09.08.2023 13:11:56
TIBET
Von Andreas Gruschke
Entwurf des Dalai Lama zur Abtrennung Tibets von China. |
m Freiburger Kailash-Haus hing während der Unruhen in Tibet ein Transparent mit der Aufschrift: „Tibet den Tibetern!“ In Deutschland gibt es einen vergleichbaren Slogan: „Deutschland den Deutschen“. Er wird von radikalen, rassistisch orientierten Gruppen in der Gesellschaft benutzt. Die vielleicht gut gemeinte Unterstützungsparole für Tibet erscheint unter diesem Gesichtspunkt äußerst fragwürdig.
Aber fragwürdig ist ohnehin vieles, was sich im Zusammenhang mit den Demonstrationen in Tibet hierzulande und weltweit abgespielt hat. Tibet genießt im Westen dank einer beispiellosen Lobbyarbeit vieler Tibet-Initiativen und Tibet Support Groups weltweit den Status einer Art „Heiligen Landes“. Nicht nur, weil das Oberhaupt der tibetischen Exilregierung und bekannteste buddhistische Lehrer der Tibeter seit Jahrhunderten als ein „Religionskönig“ angesehen wird. Auch vieles an den „Riten“ der Tibeter wird im Westen verklärt. Das Mönchswesen, das in den eigenen Ländern als weitgehend überholt gilt, erfährt in Tibet höchste Bewunderung. Tibetische Klöster sind Ziele von Millionen von Touristen, die zwar von Tibet meist keine Ahnung haben, aber überzeugt sind von der Einzigartigkeit dieses Landes, seiner Bewohner und seiner Religion.
Und nun ist Tibet wieder einmal in den Schlagzeilen. Bilder von gewaltsamen Demonstrationen gingen um die Welt. Fast in jedem Land, durch das die olympische Fackel auf dem Weg zu den Sommerspielen in China getragen wurde, gab es Übergriffe von Exiltibetern. Freiheit, Autonomie, Loslösung von China lauteten die Parolen. Der Dalai Lama wird herumgereicht, lächelt und mahnt: „Keine Gewalt“. Worum es geht haben die wenigsten Berichte enthüllt. Die meisten begenügten sich mit der Verbreitung von Bildern demonstrierender Mönche, gegen die von Seiten der chinesischen Polizei hart durchgegriffen wurde. Es wurde der Eindruck erweckt, als ginge es ausschließlich um die Verwirklichung von Menschenrechten.
Es begann alles am 10. März. An diesem Tag fand im Jahr 1959 ein Aufstand in Tibet statt, in dessen Folge der Dalai Lama nach Indien geflohen war. Dieser Jahrestag ist regelmäßig Anlass für politische Demonstrationen von Tibetern in der Hauptstadt Lhasa und von Exiltibetern weltweit.
Diesjähriger „Aufhänger“ des Ganzen waren die in Beijing im Sommer stattfindenden Olympischen Spiele. Die Exiltibeter wollten sie gezielt nutzen, um vermehrt Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu erregen. Der Tenor ihrer Forderungen ist: Unabhängigkeit, Autonomie oder „Freiheit“ für Tibet, was immer diese Forderungen auch zu bedeuten haben. Man könnte vermuten, dass sie China wenigstens die Spiele verderben wollen, wenn ihr hochgestecktes Freiheitsziel schon nicht erreicht werden kann.
Der Dalai Lama hat erklärt, die Tibeter wollten bei China bleiben. Nicht zuletzt, weil das Land einen derartigen wirtschaftlichen Aufschwung verzeichnet. Aber das hat man auch schon anders vernommen. Die Forderung nach Autonomie aller tibetischen Gebiete, die allenfalls bis vor 1.200 oder 1.300 Jahren unter tibetischen, souveränen Herrschern gestanden hatten, scheint zum Beispiel in der Dalai-Lama-Autobiographie von 1990 auf. In diesem „Buch der Freiheit“ ist eine Karte enthalten, die das heutige China um mehr als zwei Drittel seiner Staatsfläche reduziert.
Niemand im Westen macht sich jedoch die Mühe, sich mit solchen geschichtlichen Details auseinanderzusetzen. Ebenso wenig wie mit dem Umstand, dass es auf dem Boden dieses vom Dalai Lama und der Tibet-Lobby eingeforderten „tibetischen“ Gebietes auf einen Schlag ein Dutzend ethnischer Minderheiten gäbe, die einer Bevormundung durch konservative tibetische Kleriker wohl noch weniger abgewinnen könnten als der Regierung durch die augenblickliche chinesischen Führung.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet erscheint die Autonomie-Forderung der Exiltibeter in den Augen Beijings keineswegs als harmlos, sondern vielmehr als Vorspiel zu einer am Ende doch beabsichtigten Gebietsabtrennung. In der VR China verstoßen solche separatistische Bestrebungen sowie deren Propagierung – dazu gehört beispielsweise das Ausrollen der erst 1947 unter britischem Einfluss geschaffenen Tibetflagge – gegen die Verfassung und sind daher gesetzlich unter Strafe gestellt. Dies mag nach dem Empfinden des Volks auf der Straße ein Verstoß gegen politische Rechte erscheinen, entspricht jedoch dem gültigen menschenrechtsbezogenen Völkerrecht.
Dies aber bedeutet, dass jede Demonstration mit der Forderung nach Unabhängigkeit oder dem Aufzeigen der exiltibetischen Fahne in China einen Straftatbestand darstellt. Wenn Mönche auf dieser Grundlage verhaftet werden, bedeutet dies juristisch in der Tat, dass sie kriminell gehandelt haben – in Deutschland vergleichbar etwa den Folgen für ein Zuwiderhandeln gegen das gesetzliche Verbot der Anwendung von Hitlergruß oder anderer Nazisymbole sowie der Leugnung des Holocaust.
Andreas Gruschke beim Interview in einem tibetischen Nomadenhaushalt. |
Anlass für die Unzufriedenheit der Mönche sind mit Sicherheit die regelmäßig wiederkehrenden politischen Schulungen, in denen von ihnen verlangt wird „dem Dalai Lama abzuschwören“. Leider ist von den Behörden in China nie verstanden worden, dass sie damit von den Mönchen die Quadratur des Kreises verlangen. Während der Dalai Lama von chinesischer Regierungsseite her vor allem politisch interpretiert wird, zählt für die Tibeter im Kern der religiöse Aspekt. Der Dalai Lama gilt ihnen als Manifestation einer göttlichen Wesenheit, und für die Mönche, speziell die des Gelugpa-Ordens, ist er einer ihrer höchsten geistlichen Lehrer. Da diese Vorstellung ein zentraler Teil ihres Glaubens ist, können sie das Geforderte kaum erfüllen, ohne ihren Glauben preiszugeben. Als Ausdruck ihrer politischen Haltung darf dies allerdings nicht automatisch gewertet werden. Die KP mag von ihren politischen Kadern eine atheistische Einstellung einfordern – im Falle der Mönche bedeutete die erzwungene Abkehr vom Dalai Lama in der Tat eine Einschränkung ihrer religiösen Freiheit.
Dass die chinesischen Parteikader dies nicht begreifen, erscheint im Westen als ein Rätsel. Aber dies ist es nur, wenn der kulturelle Kontext Chinas außer Acht gelassen wird. Mögen die politischen Führer Chinas auch nicht religiös sein, so ist ihr Denken doch von einer Jahrtausende alten Vorstellung mitgeprägt, in der auch religiöse Momente mitschwingen. Etwa so wie selbst bei einem deutschen Atheisten noch immer bestimmte christliche Werte im Hintergrund stehen, die er ganz einfach unbewusst verinnerlicht hat.
In der alten chinesischen Volksreligion spielt der Kaiser als politische Zentralgewalt auch in transzendenter Hinsicht eine herausragende Rolle, die ihn mit Macht und Befugnissen selbst über das Jenseits ausstattete. Aus diesem Kontext heraus lässt sich besser nachvollziehen, dass die heutigen Herrscher, die die Kaiser ja zumindest in historischer Perspektive beerbten, sich selbst ähnliche Machtbefugnisse zuschreiben. Diese Erklärung wird gleichwohl nicht dazu angetan sein, die Frustration der tibetischen Mönche und Gläubigen zu zerstreuen. Die Art wie die Regierung versucht, gegen die Opposition anzukämpfen, schafft diese Opposition damit erst recht.
Der immer wiederkehrende Versuch der ideologischen Indoktrination ist gewiss einer der Hauptgründe, der die Mönche im März auf die Straße trieb. Bei ihren Demonstrationen griffen sie zuweilen auch das auf, was im Exil und im Westen vor allem von der Tibet-Lobby gefordert wird: Unabhängigkeit. Und dies obschon der Dalai Lama von dieser Forderung eigentlich schon länger abgerückt ist. Damit schüren sie indes die chinesischen Zweifel auch an der Aufrichtigkeit des Dalai Lama, zumal dieser in seinen Äußerungen im Westen die Unabhängigkeit zwar nicht mehr fordert, sich jedoch immerfort mit Leuten umgibt, die diese vehement anmahnen: wichtige religiöse Vertreter der Exiltibeter, politische Persönlichkeiten und berühmte Leute wie der Schauspieler Richard Gere.
Da der Dalai Lama sich um der Publicity der „Sache Tibets“ willen mit diesen Leuten trifft, wird – und kann – er sich natürlich nicht gleichzeitig von deren offenbaren politischen Forderungen für Tibet distanzieren. Genau dies aber lässt ihn bei der chinesischen Regierung unglaubwürdig erscheinen, da er nur scheinbar einen diplomatischen Weg beschreibt, seine „harten“ Forderungen jedoch weiter stellvertretend durch seine „Unterstützer“ kundtun lässt.
Bei den Demonstrationen der Mönche in Tibet handelte es sich zwar um friedlich begonnene, jedoch um nicht genehmigte Demonstrationen. Einmal davon abgesehen, dass eine Genehmigung wohl kaum erteilt worden wäre: ungenehmigte Demonstrationen würden auch in Deutschland, und nicht nur hier, von der Polizei alsbald aufgelöst.
Dennoch: Die friedlichen Demonstrationen von Mönchen und Einwohnern Lhasas am 10. März konnten, obwohl auch die hoch problematische Forderung nach Unabhängigkeit zur Schau getragen wurde, ohne größere Behinderung vier Tage lang andauern.
Der gleichfalls geäußerte Wunsch nach Rückkehr des Dalai Lama drückte die Unzufriedenheit mit der seit Jahren andauernden behördlichen Gängelung aus. Von den Behörden und der zurückhaltend auftretenden Polizei wurden die Proteste zunächst hingenommen, zähneknirschend womöglich, doch immerhin geduldet.
Vor diesem Hintergrund zeigte die chinesisch-tibetische Polizei in Lhasa zu Beginn unerwartete Zurückhaltung – gewiss mit Blick auf die bevorstehenden Olympischen Spiele, da unangenehme Publicity vermieden werden sollte. Exiltibetische Kreise und ihre Lobby haben dann allerdings das Gerücht verbreitet, die Polizei habe nur abgewartet, bis die Gewalt eskaliere, um dann umso härter zuschlagen zu können. Diese Behauptungen gehören zu den absurdesten, die nach Ende der Unruhen auftauchten. Hier zeigt sich überdeutlich, dass sich China in den Augen der Exiltibeter und des Westens gar nicht richtig verhalten kann: Schreiten die Behörden sofort ein, ist es ein Unrechtsstaat, tun sie es nicht, offensichtlich erst recht.
Am 14. März begannen Ausschreitungen in der mehrheitlich von Tibetern bewohnten Altstadt Lhasas, die sich vor allem gegen Han-Chinesen und Hui-Muslime richteten. Geschäfte und Fahrzeuge wurden geplündert und in Brand gesetzt. Anscheinend ging auch eine Moschee in Flammen auf. Ausländische Augenzeugen konnten keinen unmittelbaren Anlass erkennen, vielmehr schienen wie auf Absprache überwiegend gewaltbereite jugendliche Tibeter in Hooligan-Manier mit dem Randalieren begonnen zu haben.
Manche glauben, dass Gerüchte von Verhaftungen das Ganze ausgelöst hätten. Die sehr widersprüchlichen Informationen machen es schwer, sich ein Bild von den exakten Vorgängen zu machen, doch zahlreiche, auch im Internetportal youtube eingestellte Videos erwecken den Eindruck von Pogromen gegen Angehörige der Han und Hui. Bei den gewalttätigen Zusammenstößen wurden zahlreiche Menschen schwer verletzt und getötet, zumeist chinesische Zivilisten, die teilweise in ihren von der Meute in Brand gesetzten verschlossenen Ladengeschäften im Feuer umkamen. Sogar drei Japanerinnen sind von Tibetern verprügelt worden, weil sie für Han-Chinesinnen gehalten wurden.
Im Verlauf des Tages breiteten sich die gewalttätigen Unruhen auf weite Teile der Stadt aus, schon bald auch auf andere tibetisch besiedelte Regionen. Ausländische Augenzeugen berichteten von Angriffen auf Polizei, Feuerwehr und Rettungssanitäter. Keine Staatsmacht der Welt würde hier tatenlos zusehen, was sogar Amnesty International einräumte. Wie jedes andere Land der Welt in einer solchen Situation auch, schritten chinesische Sicherheitskräfte nun massiv ein. Ein großes Aufgebot bewaffneter Polizei wurde in Lhasa gegen die Randalierer eingesetzt. Tränengas und Schüsse in die Luft sind wahrscheinlich nicht die einzigen Kampfmittel gewesen, doch lassen sich auch hier die Ereignisse nur schwer rekonstruieren, da die Behörden inzwischen Journalisten, Touristen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen anwiesen, Tibet zu verlassen. Der Aufruhr wurde niedergeschlagen, Gewalttäter verhaftet, dabei sicher teilweise auch verletzt, und etliche Todesfälle sind dabei nicht auszuschließen.
Vereinzelte, weiterhin in Lhasa lebende ausländische Augenzeugen (Studenten, Lehrer) stützen jedoch eher die chinesischen Darstellungen, nicht solche der westlichen Medien. Letztere illustrierten ihre Berichte von den Unruhen in Lhasa nämlich häufig mit Fotos und Filmen, die in Wirklichkeit zeigten, wie die Polizei in Nepal und Indien mit Schlagstöcken gegen exiltibetische Demonstranten vorgingen.
Merkwürdigerweise wurde dieses Fehlverhalten unserer Medien, fingiertes Fotomaterial zu veröffentlichen damit gerechtfertigt, dass man durch die Ausweisung der Journalisten leider über keine entsprechenden Aufnahmen aus Lhasa verfügt hätte. Auf die Verwendung von Material der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua „verzichtete“ man, weil dieses propagandistisch sei. Dann lieber gleich Bilder aus anderen Gegenden und von anderen Vorgängen, wenn diese doch so herrlich zum Thema passten. - Pressefreiheit der anderen Art.
Die teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen von Exiltibetern mit nepalesischer und indischer Polizei dagegen wurden kaum kommentiert: Offensichtlich scheint dort Folklore zu sein, was die Tibet-Lobby in China als Menschenrechtsverletzung betrachtet. Immerhin entschuldigten sich inzwischen etliche deutsche und schweizerische Medien für ihre unlauteren Darstellungen. Die Bilder aber haben sich bereits in den Köpfen der Leser festgesetzt.
Größere Unruhen und Demonstrationen fanden fast zeitgleich in rund zwei Dutzend Orten mit tibetischer Bevölkerung statt. Zum Beispiel in Xiahe (Kloster Labrang), Tongren (Bezirk Rebkong), Aba (Bezirk Ngawa). Eine auffällige Gemeinsamkeit dieser Orte ist, dass hier vorwiegend der Gelugpa-Orden präsent ist, der dem Dalai Lama am nächsten steht. So lag zumindest für die chinesischen Behörden nahe, dass das Ganze aus dem Exil organisiert wurde. Als Orte der Gelugpa-Dominanz lenkten diese Unruhezentren die Aufmerksamkeit der Behörden natürlich auf den Dalai Lama und die Exilregierung.
Zur Erinnerung: Im Juni 2007 fand eine Konferenz der „Friends of Tibet“ in Delhi statt, auf der davon die Rede war, dass die Olympischen Spiele in Beijing den Tibetern die einzigartige Chance böten, im Exil wie in Tibet selbst gegen China zu protestieren. Im Januar 2008 schließlich, also nur zwei Monate vor den Unruhen, verkündeten Organisationen mit Sitz in Indien die Errichtung eines „Tibetan People’s Uprising Movement“ und verkündeten, dass der Aufstand am 10. März beginnen würde – was sich dann ja tatsächlich bewahrheitete.
Inzwischen herrscht Enttäuschung und Frustration bei allen Beteiligten: Die Exiltibeter und die westlichen Tibetunterstützer sind frustriert, weil sie trotz aller Bemühungen den Olympia-Boykott nicht erreichen konnten. Bei tibetischen Demonstranten macht sich Frust breit, weil sie keine positiven Veränderungen ihrer teilweise durchaus schwierigen Lage erzwingen können. Beim Dalai Lama macht sich Enttäuschung breit, weil unter den Tibetern die Gewaltbereitschaft immer größer wird. Er ist zwar in aller Munde, seine Popularität wird gerne genutzt, aber seine Worte verhallen oft ungehört. Die chinesischen Behörden verweisen auf den stufenweisen Fortschritt im Land und kreiden den Tibetern an, dass der Widerstand dennoch zunimmt. Viele Chinesen zeigen sich empört darüber, dass sie in der westlichen Öffentlichkeit pauschal als „gehirngewaschen“ eingestuft werden, sobald sie verfälschten Pressedarstellungen in westlichen Medien widersprechen.
Die Folgen für die Tibeter in Tibet werden im Westen am wenigsten hinterfragt. Sie haben sich inzwischen an gewisse Freiheiten im alltäglichen Leben und an ökonomische Verbesserungen gewöhnt. Jetzt herrscht eine angespannte Situation wie lange nicht. Sie wurde zwar durch „einheimische“ Tibeter erzeugt, aber ganz offensichtlich koordiniert und gesteuert aus dem Exil. Die Aktivisten weltweit können sich die Hände reiben: Im ganzen Land herrschen Misstrauen und es sind ethnische Spannungen geschaffen worden, die bislang fast ausschließlich in Städten Zentraltibets offen zu Tage traten und in anderen Teilen höchstens punktuell aufschienen.
War das der Sinn der Unruhen? War es das wert? Was soll eigentlich erreicht werden? Und erträumt sich das wirklich jeder Tibeter? Diesen Fragen muss man nachgehen, wenn man die Ereignisse der vergangenen Wochen seit dem März und deren Folgen beurteilen möchte. Welchen Kurs wird China einschlagen?
Eine differenzierte Beurteilung der Ereignisse ist nahezu unmöglich, weil jede Seite sowieso schon vorher weiß, wie sie von den Ereignissen berichten, und wie sie diese bewerten wird. Es kommt es zu einem „Wettkampf der Deutungen“, einem Wettkampf, der als West-Ost-Auseinandersetzung wichtiger zu werden scheint als die Ereignisse selbst.
Das wirft neue Fragen auf, die nicht allein auf die Unruhen in Tibet zielen dürfen, sondern auch danach trachten müssen zu überprüfen, inwiefern die Anliegen der Exiltibeter, ihrer Lobby und jene der Tibeter in Tibet selbst tatsächlich deckungsgleich sind oder nicht.
Worauf wollten die friedfertigen tibetischen Demonstranten aufmerksam machen? Warum waren friedliche Proteste und Demonstrationen in den meisten Orten Chinas bislang kein Problem, meist nicht einmal für Tibeter in den Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan, und weshalb waren sie insbesondere in Lhasa und Zentraltibet undenkbar? Liegt dies allein an Beijing, oder nicht vielleicht auch an der ultraorthodoxen Lhasa-Regierung, deren tibetische Kader die am längsten in Amt und Würden befindlichen Kader der gesamten Volksrepublik sind? Muss Beijing nicht endlich sein übergroßes, von diesen Kadern zweifellos geschürtes Misstrauen überwinden und vermehrt selbst mit der Bevölkerung dort ins Gespräch kommen, um Frieden zu finden?
Es wäre interessant zu wissen, wie die große Masse der tibetischen Bauern und Nomaden zu den Demonstrationen und zu den hässlichen Ausschreitungen steht. Und vor allen Dingen zu den nun daraus resultierenden Konsequenzen. Denn diese sind bereits zu spüren. Es gibt wieder mehr Überwachung und Indoktrinierungsversuche. Das Misstrauen der Partei und die Ängste der Han und Hui sind neu aufgelebt. Vielerorts im Hochland scheinen die chinesischen Behörden nun fast alle Tibeter unter einem Generalverdacht zu stellen.
Welche Meinungen haben die Tibeter tatsächlich von der chinesischen Politik, und vor allem was würden sie über eine Regierung denken, die aus Mitgliedern einer (durchaus auch nach Meinung vieler Exiltibeter) großteils eher reaktionär eingestuften exiltibetischen Elite bestünde?
Beileibe nicht für alles, was die Tibeter drückt, ist die Regierung im fernen Beijing verantwortlich, auch wenn dieser Eindruck erweckt werden sollte. Die Verflechtungen sind im globalen Zeitalter so eng geworden, dass die Schafzucht in Australien sich auf das Einkommen tibetischer Nomaden ebenso auswirkt wie die Milchpreispolitik der EU auf die Butterpreise in Lhasa.
Der Tourismus leidet ganz sicher. Er war und ist in vielen tibetischen Gebieten zu einer der bedeutendsten Einkommensquellen geworden. Viele Tibeter betreiben Reiseagenturen, Hotels, Restaurants und viele andere damit verbundene Geschäfte. Der Schaden, der durch vorerst wieder ausgesperrte ausländische Touristen entsteht, ist – wenige werden das glauben – noch zu verkraften. Viel schlimmer ist für viele Tibeter, dass die eigentlich ungeliebten Han-Chinesen nun ausbleiben, weil sie aufgrund der Ereignisse Angst haben. Schon seit Jahren haben tibetische Fahrer lieber chinesische als ausländische Gruppen übernommen, weil sie an diesen sehr viel mehr verdienen konnten als mit den Ausländern, die sich auf ihre vermeintlich üppigen Trinkgelder viel einbildeten. Im letzten Jahr war es erstmals einer tibetischen Agentur gelungen, einen der bedeutendsten europäischen Studienveranstalter zum Wechsel weg von einer innerchinesischen Agentur zu bewegen. Und auf einmal werden solche Erfolg versprechenden tibetischen Existenzen wieder gefährdet!
Selbst wenn sie es gewiss nicht einfach haben, gewannen Tibeter in den letzten Jahren doch endlich mehr Einfluss und Chancen im Land. Auf einen Schlag wird durch die aus dem Exil gesteuerten Unruhen alles zunichte gemacht – durch Unruhestifter, die im Exil oder ihrer westlichen Heimat laut schreien und trommeln und sich dann im Bewusstsein der vermeintlich guten Sache zurücklehnen und ihren persönlichen Dingen zuwenden, während die von den Menschen in Tibet mühsam errungenen Fortschritte wieder um Jahre zurück geworfen werden.
Ist dies ein „Kollateralschaden“ oder gar beabsichtigt? Es gibt durchaus Stimmen im Exil, die meinen, die Tibeter in Tibet selbst könnten durch die Verschlimmerung ihrer politischen Situation unter Druck gesetzt werden, damit sie sich gegen China erheben. Dies entspricht einer terroristischen Ideologie, wie wir sie im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre kennen gelernt haben. Bereits vor über einem Jahrzehnt hat der US-amerikanische Anthropologe und Tibetwissenschaftler Melvyn Goldstein vor einer solchen Möglichkeit gewarnt. Können wirklich friedliebende Tibet-Unterstützer so etwas unterstützen wollen? Wohl kaum, doch durch die Leugnung dieser Möglichkeit - weil sie nicht zum Image der Tibeter passt - schaffen wir sie auch nicht aus der Welt.
Dass die Unruhen ein derartiges Ausmaß angenommen haben, liegt auch daran, dass es nicht nur einen einzigen Grund für die Unzufriedenheit der Tibeter gibt. Tatsächlich existiert eine Fülle sozialpolitischer und sozioökonomischer Probleme, die sich, insbesondere unter städtischen tibetischen Jugendlichen, mit Gewalt entladen können. Vergleichbar den von muslimischen Einwandererkindern ausgehenden gewalttätigen Unruhen in Frankreich im Oktober und November 2005.
Mangelnde Chancengleichheit, schlechte Berufschancen, bevorzugte Einstellung von Han-Chinesen in besser bezahlten Berufen zum Nachteil von Tibetern, fehlende gesellschaftliche Integrationsmöglichkeiten in der Stadt, schlechtere Bezahlung, Korruption, Perspektiv- und Arbeitslosigkeit und damit verbunden Resignation, Überdruss, Frustration und selbst Bandenkriminalität sind bekannte Phänomene. Dazu kommt die Unzufriedenheit aufgrund mangelnder Mitsprachemöglichkeiten. Mit wohlmeinenden Ratschlägen, propagandistischen Mitteln oder ideologischen Schulungen ist solchen Problemen natürlich ebenso wenig beizukommen wie mit dem Aufruf, die Menschenrechtslage zu verbessern, Nomaden im Weideland unbehelligt zu lassen oder die Olympische Fackel nicht durch Tibet zu schicken. Die vordergründigen Rezepte der westlichen Öffentlichkeit sind da ähnlich schwammig wie jene der chinesischen „großen Politik“.
Es gibt ohne Frage auch einen ethnisch-religiösen Hintergrund für die Unruhen im Land. Das macht die Lage nicht weniger kompliziert. Zwar waren Han-Chinesen von den Gewaltausbrüchen offensichtlich am stärksten betroffen, doch der unter Tibetern kursierende veritable Hass auf Hui, also Muslime, wird im Westen auf bedenkliche Weise übersehen. Es muss hier nicht spekuliert werden, ob dem die im Shambhala-Mythos des Kalacakra-Tantras heraufbeschworene Endzeitvision zugrunde liegt. Aber sie spricht von einem erbarmungslosen Kampf, in welchem der buddhistische König von Shambhala die angreifenden „Mekka“ ultimativ vernichten soll.
Gewiss ist leider, dass die Abneigung vieler Tibeter gegenüber Muslimen auf Gegenseitigkeit beruht. In Lhasa hat sie in jüngster Zeit bizarre, rassistische Blüten getrieben. Im nordosttibetischen Amdo wurden schon seit einiger Zeit Gerüchte kolportiert, dass muslimische Köche Tibetern Spülwasser ins Essen mischen oder Asche von Verstorbenen hinein streuen würden, um Muslime aus ihnen zu machen. Eine erfahrene deutsche Studienreiseleiterin berichtete, was ihr tibetischer Local Guide an Ungeheuerlichkeiten verbreitete. Dieser aus dem indischen Exil zurückgekehrte Tibeter behauptete allen Ernstes, Muslime würden schwangere Frauen aufschlitzen, um anschließend deren Babys zu verspeisen. Er versicherte, dass er sich in einem Film davon habe überzeugen können. In Lhasa kursiere ein Streifen, welcher genau solche Vorgänge zum Inhalt habe.
So unglaublich dies alles klingt, steht es doch am Ende einer langen Kette von aggressiven Verhaltensänderungen vieler Tibeter den Muslimen gegenüber – wie beispielsweise dem Boykottaufruf: „Esst nicht bei Muslimen!“ Sollte, wie teilweise berichtet, während der vergangenen Unruhen tatsächlich eine Moschee in Brand gesetzt worden sein, steht zu befürchten, dass bei anhaltenden Spannungen Pogrome nur vermieden werden können, wenn sowohl die Regierung Chinas wie westliche Beobachter auch diesen unschönen Teil der tibetischen Alltagsrealität wahrzunehmen und anzuerkennen bereit sind. Den einen fällt dies schwer, weil sie keine Kratzer an der von ihrer Propaganda beschworenen Völkersolidarität und harmonischen Gesellschaft brauchen können, den anderen, weil das seit einem Jahrhundert geschaffene Tibet-Image solche Teilwirklichkeiten nicht vorsieht.
In der scheinbaren Unerschütterlichkeit des oft geradezu irrwitzigen Tibetbildes, das durchaus Züge eines „positiven Rassismus“ aufweist, zeigt sich das Resultat der seit Jahrzehnten erfolgreichsten Propaganda der Welt. Denn um nichts anderes handelt es sich bei der weltweiten Zementierung des mehr von der Tibetlobby als den Exiltibetern selbst kreierten Tibet-Images im klassischen Sinne.
Die Unterstützer-Propaganda der Exiltibeter wurde inzwischen bis in den letzten Winkel der Welt verbreitet, millionenfach wiederholt und abgeschrieben. Im Westen fühlte sich in den letzten Wochen und Monaten jeder kleine Lokalredakteur, mag er auch noch so wenig Begegnungen mit Tibetern und Chinesen gehabt haben, bemüßigt, Kommentare zu schreiben über ein Land, von dem er nicht das Geringste weiß außer den Vorurteilen, die er angesammelt hat.
Siehe auch EM 05-06 „Nomaden ohne Weide“.
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