahren konnten Gastarbeiter in Russland die nötigen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen bei obskuren Vermittler-Firmen und korrupten Polizisten gegen ein Schmiergeld erwerben. Doch Putins Forderung, die zum Teil schon liberalisierten Meldebestimmungen für Gastarbeiter wieder zu verschärfen, scheint bei dem hohen Grad an Korruption in Russland kaum praktikabel. Eine Verschärfung der Meldebestimmungen sei faktisch kaum durchsetzbar, meinen Experten. Doch die Zeit rennt. Wenn der Kreml nicht schafft, eine allseits akzeptierte Migrationspolitik zu entwickeln, drohen in Russland neue ausländerfeindliche Krawalle.
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