Die VertriebeneZEITZEUGIN

Die Vertriebene

Die Vertriebene

Eine zufällige Begegnung in der Notaufnahme. Auf einmal sind die Erinnerungen wiedergekommen. „Es hat gut getan, dass Sie zugehört haben“, sagt sie.

Von Juliane Inozemtsev

Hausbesuch. Die 88jährige Editha in ihrer Wohnung in Berlin/Hellersdorf mit Autorin Juliane Inozemtsev.  
Hausbesuch. Die 88jährige Editha in ihrer Wohnung in Berlin/Hellersdorf mit Autorin Juliane Inozemtsev.
(Foto Paulus Ponizak)
 

W ie ein ausgedientes Möbelstück stellt der Zivildienstleistende die alte Frau im überfüllten Wartezimmer der Notaufnahme ab. Er drückt die Bremsen an ihrem Bett und geht, ohne noch ein Wort an sie zu richten. In sich zusammengesunken liegt die Frau im Rollbett neben mir. Sie trägt ein kurzärmeliges weißes Krankenhaushemd, die Decke hat sie über die Brust gezogen. Ihr Gesicht ist tief durchfurcht, das graue Haar strähnig, der Blick matt. Ich selbst bin an diesem Nachmittag in die Notaufnahme dieses Berliner Krankenhauses gekommen, weil ich in einem Einkaufszentrum ohnmächtig geworden bin. Mein neun Monate alter Sohn war dabei, und der Rettungssanitäter bestand darauf, uns ins Krankenhaus zu bringen. Die Großeltern haben meinen Sohn abgeholt. Ich sitze auf meiner Liege, schon seit Stunden warte ich auf meine Untersuchung. Die letzten Tropfen einer Infusionslösung laufen in meinen Körper. Eine Krankenschwester kommt, zieht die Kanüle aus meinem Arm.

Die alte Frau im Rollbett neben mir liegt lange regungslos da und starrt die Wand an. Nach einer Stunde wendet sie sich mir zu und sagt mit gedämpfter, aber fester Stimme: „Wären Sie so freundlich, mir ein Glas Wasser zu holen? Ich habe solchen Durst.“ Ich laufe den Flur entlang, bis ich einen Wagen mit einer Wasserkaraffe und Plastikbechern finde. Schwestern oder Pfleger sehe ich nirgends. Die alte Dame setzt sich auf, trinkt achtsam Schluck für Schluck. „Wissen Sie, ich gehöre zu den Vertriebenen aus Ostpommern und habe sehr schwere Zeiten erlebt“, sagt sie nach einer Weile. „Was mir hier passiert, ist fast genauso schlimm.“ Sie sagt, dass sie Editha heißt, dass sie 88 Jahre alt ist und heute plötzlich starke Herzschmerzen bekam. Ihr Mann rief den Rettungswagen und wartet draußen auf sie. Wir sind allein, Wartende in einer Krankenstation, die der Zufall für einen Moment zusammengeführt hat, wir haben Zeit. Ich bitte Editha, mir von ihrer Vertreibung zu erzählen.

Allein und zu Fuß ins Altvatergebirge

Editha kommt aus Arnswalde im damaligen Regierungsbezirk Stettin. Im Februar 1945 rückt die Rote Armee näher. Die Eltern und die neun jüngeren Geschwister sind schon zum Bahnhof vorgegangen. Sie muss erst noch ihr Baby stillen und wickeln und will nachkommen. Editha erinnert sich noch genau an den Tag. Es ist der 4. Februar. Sie ist 23 Jahre alt, ihr Sohn Karl-Heinz ist fünf Monate alt. Auf dem Weg zum Bahnhof erfährt sie von deutschen Soldaten, dass der Bahnhof von Arnswalde zerstört ist. Von ihrer Familie fehlt jede Spur. Editha bleibt nichts anderes übrig, als sich allein und zu Fuß auf den Weg zu machen, zur Schwiegermutter, die im südlich gelegenen Altvatergebirge lebt. Es ist kalt, Editha holt sich Erfrierungen an den Füßen. Die junge Frau ignoriert die Schmerzen, so gut es geht. Im Wagen wimmert das Kind, weil es wund ist. Tagelang kann sie seine Stoffwindeln nicht auswaschen und trocknen, weil alles gefroren ist.

Nach mehr als zwei Wochen kommt Editha völlig erschöpft bei ihrer Schwiegermutter an. Sie erholt sich schnell und auch der kleine Karl-Heinz nimmt gut zu. Von ihrem Mann, der irgendwo an der Front ist, hat Editha seit Monaten nichts mehr gehört. Dann kommt eine Benachrichtigung an, er sei bei Schwedt an der Oder gefallen. Editha hofft auf eine Verwechslung. Am 17. April 1945 schließt sie sich mit ihrem Kind einer Gruppe deutscher Soldaten an, um ihre Familie in Deutschland zu suchen. Wochen später sieht sie zum ersten Mal amerikanische Soldaten in gelb-braunen Uniformen und denkt, dass nun alles gut wird, weil der Krieg doch vorbei ist. Sie weiß nicht, dass es in jenen Tagen den Befehl gibt, aus Sicherheitsgründen niemanden in die amerikanische Zone hineinzulassen, auch keine deutschen Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Editha wird auf einen Lastwagen verladen und zurück nach Osten gefahren.

Editha streicht, seit Minuten schon, ihre Bettdecke glatt. Dann sagt sie: „Es ist mir sehr unangenehm, Sie noch einmal um Hilfe bitten zu müssen, aber ich müsste dringend zur Toilette. Könnten Sie wohl für mich klingeln?“ Ich drücke einen Knopf. Ein Pfleger kommt, sagt: ja ja, gleich, und verschwindet wieder. Die alte Frau presst die Lippen zusammen und wartet, bis sie mit einem Rollstuhl abgeholt und zur Toilette gefahren wird. Als sie wieder in ihrem Bett liegt, schweigt sie und schaut an die Decke. Ich bitte sie, weiter zu erzählen.

Windeln waschen in eisigen Bächen

Nach zwei Tagen übergeben die Amerikaner die Flüchtlinge an einer Landstraße sowjetischen Soldaten, sie geben ihnen Wasser und Trockenkartoffeln. Am nächsten Tag werden sie von tschechischen Bewachern übernommen, die sie zu Fuß weiter ostwärts führen. Editha hat große Angst, weil sie nicht weiß, was man mit ihnen vorhat. Sie laufen bei Wind und Wetter, nachts schlafen sie meist unter freiem Himmel. Manchmal dürfen einige aus der Gruppe in die Dörfer hineingehen und um Lebensmittel betteln. Sie frieren erbärmlich in ihren nassen Kleidern, viele bekommen Lungenentzündungen und etliche sterben. Einige Male schlafen sie nachts auf Friedhöfen, zwischen den Gräbern. Die Toten hätten uns auch nichts Schlimmeres mehr antun können, sagt Editha.

Die schmutzigen Windeln von Karl-Heinz wäscht Editha, wenn es geht, in Bächen aus. Sie versucht, ihr Kind weiter zu stillen. Die Muttermilch sieht aus wie Wasser, und sie weiß, sie hält den Jungen nur noch knapp am Leben. Die meisten anderen Mütter können nicht mehr stillen. Ihre Kinder sterben an Entkräftung und werden am Wegrand begraben. Am Ende des langen Weges ist von den ganz kleinen Kindern nur noch ihr Karl-Heinz übrig.

Nur ein Bauer am Fuß des Riesengebirges zeigt Mitleid

Dann kommt der Tag, an dem die tschechischen Bewacher plötzlich abziehen. Sie gehen einfach und lassen die Flüchtlinge stehen. Editha beschließt, abermals nach Westen zu gehen, um einen polnisch-deutschen Grenzübergang zu passieren. Unterwegs bekommt Karl-Heinz plötzlich hohes Fieber. Ungeziefer hat seinen kleinen Körper befallen, Flöhe und Läuse. Editha braucht Hilfe, aber den Tschechen ist es streng verboten, Deutsche aufzunehmen. Bei Hirschberg, am Fuße des tschechischen Riesengebirges, hat ein Bauer Mitleid und erlaubt ihr, den Jungen bei sich im Haus zu baden. Danach geht das Fieber binnen weniger Stunden zurück.

Im Spätsommer 1945 ist Editha endlich auf deutschem Boden. Sie zieht weiter, erst in Richtung Westen über Sachsen und Thüringen, dann südlich nach Nürnberg und von dort nach Garmisch-Partenkirchen. Doch nirgends bekommt die junge Mutter ein Bleiberecht, sie wird immer weiter geschickt. Man darf nicht in einem Ort bleiben, wenn das Auffanglager für Flüchtlinge dort schon voll ist. Editha wandert wieder nach Norden, schläft mal in einer Stadt, mal in einem Dorf. Und immer ist sie Bittstellerin. Dieses Gefühl, anderen zur Last zu fallen, ist demütigend. Es hat sie sehr geprägt.

„Brauchen Sie eine Extraeinladung?“, fragt mich eine Krankenschwester, die plötzlich neben mir steht. Ich schaue auf. „Ihre Untersuchung“, sagt die Schwester. „Ich komme“, sage ich. Die Ärztin misst meinen Blutdruck, hört mich ab, tastet meinen Bauch ab. „Alles in Ordnung“, sagt sie. „Wahrscheinlich haben Sie zu wenig getrunken und auch wenig geschlafen, Sie haben doch ein Baby?“ – „Ja“, sage ich. „Na dann passen Sie gut auf sich auf“, sagt die Ärztin.

„Wir Alten waren auch einmal jung“

Als ich zurück ins Wartezimmer der Notaufnahme komme, ist Editha nicht mehr da. Draußen steht ein alter Mann. Ich frage ihn, ob seine Frau Editha heißt. Er nickt mit dem Kopf. Ich bitte ihn, ihre Telefonnummer und Adresse aufzuschreiben. Er wundert sich nicht über meine Bitte. Er wartet hier seit Stunden, er sieht müde aus.

Einige Wochen später besuche ich Editha in ihrer Plattenbauwohnung in Berlin-Hellersdorf. Es geht ihr ein wenig besser als bei unserer ersten Begegnung, sagt sie. Und dann, beim Tee, erzählt sie mir ihre Geschichte weiter. Sie ist nicht mehr lang: Ab 1949 beginnt Edithas Leben leichter zu werden. Sie geht mit ihrem Sohn nach Ostberlin, studiert Pädagogik und unterrichtet danach viele Jahre Deutsch, Englisch und Russisch. Mit ihren Schülern spricht sie nie über ihre Erlebnisse, mit ihrer Familie nur wenig. „Ich wollte keine alten Wunden aufreißen“, sagt sie.

An jenem Tag in der Notaufnahme sind die Erinnerungen auf einmal wiedergekommen. „Wir Alten waren auch einmal jung“, sagt Editha, „und viele von uns hatten ein sehr schweres Leben. Wenn man uns jetzt behandelt, als seien wir völlig wertlos, dann tut das einfach weh.“ Editha atmet tief durch. Dann lächelt sie. „Es hat gut getan, dass Sie zugehört haben“, sagt sie.

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