„Die Ausgrenzung Russlands ist Europas historischer Fehler.“GEOPOLITIK

„Die Ausgrenzung Russlands ist Europas historischer Fehler.“

„Die Ausgrenzung Russlands ist Europas historischer Fehler.“

Die außenpolitischen Eliten Europas sind überwiegend amerikahörig. Deshalb haben sie 2003 die Chance nicht genutzt, die sich im Vorfeld des amerikanischen Irakkriegs geboten hatte, mit Russland zusammen das große Europa zu schaffen. Die kommende Politikerriege in England, Deutschland und Frankreich schließt sich noch enger an die USA an. So die Analyse des Russlandexperten Alexander Rahr nach der Münchner Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Es sei gut, dass Putin im Käfig der Löwen Klartext gesprochen habe. Aber nun müsse Russland ein attraktives Gegenmodell und eine neue Kommunikationsstrategie für Europa entwickeln, um eine Wende herbeizuführen.

Von Hans Wagner

  Zur Person: Alexander Rahr
  Alexander Rahr ist Programmdirektor der Körber-Arbeitsstelle Rußland/GUS und Koordinator des EU-Rußland-Forums (in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission).

Im Jahr 2000 veröffentlichte er unter dem Titel „Wladimir Putin. Der Deutsche im Kreml“ eine Biographie des russischen Präsidenten. 
Eine Zugbegleiterin überprüft eines der Luxusabteils – im „Grand Express“ muß alles stimmen.  
Alexander Rahr  
Eurasisches Magazin: Wie steht Russland heute zu Europa? Schließt die immer wieder konstatierte allgemeine Entfremdung gegenüber dem Westen auch die Europäische Union ein?

Alexander Rahr: Die Russen hatten anfänglich große Hoffnungen auf die Europäische Union gesetzt. Sie haben aber ein anderes Europabild. Sie wollen in ein Europa zurückkehren, das nicht nur ein EU-Europa ist. Die Russen sind irritiert, weil die Europäische Union auf einem neuen Wertekanon besteht, der mit den russischen Traditionen nicht kompatibel ist.

EM: Wovon sind die Russen irritiert? Gilt das auch für die Eliten?

Rahr: Die Bevölkerung fühlt diese Entfremdung eher emotional. Die intellektuellen Vorgaben kommen von der Elite. Die Entfremdung zwischen der EU und Russland wegen eines künftigen Europas ist heute in allen Schichten sehr groß. Die ständigen Vorwürfe aus dem Westen in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie, Herrschaftsstil, Staatskonzerne werden im Prinzip gar nicht verstanden.

„Während man glaubte, der Russe habe sich schon aus der Geschichte hinauskatapultiert, ist er plötzlich wieder da.“

EM: Die Russen fühlen sich falsch behandelt. Andererseits ist Russland in europäischen Strukturen überhaupt nicht vorgesehen. Nicht einmal russisches Kapital ist hier willkommen, weder bei EADS, noch in der Telekommunition, noch in der Atomindustrie? Weshalb eigentlich? Warum diese Ausgrenzung?

Rahr: Dafür gibt es mehrere Gründe. Es besteht weder in Russland, noch in Europa eine schlüssige Strategie für die Aufnahme Russlands in solche Strukturen. Auf wirtschaftlicher Ebene drängt sich der Eindruck auf, dass eine mögliche Konkurrenz durch große russische Unternehmen ferngehalten werden soll. Es gibt den Neidfaktor, weil Russen durch Erlöse im Öl- und Gasgeschäft plötzlich über viel Geld verfügen. Während sie noch vor wenigen Jahren in Turnschuhen daherkamen, fliegen sie jetzt mit dem Hubschrauber in den Urlaubsgebieten ein, bauen protzige Villen an den nobelsten Orten, gehen mit ihren Yachten vor Anker und benehmen sich ziemlich rüpelhaft. Während man also glaubte, der Russe habe sich schon aus der Geschichte hinauskatapultiert, ist er plötzlich wieder da, auch mit Mafia-Methoden, mit neuer Macht, mit viel Geld und mit einer riesigen Portion Arroganz. Darauf war der Westen nicht vorbereitet. Es ging viel zu schnell. Um das alles ins Positive zu wenden, bräuchte Russland eine viel bessere Kommunikationsstrategie.

„Vor dem Deutschen Bundestag hat Putin im Jahr 2001 seine historisch bedeutsamste Rede gehalten.“

EM: Vor fünfeinhalb Jahren, am 25. September 2001, hatte der russische Präsident Wladimir Putin als erstes russisches Staatsoberhaupt vor dem Deutschen Bundestag gesprochen. In fließendem Deutsch und unter großem Beifall des Parlaments erklärte er damals, Europa könne seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen-, territorialen- und Natur-Ressourcen, sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigt. Wie viel von dieser Vereinigung ist inzwischen verwirklicht - oder längst wieder obsolet?

Rahr: Aus westlicher Sicht möchte man mit Russland kooperieren, aber das Land gleichzeitig auf Distanz halten, solange es den genannten Wertekanon nicht verinnerlicht und angenommen hat. Die russische Sicht ist anders. Man glaubt oder glaubte zumindest, mit der Europäischen Union eine strategische Allianz eingehen zu können. Russland sieht sich als europäische Großmacht, auf Augenhöhe mit England, Frankreich, Deutschland. Das Modell, das Russland von Europa hat, erinnert an das Konzert der Mächte im 19. Jahrhundert. Die genannte Rede Putins ist die historisch bedeutsamste Rede, die er gehalten hat. Sie fand genau vierzehn Tage nach dem Anschlag vom 11. September auf das World Trade Center statt. In dieser Rede erklärte der Präsident Russlands den Kalten Krieg als für immer beendet – von russischer Seite aus.

„Amerika verfolgt eine Strategie zur Verhinderung des Aufkommens von Rivalen oder gar einer neuen Supermacht.“

EM: Bei der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar 2007 war ein ganz anderer Putin zu hören. Er hat vor allem den Amerikanern gehörig die Leviten gelesen, weil sie in ihrem Anspruch, alleinige Weltmacht zu sein, ihre Grenzen an vielen Stellen längst überschritten hätten. War eine solche Abrechnung mit Washington nicht irgendwann einmal zu erwarten?

Rahr: Das war ebenfalls eine historische Rede, die Putin da gehalten hat. In Reaktion darauf hat ihm der Westen vorgehalten, dass er den Kalten Krieg wieder eröffnet hat. Über die Absicht, die der russische Präsident mit dieser Rede verbunden hat, und über ihre Bedeutung streiten sich die Beobachter. Aber fest steht, dass in den fünfeinhalb Jahren seit Putins Rede vor dem Deutschen Bundestag irgendetwas passiert sein muss, was einige auf den Gedanken gebracht hat, es gäbe wieder einen Kalten Krieg.

EM: Der Vorwurf des russischen Präsidenten lautet, die USA würden unter dem exzessiven Einsatz von Gewalt und der Verletzung internationalen Rechts ihre Rolle als Herrscher in einer unipolaren Welt behaupten. Verfolgt Amerika tatsächlich diese Strategie?

Rahr: Amerika verfolgt eine Strategie zur Verhinderung des Aufkommens von Rivalen oder gar einer neuen Supermacht. Deshalb ist die Außenpolitik der USA auch eine Eindämmungspolitik gegenüber China, Indien und Russland. Da China und Indien ihren Weltmachtstatus still und heimlich anstreben, ohne Rhetorik, ist es schwer, sie auf dieser Ebene zu bekämpfen. Die Russen machen möglicherweise den strategischen Fehler, dass sie ihre Absichten ausposaunen und ernst genommen werden möchten. Ihr neues Großmachtwerden ist von vielen markigen Sprüchen, Muskelspiel und Säbelrasseln begleitet. Natürlich ist es legitim, dass Russland wieder nach alter Größe strebt. Aber die Offenheit, mit der es vorgeht, bietet auch Angriffsflächen, auf die von Seiten der USA eingeschlagen werden kann.

EM: Was will die amerikanische Außenpolitik in Bezug auf Russland?

Rahr: Die USA wollen Russland klein halten. Sie akzeptieren es allenfalls als Juniorpartner. Eine ebenbürtige Partnerschaft mit Russland schließt Amerika aus.

„Wir haben es  mit einem Great Game zu tun, wo amerikanische geostrategische Interessen mit denen Russlands und Chinas in Zentralasien massiv aufeinanderstoßen.“

EM: Also gelten immer noch die strategischen Vorgaben des einstigen amerikanischen Präsidentenberaters Zbiegniw Brzezinski, die dieser in den achtziger und neunziger Jahren formuliert hat und die darin gipfelten, dass Amerika nicht nur die einzige Weltmacht sei, sondern auch die alleinige Kontrolle über den gesamten Kontinent Eurasien ausüben müsse, um Weltmacht zu bleiben?

Rahr: Brzezinski gehört wirklich zu den kalten Kriegern. Aber es ist natürlich interessant, sich diese Denkansätze zu vergegenwärtigen. Wir haben es in der Tat mit einem Great Game zu tun, wo amerikanische geostrategische Interessen mit denen Russlands und Chinas in Zentralasien massiv aufeinanderstoßen. Samuel Huntington hatte Recht, als er vor zehn Jahren eine neue Grenze in Europa prophezeit hat. Wenn man sieht, wie wieder Visa-Barrieren aufgerichtet werden und wenn man erlebt, wie schwierig es wird fast zwei Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg, von Ost nach West zu reisen, dann muss man das erkennen. Die Pessimisten haben Recht behalten, die voraussagten, dass eine neue Mauer in Europa entstehen wird.

„Die Chance, mit Russland zusammen das große Europa zu schaffen, wurde nicht genutzt.“

EM: Wladimir Putin hat erklärt, Washington beschwöre die Präsenz einer russischen Bedrohung herauf, um vom Kongress Finanzmittel für Einsätze in Afghanistan und im Irak zu erhalten und ein Raketenabwehrsystem quer durch Europa zu bauen. Russland sei es zu verdanken, dass die Berliner Mauer nur noch als Souvenir existiere, doch nun wollten die USA  neue Mauern errichten, die unseren Kontinent zerschneiden. Müsste das nicht die Europäer zu massiven Protesten gegen die USA veranlassen, gegen diese Teilung?

Rahr: Die europäischen Eliten sind immer noch geschockt von der Möglichkeit einer drohenden Spaltung Europas und der transatlantischen Gemeinschaft, wie sie 2003 im Vorfeld des Irakkonflikts spürbar geworden ist. Sie standen damals vor der Option, sich entweder völlig an die USA auszuliefern und den Dritten Weltkrieg im Kampf gegen den Terror mitzumachen, oder die Alternative zu suchen und das große Europa zu schaffen mit Russland zusammen. Aber diese Chance wurde nicht genutzt. Darauf war man auch nicht vorbereitet. Schröder, Chirac und Putin haben vieles aus dem Bauch heraus entschieden. Die Gelegenheit ist vorbei und verpufft. Die westeuropäischen Eliten haben sich ganz eindeutig für Amerika entschieden. Die Schrödersche Außenpolitik ist insofern gescheitert.

EM: Also erleben wir jetzt mit Verzögerung doch die Auslieferung an die USA?

Rahr: Heute kommen Politiker wie Frau Merkel in Berlin, wie Nicolas Sarkozy in Paris oder Gordon Brown in England ans Ruder, die für engste Kontakte mit Amerika stehen, für Wertepartnerschaft, Wiederbelebung der transatlantischen Welt und seiner Bindungen. Sie sind bereit, weiterhin gegenüber den USA die Juniorrolle in der Sicherheitspolitik zu spielen. Sie sind keineswegs gegen eine unipolare Welt unter Führung der Amerikaner. Und sie möchten den Wohlfahrtsstaat in Europa durch den Abwehrschirm der USA schützen lassen. Das spart viel Geld. Man lässt sich schützen und braucht nicht selbst Geld auszugeben. Man sieht ja auch, dass die USA wie zum Beispiel im Fall Kosovo jederzeit dazu bereit sind.

„Wird Russland vom europäischen Kontinent verdrängt, wird es mit China zusammen Großeurasien bilden.“

EM: Und was bedeutet diese Politik letztlich für Europa?

Rahr: Jetzt geht es nicht mehr um die Spaltung Europas und Amerikas. Der europäische Kontinent selbst bewegt sich auf eine Zerreißprobe zu, die in ihrer Konsequenz viel verheerender sein könnte. Wir werden es wahrscheinlich mit einer Entwicklung zu tun bekommen, wo der westliche Zipfel Europas, also EU-Europa, mehr und mehr zu einem Ostgebiet Amerikas wird. Russland wird vom europäischen Kontinent verdrängt und deshalb wird es mit China zusammen Großeurasien bilden. Das ist die Orwellsche Vision in dem Roman 1984. Es besteht die große Gefahr, dass der historische Kontinent Europa sich damit aus der Geschichte verabschiedet.

EM: In der Diskussion in München konnten die amerikanischen Teilnehmer nicht schlüssig begründen, gegen welche Bedrohung sich die geplante amerikanische Raketenabwehr in Europa richtet – und die Europäer haben betreten geschwiegen. Welchen Gegner soll der milliardenteure, gigantische Raketenschutzschild am Himmel von Polen und Tschechien denn nun abwehren?

Rahr: Die USA hat diesen Raketenschirm aus drei Gründen geplant. Erstens als Retourkutsche dafür, dass die Russen einen ähnlichen Schirm für Syrien und den Iran aufgebaut haben. Damit versetzen sie diese Länder in die Lage, amerikanische Bomber abzuschießen, falls die USA Strafmaßnahmen gegen die als Schurkenstaaten eingestuften Länder fliegen würden. Zweitens wollen und können es sich die Amerikaner nicht mehr leisten, Panzer und Kriegsschiffe zu stationieren und große Militärbasen in Europa zu unterhalten. Europa ist ja auch von niemandem bedroht. Aber die USA wollen einen Fuß in der Tür haben, über die Nato, über Militärstrukturen, die den Einfluss auf Europa garantieren und noch verstärken sollen. Sie bauen deshalb den neuen Mitgliedsstaaten der Nato, die alles daran setzen, die amerikanische Präsenz in Europa noch zu verstärken, anstatt sie abzuschwächen, diese Raketenabwehr auf. Drittens räumt Amerika durch die Raketenbasen mit Infrastrukturen, Montagehallen und Wartungseinrichtungen den Ländern Polen und Tschechien die Möglichkeit ein, Arbeitsplätze zu schaffen und der US-Rüstungsindustrie durch Waffenstandardisierung neue Märkte zu erschließen.

„Der Raketenschirm in Tschechien und in Polen soll Russland demütigen.“

EM: Warum dann diese harte verbale Frontstellung Russlands gegen diesen Raketenschirm?

Rahr: Dieser Raketenschirm ist selbst schutzlos gegen einen möglichen russischen Angriff. Außerdem würden weder der Iran noch Nordkorea Raketen, falls sie denn entsprechende Systeme hätten, über Europa hinweg nach Nordamerika schießen. Wenn dann würden die Flugbahnen über Russland und den Nordpol verlaufen, wie es im Kalten Krieg von der Sowjetunion auch geplant war. Dieser Raketenschirm in Tschechien und Polen ist symbolisch, politisch. Er soll Russland demütigen, indem seine Errichtung zeigt, dass Moskau nichts dagegen unternehmen kann, obwohl es vor seiner Haustür geschieht. Manchmal demütigen solche Handlungen mehr als handfeste militärische Hiebe.

„Was die Russen vor allem ärgert, ist die Tatsache, dass man sie nicht teilnehmen lässt am Aufbau einer neuen Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur Europas.“

EM: Wie wirkt sich die Nato-Osterweiterung auf das Verhältnis zu Europa aus?

Rahr: Hier hat man einen entscheidenden Denkfehler gemacht. Denn mit dem Vorrücken der Nato, die natürlich auch Europa konsolidieren soll, brüskiert man andererseits Länder wie Russland und China. Man stößt diese Länder vor den Kopf. Russland wurde in den Strukturen der Nato zu wenig berücksichtigt. Der Nato-Rat befähigt die Russen zu keiner Mitsprache. An das Informationsmaterial, das man Russland zur Verfügung stellt, wäre es ohnehin gekommen. Es gibt einfach zu wenig konkrete Zusammenarbeit. Und was die Russen vor allem ärgert, ist die Tatsache, dass man sie nicht teilnehmen lässt am Aufbau einer neuen Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur Europas. Hier verwehrt man ihnen schlicht den Zugang. Das Selbstverständnis der Russen ist, dass sie Europäer sind. Europa wird aber allein auf den Grundlagen der Nato und der EU aufgebaut und in beiden Organisationen sind die Russen nicht Mitglied. Sie haben keine Stimme in Europa. Natürlich fühlen sie sich ausgegrenzt. Faktisch sind sie das ja auch. Diese Ausgrenzung wird von weiten Kreisen der Bevölkerung empfunden, nicht nur von ein paar Angehörigen der Eliten.

EM: Schon gleich nach dem ersten Schrecken über die Putin-Rede suchte man von deutscher Seite die Bedeutung der Äußerungen des russischen Präsidenten herunterzuspielen. Die Absicht, Russland wieder als Weltmacht zu präsentieren, sei im Kontext der russischen Wahlen im nächsten Jahr zu sehen. Der Auftritt solle daher vor allem das russische Volk beeindrucken. War das wirklich nur Wahlkampf?

Rahr: Natürlich hat sich diese Rede auch an die Bevölkerung in Russland gerichtet. Aber es ist noch zu früh, um sagen zu können, was sie auf längere Sicht bewirkt – ob diese Rede auch einen Wendepunkt in der russischen Innenpolitik markiert und den Aufbau von Sergej Iwanow zum Putin-Nachfolger einleitet. Ich glaube, dass das, was Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hat, vor allem Ausdruck seiner Frustration ist über die Situation Russlands in Europa. Er hatte den Europäern vor knapp sechs Jahren in der Berliner Rede alle Türen nach Russland aufgestoßen und steht heute vor einem Scherbenhaufen. Er muss sich sogar fragen, ob er als der russische Präsident in die Geschichte eingehen wird, der Europa verloren hat.

„Dass Russland westliche Werte nicht teilen würde und deshalb nicht Teil Europas werden könne, ist eine naive Luxusdebatte.“

EM: Ist es denn so, dass Russland der Weg nach Europa versperrt wird, weil es nach westlichem Verständnis eben Demokratiedefizite, zu wenig Pressefreiheit und zuviel Staatseigentum gibt?

Rahr: Dass Russland westliche Werte nicht teilen würde und deshalb nicht Teil Europas werden könne, ist eine naive Luxusdebatte. Sie wird von den Europäern aus der falschen Vorstellung heraus geführt, dass sie glauben, Europa ohne den Osten aufbauen zu können, ohne die Türkei, ohne die Ukraine, ohne Russland. Statt unterschiedliche Auffassungen einander anzunähern, was eine große Bereicherung sowohl für den Osten als auch für den Westen wäre, grenzt man aus und schottet ab. Auch wenn Russland einige liberale westliche Überzeugungen so nicht nachvollziehen kann, darf das kein Grund für eine Ausgrenzung sein. Aber hier fehlt es einfach am Willen zum gegenseitigen Verständnis.

EM: Sie sind Putin-Biograph, Herr Rahr – erkennen Sie im Duktus der Rede des russischen Präsidenten den  Originalton Putin oder haben Büchsenspanner im Kreml diesen Text für ihn formuliert?

Rahr: Es war zu beobachten, dass Putin seine Rede völlig umgeschrieben hat. Er kam mit einem Text an, den er fleißig verändert hat, während er mit großer Aufmerksamkeit den Worten seiner Vorrednerin lauschte. Es scheint ihn etwas in der Rede von Frau Merkel ziemlich auf die Palme gebracht zu haben.

„Das Herz von Frau Merkel schlägt für die Vereinigten Staaten von Amerika.“

EM: Hat Putin all die Phrasen von Friede, Freude, Eierkuchen in ihren Worten konterkarieren wollen?

Rahr: Er hat natürlich Töne herausgehört, die kritisch gegen Russland gerichtet waren. Frau Merkel ließ ja keinen Zweifel daran, wo sie steht. Das hat sie schon in den letzten Monaten getan. Ihr Herz schlägt für die Vereinigten Staaten von Amerika. Gegenüber Russland lautet die Formel Partnerschaft ja – aber. Sie hat zum Beispiel den Vorschlag des Präsidenten nicht aufgegriffen, Deutschland zur Drehscheibe für russisches Gas zu machen. Das ist für Putin unbegreiflich, darauf hatte er jahrelang mit Gerhard Schröder zusammen hingearbeitet. Den Russen fehlt für dieses Verhalten jedes Verständnis. Sie vermuten dahinter den Druck der Amerikaner. Vielleicht ist es aber auch die Jugenderfahrung von Frau Merkel, die sie als Opfer der sowjetischen Okkupation in der DDR gemacht hat. Doch nun ist sie Führerin Europas, und die Russen müssen erkennen, dass von einer Kanzlerin Merkel eine äußerst kritische Politik gegenüber Russland zu erwarten ist.

EM: Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier will eine neue Ostpolitik verwirklichen, die unter dem Motto steht: Wandel durch Verflechtung. Gemeint ist eine möglichst enge Verflechtung der Europäischen Union mit Russland, eine neue Energie- Partnerschaft und auf längere Sicht die Einrichtung einer Freihandelszone zwischen EU und Russland, sowie die militärische Zusammenarbeit mit Moskau.  Ist das realistisch?

Rahr: Außenminister Steinmeier steht in der Tradition von Gerhard Schröder undWilly Brandt, deren Außenpolitik sich um einen Ausgleich mit den osteuropäischen Ländern bemüht hat. Er muss auch dagegenhalten, wenn bestimmte Kräfte in der Berliner Regierung erklären, dass eine Transatlantische Wirtschaftsgemeinschaft, genannt TAFTA,  also die Bildung eines europäisch-amerikanischen Binnenmarkts als viel wichtigeres Zukunftsprojekt der EU ausgegeben wird. Denn das ginge ja auf Kosten einer Freihandelszone mit Russland und den neuen unabhängigen Staaten. Schröder hat sich möglicherweise zu sehr und zu schroff von den USA entfernt. Jetzt macht aber Merkel genau dasselbe mit Russland, sie entfernt sich von Moskau und orientiert sich viel zu stark in Richtung Amerika. Steinmeiers Rolle ist es jetzt, auch als Vertreter seiner Partei, das außenpolitische Erbe sozialdemokratischer Kanzler zu wahren. Wir haben uns 15 Jahre lang, von 1990 bis 2005 mit dem ehemaligen Erbfeind Sowjetunion ausgesöhnt und dafür viel politischen Mut, Kraft und Geld aufgebracht. Es ist viel Vertrauen aufgebaut worden. Deutschland wird in allen Umfragen in Russland als das Lieblingsvolk bezeichnet und das nach dem furchtbaren Zweiten Weltkrieg. Auch Merkels Vorgänger als Kanzler der Union, Helmut Kohl, hat daran seinen gewichtigen Anteil. Wenn sich nun Merkel davon emanzipieren will und auch atmosphärisch davon entfernt, dann muss der Koalitionspartner für diese Politik einstehen und dafür kämpfen.

„Russland ist durch die neuen EU-Mitglieder zu einem Zankapfel in der Europäischen Union geworden.“

EM: Ist diese Abwendung von Russland ein Problem der Berliner Regierung allein?

Rahr: Nein, Russland ist auch zu einem Zankapfel innerhalb der Europäischen Union geworden. Die alten Westmächte haben sich mit Russland zwar ausgesöhnt. Aber jetzt kommen die neuen EU-Mitglieder und verlangen gegenüber Moskau eine schärfere Gangart. Das schadet Europa und bringt es überhaupt nicht voran. Die Kanzlerin ist zwar gezwungen, die Polen und andere einzubinden, aber sie wird irgendwann verstehen müssen, dass diese Länder ebenfalls eine Versöhnungspolitik mit Russland brauchen. Dazu sollte sie auch sehr deutlich anstoßen. Ansonsten wird sich die Spaltung der Europäischen Union in Bezug auf Russland noch vertiefen. Und das darf nicht geschehen.

EM: Sie haben Ihrer Putin-Biographie den Titel „Der Deutsche im Kreml“ gegeben. Ist es nicht tragisch, dass gerade ein solcher Politiker in Deutschland und in Europa soviel Ablehnung erfährt?

Rahr: Das ist natürlich sehr bedauerlich, weil Putin und vor ihm auch schon Jelzin sehr auf Deutschland gesetzt haben als den eigentlichen Anwalt Russlands im Westen.

„Fast 70 Prozent Zustimmung für Putin in Deutschland: die außenpolitischen Eliten müssen schockiert gewesen sein.“

EM: Die deutsche Bevölkerung steht im Gegensatz dazu mehrheitlich auf Putins Seite. Mehr als zwei Drittel der Bundesbürger unterstützen laut einer Emnid-Umfrage die Kritik des russischen Präsidenten Wladimir Putin an den USA. 68 Prozent der Deutschen sind der Meinung, Putin habe Recht, wenn er den USA ein einseitiges Streben nach Weltherrschaft unterstelle. Haben die Wähler mehr Gespür für die Realität als die Politiker?

Rahr: Diejenigen Vertreter unserer außenpolitischen Eliten in Deutschland und Europa, die nach der Rede von einem neuen Kalten Krieg gesprochen haben, müssen schockiert gewesen sein von diesem Ergebnis. Fast 70 Prozent Zustimmung zu Putins Rede, damit hatte wohl niemand von ihnen gerechnet. Das hat dann immerhin den Außenminister Steinmeier auf den Plan gerufen, der seither in verschiedenen Interviews die Rede Putins gutheißt.

EM: Hat der russische Präsident sich bewusst an das deutsche Volk, an die europäische Öffentlichkeit gewandt mit seinen Ausführungen?

Rahr: Ich glaube schon, dass er sich dessen bewusst war, dass er in München die Aufmerksamkeit der gesamten Öffentlichkeit findet und dass es eine gute Gelegenheit sein würde, die Gesellschaft direkt anzusprechen. Das hat er übrigens mit seiner Rede im Bundestag auch getan, in dem er, wie einst de Gaulle, wieder ein gemeinsames Haus Europa entworfen hat. Putin hat ausgesprochen, was sicher auch andere denken, denen man aber kein Gehör schenkt. Einen russischen Staatschef muss man sich anhören, egal was er sagt. Und ich glaube, dass Putin dies auch als seine historische Mission betrachtet.

„Russland bedarf eines Gegenmodells, das attraktiv genug ist, um andere Staaten zur Kooperation zu bewegen.“

EM: Ganz nüchtern betrachtet ist das nachkommunistische Russland heute umzingelt, nicht selten auch von Feinden, die es früher zu seinen Freunden zählte: von ehemaligen Satelliten wie Polen, Tschechien und den baltischen Ländern, aber auch von abgefallenen Reichsteilen wie der Ukraine und Georgien, das von den USA aufgerüstet wird. Jetzt gesellt sich auch noch Weißrussland zu den Gegnern. Und an der Westgrenze steht die Nato. Wo sind die natürlichen Verbündeten Russlands?

Rahr: Als Feinde würde ich die Nachbarn Russlands nicht bezeichnen, auch Polen ist sicher kein Feind Russlands. Auch die islamische Welt ist kein Feind Russlands. China auch nicht. Aber umzingelt ist Russland in der Tat, und keineswegs von Freunden. Wir haben es nicht mehr mit einem Kalten Krieg, wohl aber mit einem kalten Frieden zu tun. Aber da muss Russland durch. Es war ein Imperium und muss sich jetzt als eine normale Großmacht entwickeln. Russland wird nicht in der Lage sein, auch wenn es das möchte, andere Staaten wieder heim ins Reich zu holen. Auch Weißrussland nicht. Moskau muss seine Beziehungen zu diesen Ländern umstellen. Je schneller Russland für seine Nachbarn wirtschaftlich attraktiv wird, um so eher wird es ihm gelingen, auch politisch interessante Modelle vorzuschlagen. Es reicht natürlich nicht, nur Amerika anzuprangern und sein unipolares Weltmachtstreben. Es bedarf eines Gegenmodells, das attraktiv genug ist, um andere Staaten zur Kooperation zu bewegen.

EM: Wie könnten solche Kooperationen aussehen?

Rahr: Demokratisch, gleichberechtigt. Zum Beispiel die Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit. Ihr gehören bekanntlich China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Tatschikistan an. Das wäre denkbar. Ein anderes Beispiel ist die während der G8-Präsidentschaft Russlands im vergangenen Jahr von Putin vorgeschlagene soziale Energiecharta. Sie wurde vom Westen schlicht ignoriert. Man glaubt einfach nicht, dass Moskau interessante Ideen in die Welt setzt. Da müssen sich die Russen noch gewaltig anstrengen, um Gehör zu finden für alternative Vorschläge zu künftigen politischen Strukturen, dem andere Staaten folgen könnten. Das Modell Deutschland, seine Aussöhnung und Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarn ist für Russland nur bedingt geeignet. Wohin sollte sich Russland mit seiner gigantischen Landmasse integrieren? So wie es Deutschland nach dem Krieg gemacht hat, ist es für Russland unmöglich. Es muss einen anderen Weg finden. Russland kann allenfalls psychologisch von Deutschland abschauen, wie es gelernt hat, mit seinen ehemaligen Feinden umzugehen.

„Die Europäer haben keine eigene Geopolitik. Ihnen wurden das geopolitische Denken und der Begriff von Geopolitik überhaupt aus den Köpfen ausgetrieben.“

EM: Sehen Sie denn eine Möglichkeit, wie Europa und Russland in einen konstruktiven Dialog eintreten könnten, der sie einander wieder näher bringt?

Rahr: Über konstruktive Zusammenarbeit in globalen Fragen. Die teilweise barschen Reaktionen auf die Münchner Rede Putins und die Stereotypen seiner Kritiker haben aber erneut gezeigt, dass die intellektuellen Eliten in Deutschland und Europa andere Interessen haben. Es war gut, dass Putin sich in München in den Käfig der Löwen begeben hat, denn so ist diese Interessenlage offenkundig geworden.

EM: Woran orientieren sich diese Interessen?

Rahr An der unbedingten Stärkung der Bindungen zu den USA. Manche Experten unterliegen der Schachbrettmentalität von Brzezinski und sehen in Russland einen neuen Feind. Doch in Wirklichkeit haben die Europäer keine eigene Geopolitik. Ihnen wurden das geopolitische Denken und der Begriff von Geopolitik überhaupt aus den Köpfen ausgetrieben. Jeden geopolitischen Ansatz konterkariert man durch die bereits mehrfach erwähnte Wertedebatte. Sie erschlägt alles. Aber nur weil die Europäer keine Geopolitik mehr kennen, ist sie nicht aus der Welt verschwunden. Diese Welt ist auch nicht so, wie sie sich manche Europäer vorstellen, die sich in eine Art Museum von Demokratie zurückgezogen haben und an das Gute glauben. In Amerika und Russland denkt man noch real. Dort sind geopolitische und geostrategische Überlegungen selbstverständlich, und Debatten darüber werden oft in einer erfrischenden Deutlichkeit geführt.

EM: Herr Rahr, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.

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