13.01.2023 14:10:35
CHINA
Von Sören Urbansky
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Daowai - die heruntergekommene Altstadt von Harbin |
as Schwimmen ist für Zhang Maer ein Morgenritual. Solange die Temperaturen es zulassen, radelt der Rentner aus Harbin im Nordosten Chinas morgens um halb sechs an das Ufer des Songhuajiang-Flusses, hängt Hose und Hemd an sein schwarzes, schweres Fahrrad und springt ins kalte Naß. Auf der Promenade, die seit einem halben Jahrhundert Stalinpark heißt, herrscht um diese Zeit längst Hochbetrieb. Bis zur Ufertreppe dröhnen die Trommeln einer Seniorengruppe, die sich im Formationstanz übt. Am Parkeingang verkauft ein hagerer Mann Reisbällchen und Süßkartoffeln, die in einer Blechtonne auf Kohlen dampfen.
Nur zwei Straßenblöcke weiter wälzt sich die Blechlawine aus übervollen Stadtbussen, bordeauxroten Jetta-Taxen und allerlei abenteuerlichen dreirädrigen Gefährten über das Spinnennetz von Hochstraßen, das seit den frühen neunziger Jahren das Bild der Zehn-Millionen-Stadt Harbin prägt. Es stinkt nach Zweitakterbenzin, die Chauffeure der schwarzen Karossen hupen und drängeln. Die Bonzen im Fond schützen sich durch abgetönte Scheiben vor der Wirklichkeit. Das Gros der Einwohner klemmt hingegen im Bus oder hockt auf Ladeflächen, den Abgasen der Autos ausgeliefert.
Eine Etage tiefer gondelt Wang Jianan mit seinem Dreirad durch die Stelzen einer Hochstraße und klopft mit einem Holzstock auf einen Plastikkanister, der am Lenker seines Gefährts baumelt. Alle paar Sekunden hallt sein Trommeln durch die Höfe, seit vier Jahren schon. „Plastikflaschen!“, ruft der vierzigjährige Wang und stemmt sich in die Pedale, um einen Buckel zu nehmen. Herr Wang sammelt Kunststoffmüll und Styropor, abends bringt er es drei, vier Meter hoch gestapelt auf seinem Lastenrad zur Sammelstelle. Ein paar Yuan verdient der ehemalige Arbeiter damit am Tag. Der Wertstoffkreislauf der Volksrepublik reguliert sich durch die Armut seiner Bewohner.
Früher mußte Wang nicht so schwer rackern. Die Arbeit auf den Ölfeldern von Daqing, eineinhalb Zugstunden von Harbin entfernt, war hart, aber einträglicher und sicher. Das Fördergebiet der größten Ölvorkommen Chinas galt noch vor fünfzehn Jahren als ein wirtschaftliches Vorzeigeprojekt der kommunistischen Landesführung. Jetzt, da die Quellen versiegen und die Fördermengen abfallen, kämpft die Millionenstadt mit hoher Arbeitslosigkeit, die weit über den offiziellen Statistiken liegt. Herr Wang lebt nun in der Provinzhauptstadt Harbin, wo es mehr Arbeit gibt.
Jedermann auf den Straßen und in den Gassen handelt, repariert oder produziert irgend etwas: Auf Schritt und Tritt tummeln sich Schneider, Fahrradmechaniker, Friseure, Flickschuster, Obstverkäufer und bieten ihre Dienstleistungen für ein paar Yuan feil. Es ist die Lebenskunst der Menschen, die Harbin zur typisch chinesischen Stadt werden läßt. In den letzten noch nicht planierten, engen, rußgeschwärzten Gassen von Daowai, der Altstadt, ist dieser Eindruck besonders intensiv. Daowai erinnert mancherorts noch an die Architektur der Arbeiterviertel von Manchester oder Lodz, nur hier haben Fahrradrikschas noch eine Fahrgenehmigung und konkurrieren mit den knatternden Mopeds.
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Daowai erinnert mancherorts an frühere Arbeiterviertel in Europa |
Li Fangbin haßt Daowai, dieses zurückgebliebene Viertel hinter der Eisenbahnlinie. Sie ekelt sich vor dem modrigen Geruch der Straßen, auch vor einigen Menschen, sagt sie und prüft ihr Make-up im Spiegel. Die bildhübsche junge Frau hätte eigentlich gerade eine BWL-Vorlesung. Doch vor einer Stunde rief Jiajia von der Modelagentur an. Jetzt läuft sie mit sechzehn anderen jungen Mannequins über den Laufsteg im vierten Stock eines Jugendstilbaus an der Uferpromenade. Das Holz knarrt im Takt ihrer Schritte.
Manager Jiajia ist eigentlich ein ruhiger Mann. Seine Baskenmütze setzt er immer verkehrt herum auf, darüber die Sonnenbrille. Doch heute ist er aufgeregt, der Auftraggeber der Schau am Abend verlangt internationale Gesichter, nur dann gibt es auch mehr Geld. Die hochgewachsene Fangbin soll die wenigen weißen und schwarzen Jungs an ihrer Uni fragen, Aussehen und Modelerfahrung seien heute zweitrangig, meint Jiajia.
Nördlich des Songhuajiang-Flusses gibt es eine andere skurrile Attraktion. Seit vor zwei Jahren ein aus dem Gehege ausgerissener sibirischer Tiger, der unter dem Namen „Nummer 83“ bekannt wurde, einen Tierpfleger zerfleischte, ist der Sibirische-Tiger-Wildpark im Songbeixin-Viertel zum Touristenmagnet geworden. Der 47jährige Pfleger starb und der Umsatz vervielfachte sich prompt, sogar aus dem Ausland registriert man seitdem vermehrt Besucher.
Familie Zhou (Name geändert) will sich an der Fütterung der Tiger beteiligen. Ein lebendes Rind kostet 500 Yuan (45 Euro), das Zehnfache eines Hasen. Für die besser und noch besser Verdienenden ein bezahlbarer Jux. Der kleine Huanpeng hat von seinem Vater eine kräftige Kuh zum zehnten Geburtstag geschenkt bekommen. Die will er dem Tiger jetzt zum Fraß vorwerfen. Videokamera und Fotoapparat halten das Spektakel fest – bis zum letzten Happen.
Daqian, der Vater des Jungen, arbeitet seit einigen Jahren in der Stadtverwaltung, was in China nicht selten der Lizenz zum Gelddrucken gleichkommt. Gerade in Harbin haben Korruption und Seilschaften eine lange Tradition. Der „BMW-Fall“ im Oktober 2003 ist nur die Spitze des Eisbergs. Damals hatte ein Bauernkarren auf dem Weg zum Markt den silbergrauen BMW einer wohlhabenden Harbinerin leicht gestreift. Der herüberhängende Porree hatte einige Dreckspuren an der Nobelkarosse hinterlassen. Daraufhin raste die Fahrerin wutentbrannt in die schaulustige Menschenmenge, zwölf Menschen wurden verletzt, eine Bäuerin wurde von der schweren Limousine an einem Baum zerquetscht..
Die Amokfahrerin kam mit einer sehr milden Strafe davon. In den Diskussionsforen der populären Netzseite Sina.com machten schnell Gerüchte die Runde, daß sie die Verwandte eines hohen KP-Funktionärs sei. Der Sturm der Entrüstung zwang letztlich auch die Zeitungen, über die Affäre zu berichten. Im Januar 2004 ordnete die Partei über den „BMW-Fall“ eine Informationssperre an, Sina.com mußte alle einschlägigen Seiten schließen.
Trotz einer raffinierten Desinformationspolitik weiß die Bevölkerung dennoch, wer die Menschen sind, die in den schönen neuen Hochhäusern wohnen und die großen Wagen fahren: Es sind zumeist Funktionäre der Städte und Landkreise, Leute wie der Vater von Huanpeng.
Bei Quadratmeterpreisen, die sich mittlerweile mit denen von Hamburg messen können, bewohnt Familie Zhou eine halbe Etage im obersten Stockwerk eines Hochhauses mit Blick auf einen Park. Zwei Wohnungen haben sie gekauft, die Zwischenmauern herausgerissen. An einer Wand hat sich das Familienoberhaupt selbst verewigen lassen: Zhou Daqian, Vater und Herr seines Glücks, auf Leinen in Lebensgröße
Das rostige Riesenrad unten im Park dreht sich im Schneckentempo. Es ist dies eine andere Geschwindigkeit, die Langsamkeit der einfachen Menschen, der zweiten Klasse in Chinas eigentlich klassenloser Gesellschaft. Zu ihr gehören Menschen wie der Plastiksammler Wang Jianan oder der Rentner Zhang Maer. Für den es das größte ist, mit seinem Fahrrad zum Fluß zu fahren, um in den Fluten des dreckigen Songhuajiang zu baden. Jeder nutzt die Stadt auf seine Weise.
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Sören Urbansky ist Korrespondent von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.
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