Geschenk der Berge – die nicht enden wollende Sehnsucht nach dem einfachen LebenALPENUBERQUERUNG IM SOMMER 2003

Geschenk der Berge – die nicht enden wollende Sehnsucht nach dem einfachen Leben

Geschenk der Berge – die nicht enden wollende Sehnsucht nach dem einfachen Leben

Auf dem Traumpfad vom Munchner Marienplatz zur italienischen Adriakuste

Von Gudrun Wagner

Ein Erlebnisbericht von Gudrun Wagner

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Für die Überquerung von reißendenGebirgsbächen sollte man schwindelfrei sein. 

EM - Es ist schon Anfang Oktober und trotzdem trage ich noch immer eine Sehnsucht in mir, die bei einem kleinen Abendspaziergang an der Weser ins Unermeßliche wächst. Ich möchte am liebsten einfach immer weiterlaufen, draußen sein, die Welt anschauen.

Angefangen hat alles mit einem beendeten Studium Anfang des Jahres und einem kleinen Büchlein mit dem vielversprechenden Titel „Traumpfad München – Venedig“ von Ludwig Graßler.Und so stehe ich am 28. Juli morgens um halb neun am Marienplatz in München und breche auf in Richtung der adriatischen Sandstrände.

Durch die Wälder der Isarauen

Vom Marienplatz zum Isartor, über die Brücke, am Deutschen Museum vorbei und dann immer entlang der Isar. 32 Kilometer weit bis nach Wolfratshausen. Oberhalb vom Flußbett ziehen die Ortschaften Pullach, Baierbrunn und Schäftlarn vorbei. Der Tag ist grau, die Isar endlos. In Großhesselohe überhole ich einige Wanderer mit großen Rucksäcken, die mich sofort fragen: „Na auch nach Venedig?“ Wir hatten noch nicht mal die Stadtgrenze von München hinter uns und sie redeten schon von der Stadt der Verliebten.

Diese Venedigtouristen und die Aussicht darauf, noch einen Tag in den trostlosen Wäldern der Isarauen zu laufen, bringen mich bereits am nächsten Tag dazu, von der von Graßler beschriebenen Route abzuweichen und mir meinen eigenen Weg durch die hügelige Voralpenlandschaft nach Bad Tölz zu bahnen. In einem der vielen kleinen lieblichen Dörfer möchte mir ein netter, älterer und viel gewanderter Herr tatsächlich weismachen, daß ich hier falsch sei, wenn ich nach Venedig wandern möchte. Von wegen!

Der Sonnenuntergang auf dem Kalvarienberg mit seinem Kreuzweg und der wunderschönen Doppelkirche ist sehr beeindruckend. Während unten das Bad Tölzer Volksfest tobt, herrscht hier oben absolute Ruhe. Ein traumhafter Ausblick auf die Stadt, die Isar und die Berge, auf die mich der nächste Tag führen wird, runden den heutigen Abend gelungen ab.

Über die Münchner Hausberge und dann ins Bierzelt

Der dritte Tag beginnt also wieder an der Isar. Die Sonne brennt. Das Verlangen nach einer Abfrischung im kühlen Wasser wird immer größer. Der Gedanke, dafür mal extra nach Bad Tölz zu kommen, weil ich sonst mein Etappenziel nicht erreichen könnte klingt von Minute zu Minute absurder. Schließlich erliege ich der Verlockung und springe ins eisige Bergwasser. Nach einem ausgiebigen Sonnenbad geht's dann mittags endlich los Richtung Benediktenwand in die sehnsüchtigst erwarteten Berge. Vorbei an Almen und Bächen und einer Gruppe von Steinböcken, auf die mich ein sächsisches Paar mit ihrem Enkelsohn aufmerksam machen. Die Tiere sind sehr zutraulich und anscheinend an Bergwanderer gewöhnt. Nach einer verpaßten Abzweigung komme ich, erst als die Sonne schon sehr tief steht und hinter den Bergketten langsam verschwindet, auf dem Grat unterhalb der Benediktenwand auf 1600 Höhenmeter. Außer mir ist niemand mehr unterwegs. Nur am Gipfelkreuz ist noch die Silhouette eines einsamen Menschen zu erkennen. Sämtliche Bergmassive der Alpen liegen vor mir. Und circa 300 Meter unter mir die Tutzinger Hütte, mein Domizil für heute Nacht.

Die Benediktenwand ist wolkenverhangen, und so spare ich mir den Aufstieg, steige statt dessen ab in die Jachenau und bleibe dort, obwohl ich damit nur eine halbe Etappe geschafft habe. Aber meine Achillessehnen schmerzen bei jedem Schritt, und so gehe ich auch am nächsten Tag nur eine halbe Etappe über die nächste Bergkette nach Vorderriß. Hier treffe ich wieder auf die Isar, die mir ein zweites Mal die heißersehnte Erfrischung schenkt. Aber noch eine andere Erfrischung juckt mich. In der Jachenau wird heute das 100-jährige Jubiläum der hiesigen Musikkapelle gefeiert und „so a Radlermaß im Bierzelt des wär‘s jetzt“. Also fahre ich per Anhalter dorthin zurück, wo ich am Morgen aufgebrochen war. Ich lerne dabei, wie umständlich ein Auto sein kann. Denn anders als zu Fuß, müssen wir einmal um die Bergkette, die zwischen der Jachenau und Vorderriß liegt herumfahren. Was zu Fuß nur sieben Kilometer waren, entpuppt sich mit dem Auto als eine Wegstrecke von 40 Kilometern. Aber es hat sich gelohnt. Ich komme genau rechtzeitig zum Einzug der Blechbläser ins Festzelt. Aufg'spielt und getanzt hat nicht nur die Blaskapelle, sondern auch die Goaßlschnoizer, die Tamboure und der Trachtenverein. Jung und alt sind auf den Beinen, alle – auch die Kleinsten – in Dirndl oder Lederhosen.

Das Karwendelgebirge

Am sechsten Tag nach meinem Start vom Marienplatz überschreite ich ganz unspektakulär zwischen Vorder- und Hinterriß die deutsch-österreichische Grenze. Jetzt geht's hoch hinauf ins Karwendelgebirge. Der sogenannte Kleine Ahornboden überrascht auf 1400 Meter Höhe mit uralten Ahornbäumen mitten in den Bergen. Leider haben Kühe und Bergwanderer diese Idylle nicht für sich allein, denn die „Tiroler-Vital-Route“ für Mountainbiker führt hier vorbei. Und so ist das Karwendelhaus, an dem ich nach einer an sich wunderschönen sonnigen Bergtour ankomme, von den Bergradlern in Beschlag genommen. Hier beherrschen Menschen die Bergwelt vom Schlage der Outdoor-Fun-Survival-Offroad-Heros.

Direkt hinter der Hütte führt der Weg in Richtung Birkkarspitze, also auch in Richtung Venedig, steil und mit Drahtseilen gesichert nach oben. Ich habe ein ziemlich mulmiges Gefühl im Magen, und ziehe mich von all den scheinbar furchtlosen, aber leider auch ehrfurchtlosen Bergsteigern und Mountainbikern zurück.

Einen Vorteil hat der steile Aufstieg wenigstens, denn er läßt ausnahmslos alle Mountainbiker zurück in tieferen Regionen. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und erkämpfe mir Meter für Meter der 1000 zu überwindenden Höhenmeter. Zum Glück bin ich nicht die einzige, die im Berg ist. Auch andere Wanderer mühen sich zweieinhalb Stunden durch das scheinbar unendliche Geröllfeld. Auf 2700 Meter angekommen muß ich mich sofort setzen, da es auf der anderen Seite genauso steil wieder nach unten geht und meine Knie zu schlottern anfangen. Das Karwendel schenkt einem keinen einzigen Höhenmeter, aber mir schenkt es die beflügelnde Bekanntschaft dreier Mitstreiter in puncto Alpenüberquerung. Denn genau auf diesem schmalen Grat unterhalb der Birkkarspitze treffen eine viertel Stunde nach mir drei Ingolstädter ein, und unsere Wege sollten sich erst wieder an der Adria trennen.

Der Blick zurück läßt in weiter Ferne die Benediktenwand erkennen. Von dort bin ich also hergekommen. Vor mir liegen die Gletscher des Zillertals und Hunderte anderer Gipfel. Ich bin froh, die erste Hürde überwunden zu haben, sehe die zweite – den Abstieg – schon vor mir. Ein Apfel, der in die Tiefe stürzt, zeigt uns allen, die hier am Grat des Schlauchkarsattels Brotzeit machen, wie schnell und unaufhaltsam so ein Absturz passieren kann. Zum Kreuz des höchsten Karwendelgipfels hinaufzusteigen überlasse ich den anderen.

Nach einer Woche Wandern allein erlebe ich an diesem Abend zum ersten Mal einen richtig geselligen Hüttenabend. Von nun an sind wir also zu viert unterwegs, von nun an scheint auch fast ausnahmslos die Sonne, von nun an gibt es viele gesellige Runden, die alle punkt zehn Uhr im Matratzenlager enden, da um zehn Uhr Hüttenruhe ist. Das Licht wird abgeschaltet und manches Mal sogar das Wasser.

Zurück in die Fänge der Zivilisation

Der nächste Tag führt uns an die Isarquelle. Und so verabschiede ich mich nun endgültig von dem türkisfarbenen Fluß, der mich seit München begleitet hat. Mit der nächsten Anhöhe überschreiten wir die Wasserscheide zwischen Isar und Inn. Ab jetzt fließt also alles Wasser dem Inn zu. Die erste Brotzeitpause schon nach einer Stunde und der darauf folgende Biergartenbesuch nach weiteren eineinhalb Stunden ließen unsere Füße schwer werden. Mit so einer Tagesplanung kann aus der einfachsten Tour ein allzu langer Marsch werden. Abends erreichen wir völlig erschöpft die erste Innbrücke im 20 Kilometer flußabwärts von Innsbruck gelegene Wattens. Die Zivilisation belohnt uns mit Pizza, Grappa-Espresso und einer Unterkunft über einer Go-Go-Girl- Bar.

Durch die Tuxer Alpen und das Zillertal

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  Ausblick auf den Hinter Tuxer Gletscher

Aber die Zivilisation zeigt uns auch, wie schnell man sich durch sie vom Weg abbringen läßt. Natürlich gibt es Frühstück erst ab halb neun, natürlich sind wir auch viel zu spät ins Bett gekommen. Wir kaufen ein, gehen zur Bank und nehmen dann um halb elf das Hüttentaxi, das uns bis zu einem militärischen Übungsplatz bringt. Hier gibt es eine Federwaage, an der wir unsere Rucksäcke wiegen. An der daneben hängenden Liste sehen wir, daß wir es leicht mit den österreichischen Gebirgsjägern aufnehmen könnten, denn unser Gepäck von 14-18 Kilogramm übertrifft die Anforderungen an die Soldaten. Der im Wanderführer als wunderschön beschriebene Zirbenweg führt leider durch militärisches Sperrgebiet. Zugegeben schön ist er. Aber wirklich entspannend ist dieser Tag nicht, denn über unseren Köpfen fliegen ohrenbetäubende Mörsergranaten. Überall stehen Schilder mit dem deutlichen Vermerk LEBENSGEFAHR! Die Wegmarkierungen sind dagegen klein, und sie weisen in dieselbe Richtung. Niemand weiß genau, wann die Truppenübungen aufhören, selbst die Soldaten nicht, und unser kleiner Steig endet mitten im Gelände. Auch der herumliegende Militärschrott kann unser Gemüt nicht gerade aufhellen. Eine eigenartige Atmosphäre bringt das Geballere inmitten der Bergidylle mit sich. Aber schließlich erreichen wir wohlbehalten die Lizumer Hütte.

Der nächste Tag beginnt früh, denn die Schießübungen sollen laut Hüttenwirt bereits um neun Uhr wieder beginnen, und da wollen wir schon über alle Berge sein. Die an unserem Weg liegende Geierspitze lassen wir uns schon allein wegen des schönen Namens nicht entgehen. Wir marschieren den ganzen Tag durch eine Landschaft, die wegen ihrer Farben und Formen an die schottischen Highlands erinnert. Doch der Blick richtet sich bereits auf den Hintertuxer Gletscher. Reißende Flüsse stürzen in die Tiefe, der überaus heiße Sommer geht auch am ewigen Eis nicht spurlos vorbei.

Unser erster Dreitausender

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Hoch im Gebirge – die Spannagel Hütte
 

Und wieder machen wir eine Tür zu, lassen eine Hütte und eine Landschaft mit ihren ganz speziellen Reizen hinter uns. Seit gestern befinden wir uns in den Zentralalpen. Mit dem Hintertuxer haben wir den ersten der vielen blauen Gletscher des Zillertals erreicht. Der heutige Tag wird ganz von der Gier, den Hohen Riffler zu erklimmen, bestimmt. Für uns alle wäre es der erste Dreitausender. Der Weg führt über die Friesenbergscharte, und bereits diese zwingt mich an ihrem Grat mal wieder in die Knie. Die Kletterei erinnert doch sehr an das Karwendel. Nicht genug für uns. Der Gipfel, der über uns thront, zieht uns in seinen Bann. Er scheint harmlos zu sein. Beim näheren Betrachten sieht er aus wie ein gigantischer Geröllhaufen, den ein überdimensionaler Himmels-Bagger dort abgeladen hat. Nachdem wir die schweren Rucksäcke in der Friesenberghütte zurückgelassen haben, springen wir anfangs fast mühelos von Stein zu Stein. Doch der Berg wird steiler, die Steine wackliger. Das Gefühlschaos zwischen Höhenangst und euphorischem Höhenrausch breitet sich mit jedem erklommenen Stein weiter aus. Der Blick nach unten, der Gedanke an den Abstieg und die Höhenmesseruhr, die bereits über dreitausend Meter anzeigt, haben eine deutliche Botschaft: Geh nicht weiter. Ich kämpfe mit mir selbst mehr als mit dem Berg. Das ungute Gefühl im Bauch siegt. Ich bleibe auf einem der vielen Steine sitzen. Eine viertel Stunde lang gehören mir alle Berge ganz allein. Sie sind erhaben und alles andere dagegen nichtig. Natürlich ringe ich immer noch mit dem Gedanken, den Gipfel zu stürmen. Und dann ist da plötzlich Herbert, weißes Haar, braungebrannt, oben ohne. Er kann es nicht fassen, daß ich von München bis hierher gelaufen bin, um dann kurz vor dem Gipfelkreuz aufzugeben. Ich hadere noch immer, klettere aber bereits von Stein zu Stein weiter, wenn auch auf allen Vieren. Am höchsten Punkt unserer Alpenüberquerung werde ich schließlich mit großem Jubel empfangen.

Der Abstieg geht fast von allein, die Friesenberghütte ist schnell wieder in Sichtweite, und nach einer Stärkung auf der geselligen Sonnenterrasse wandern wir noch zwei Stunden in wunderschöner Abendstimmung zur Olperer Hütte.

Die Dolomiten - Willkommen in Italien

Die Olperer Hütte liegt hoch über dem Schlegeisspeicher-See und ist umgeben von den Dreitausendern Olperer, Großer Möseler, Hochferner und Hochfeiler. Der Abstieg zum eiskalten Wasser wird umrahmt von diesem Anblick. Unten angelangt empfängt uns ein Touristenkiosk, dem wir nicht widerstehen können: Eis, Kaffee, Gebäck, Cola. Und dann stehen wir plötzlich am Grenzstein zwischen Österreich und Südtirol. Willkommen in Italien! Es gibt Rotwein, Minestrone und Spaghetti zum Mittagessen. Der Nachmittag ist heiß, der Duft der Kiefern steigt in meine Nase, die grünen Wiesenhänge laden zum Abwärtskullern ein. In dem beschaulichen, Südtiroler Dörfchen Stein erkennen wir abends mal wieder, was Italien doch ausmacht: Risotto mit Zucchini, gelbe Rüben und Parmesan als primo piatto, eine riesige Salatschüssel, eine gebratene Forelle für jeden und zum Nachtisch Vanillepudding mit Waldbeeren.

Von Stein, das immerhin noch auf 1500 Metern liegt, geht es über die Pfunderer Berge nach Pfunders (1150m). Beim Aufstieg zum Glederschartl (2644m) weht ein eisiger Wind vom Firn des Hochfeilers zu uns herüber. Die Berge können also auch anders. Doch bereits nach zwei Stunden ist wieder alles beim alten: Es ist heiß und die Sonne scheint.

Tag der Überraschungen

Durch das Pfundertal wandern wir weiter nach Niedervintl. Das letzte Stückchen Zivilisation bis Alleghe also auch die letzte Möglichkeit einzukaufen. Doch heute haben wir Pech, es ist Sonntag. Bei 750 Höhenmetern tauchen wir in den Rodenecker Wald (Bosco di Rodengo) ein, und wir werden ihm erst bei 1900 Metern wieder entkommen. Nach ein paar Stunden und einer vorerst letzten Biegung hören wir urplötzlich Gewummere, wie man es sonst nur von Discotheken kennt. Ja richtig, in der Höhe von 1800 Metern wird auf einer großen Waldlichtung an der Roner Hütte ein Bergfest gefeiert mit Liveband, frischen Schlutzkrapfen und Bier. Je später es wird, desto mehr trachtengekleidete Südtiroler kommen. Auch als wir am späten Nachmittag aufbrechen, kommen uns Menschenmassen wie bei einer ganzen Völkerwanderung entgegen. Und noch eine zweite Überraschung wartet heute auf uns. Wir hatten also den ganzen Tag nichts gesehen außer Wald, geschweige denn irgendwelche Berge. Nach einer scharfen Kurve, lassen wir die letzten Bäume hinter uns, und da sind sie ganz plötzlich und unerwartet: Die Dolomiten! Darf ich vorstellen: Allen voran der Peitlerkofel. Ein Anblick, den ich nie vergessen werde und den ich seitdem ich als kleines Mädchen in Südtirol war, immer vor mir gesehen habe. Nichts als grüne Almwiesen und am Horizont die „Majestät“ der Berge. Im Angesicht des Peitlerkofels laufen wir noch eineinhalb Stunden weiter bis zu den Almen der Kreuzwiesenhütte. Für mich eine der schönst gelegenen Hütten der ganzen Tour. Völlig unkonventionell schmeißen hier ein paar Jugendliche den Laden. Wir sitzen noch lange nach Sonnenuntergang am Biertisch vor der Hütte, bevor zu späterer Stunde einer der Jungwirte seine Gitarre auspackt und wir dazu singen.

Aug in Aug mit dem Peitlerkofel

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  Aug in Aug mit dem Peitlerkofel

Seit gestern haben wir ihn im Blick, den Peitlerkofel ist er in unserem Blick,und heute endlich stehen wir vor ihm. Da ich jedoch seit

zwei Wochen ohne Ruhetaggelaufen bin, schwenke ich hinter der Peitlerscharte schweren Herzens nachSüden und gehe direkt zur Franz-Schlüter-Hütte. Es ist eineWohltat, im eigenen Tempo laufen zu können und allein mit der Bergweltzu sein. Zuvor jedoch setze ich mich endlich mal wieder für eine Stundealleine auf einen Felsen in der Sonne, genieße den Ausblick und beobachtemeine Weggenossen dabei wie sie den Gipfel erstürmen.

Eine Wiese voll mit Edelweiß
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Eine der seltesten Gebirgsblumen – Das Edelweiß 

Noch nie in meinem Leben habe ich ein Edelweiß gesehen, doch eine Stundehinter der Franz-Schlüter-Hütte gibt es eine Wiese, die übersätvon den seltenen Bergblumen ist. Gegen späten Nachmittag erreichen wirdie vor allem bei Motorradfahrern beliebte Serpentinenstraße des Grödnerjochs.Vorsicht ist geboten: rechts, links und noch mal rechts schauen! Fast vergesseneGefahren lauern hier.

Wir ernten den Respekt von ein paar älteren Männern, unsere zwei Jungs erhalten den Rat: „Die zwoa Mädels könnts‘a heiraten, wenn die des ois mitmachen.“ Wir lassen das Gebiet des Peitlers und der Geißler Spitzen hinter uns und stehen jetzt vor dem mächtigen Massiv des Sellastocks, dem „Berg der Ladiner“. Ladinisch ist eine alte romanische Sprache, die von etwa einer Million Menschen zwischen dem St.Gotthard und dem Golf von Triest gesprochen wird. Auch im Grödnertal gehört noch heute neben dem Italienischen und dem Deutschen, das Ladinische zum alltäglichen Sprachgebrauch. Schilder sind dreisprachig, der Peitlerkofel zum Beispiel heißt auf Ladinisch „Sas de Pütia“. Als Grußformel begegnet einem jetzt neben den üblichen Formen, wie Griaß Di, Griaß Eich, Servus, Buongiorno, Ciao, Salve und Grüß Gott auch noch Bon dí.

Sonnenuntergang und ein Schlafplatz in 3000 Metern Höhe

Die gigantischen Hochplateaus des Sellamassivs sind einfach Wahnsinn. Riesige ebene Flächen auf fast dreitausend Meter Höhe. Unwillkürlich wird man an den Gran Canyon erinnert. An der Boè-Hütte eingetroffen, haben wir bereits mittags unser Etappenziel erreicht. Endlich mal ein halber Tag Pause. Inmitten des Hüttentrubels nutzen die meisten von uns die Zeit für unzählige Skatrunden, während ich mich in die Felsen hinter der Hütte zurückziehe und das stetige Treiben den Berg empor beobachte. Wie eine Pilgerschar sieht der Wanderstrom aus, der sich angezogen vom mächtigen Gipfel des Piz Boè Kurve um Kurve langsam den Weg hinaufschlängelt – italienische Touristen, die alle mit der Seilbahn bis zum Fuß des letzten Gipfelanstieges hinaufgefahren sind. Die Bikinioberteile und Hot pants der Damen machten klar, um welche Art von Bergsteiger es sich hier handelt. Doch ich habe einen wunderschönen ruhigen Platz, oberhalb einer Schlucht. Bergdohlen nehmen mit vielen kleinen Flügelschlägen Anlauf, bevor sie majestätisch durch die Bergklüfte gleiten. Das Zischen ihrer Federn hallt von den Bergwänden zurück. Immer wieder fallen ein paar Gesteinsbrocken in die Tiefe. Kleinere Steine rieseln als Nachhut hinterher. Kaum spürbare Windböen lassen eine verrostete Wetterfahne quietschen, wie das Windrad am Anfang des Italo-Westerns „Spiel mir das Lied vom Tod“.

Kurz vor acht, und damit eigentlich viel zu spät stürmen wir gemeinsam los auf den Piz Boè. Die Touristenmassen sind mit der letzten Gondel nachmittags um vier längst verschwunden, außer mit einem etwas verrückten Moto-Cross-Fahrer müssen wir den Gipfel und den Sonnenuntergang mit niemandem teilen. Mit Hilfe unserer Taschenlampen kommen wir glücklicherweise alle wieder heil an die Hütte zurück. Es ist eisig kalt, schließlich sind wir auf dreitausend Meter Höhe. Mein Körper reagiert auf die für ihn ungewohnte Umgebung mit gleichzeitigem Schwitzen und Frieren im Schlaf.

Morgens gibt es für alle Kaffee, so wie er nur in Italien schmeckt. Das restliche Frühstück kann man jedoch wie überall in Italien auch in den Bergen nahezu vergessen. Wir ziehen weiter, verlassen die Hochplateaus der Sellagruppe und wandern auf dem altbekannten Bindelweg zur Königin der Dolomiten, der Marmolada. Wieder einmal begeistert uns das Blau des ewigen Eises. Wir erstehen endlich unsere langersehnte erste Pizza und kommen nach langem Gedonnere und Geblitze noch rechtzeitig vor dem Unwetter in der Marmoladahütte an. Den Tanz der riesigen Hagelkörner genießen wir vom Fenster unseres Schlafraumes aus.

Der eiserne Wille einer Bergsteigerin

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Die Marmolada- „Königin der Dolomiten“ imSonnenuntergang
 

Heute überspringen wir eine Etappe und fahren nach mißglücktem Trampversuch mit dem Bus nach Alleghe. Nur eine von uns konnte ihren Berghelm als Motorradhelm „verkaufen“ und wurde von einem netten Deutschen auf seiner großen Maschine mitgenommen. Seit dem Sellamassiv sind wir zu fünft, und heute kommen noch zwei weitere Freunde meiner neuen Freunde dazu. Es ist bereits mittags, alle sind hungrig, alles schreit förmlich nach Pizza. Nachdem sich zwei von uns dann noch mit einem Klettersteig-Set für die letzte Etappe eingedeckt haben, ist es bereits vier Uhr nachmittags, und so fahren wir mit der letzten Gondel dem Civetta-Gebirge ein Stück entgegen. Nach einem gemütlichen Aufstieg von zweieinhalb Stunden stehen wir am Gipfel kurz oberhalb der Tissihütte. Hier bleiben wir, obwohl uns die Hüttenwirtin sagt, wir würden später nichts mehr zu essen bekommen. Es ist uns egal, nur unsere Weinflasche lassen wir nochmals auffüllen. Der Gipfel bricht mit einer Steilwand abrupt ab. Tief unten im Tal liegt der Alleghesee. Die Sonne versinkt über der Marmolada, in weiter Ferne ist der Peitlerkofel noch zuerkennen und hinter uns liegt die Civetta. Zwischen ihren Bergwänden steigen getürmte weiße Wolken auf, als ob es dort geregnet hätte. Der einzige Wermutstropfen: Eine von uns hat sich beim heutigen Aufstieg so stark verletzt, daß es unklar war, ob für sie die Alpenüberquerung hier zu Ende sein wird.

 

Die Etappen im Überblick

Deutschland:

1.Tag: München – Kloster Schäftlarn - Wolfratshausen

2.Tag: Wolfratshausen – Königsdorf – Bad Tölz

3.Tag: Bad Tölz – Rotöhrsattel – Tutzinger Hütte

4.Tag: Tutzinger Hütte – (Benediktenwand) – Jachenau

5.Tag: Jachenau – Lainer Alm – Vorderriß

Österreich:

6.Tag: Vorderriß – Hinterriß – Kleiner Ahornboden – Karwendelhaus

7.Tag: Karwendelhaus – Birkkarspitze – Kastenalm – Hallerangerhaus

8.Tag: Hallerangerhaus – Wattens (bei Innsbruck)

9.Tag: Wattens – Lizumer Hütte

10.Tag: Lizumer Hütte – Geierspitze (2857m) – Tuxer Gletscher –Spannagelhütte

11.Tag: Spannagelhütte – Friesenbergscharte – Hoher Riffler (3228m) – Olperer Hütte

Italien:

12.Tag: Olperer Hütte – Pfitscher Joch – Stein (Südtirol)

13.Tag: Stein – Glieder Schartel – Pfunders

14.Tag: Pfunders – Niedervintl – Ronerhütte – Kreuzwiesenhütte

15.Tag: Kreuzwiesenhütte – Würzjoch – Peitlerkofel (2875m) – Franz-Schlüter-Hütte

16.Tag: Franz-Schlüter-Hütte – Puezhütte – Grödner Joch – Pisciaduhütte

17.Tag: Pisciaduhütte – Piz Boe (3152m) – Boe Hütte

18.Tag: Boe Hütte – Pordoi Joch – Fedaiasee – Marmoladahütte

19.Tag: Marmoladahütte – Alleghe – Tissihütte

20.Tag: Tissihütte – Vazzolerhütte

21.Tag: Vazzolerhütte – Carestiatohütte – Pramparethütte

22.Tag: Pramperethütte – Bianchethütte

23.Tag: Bianchethütte – Belluno – Rosolina Mare

Doch was wäre eine richtige Bergsteigerin ohne einen eisernen Willen, der vielleicht sogar über die Vernunft siegt. Der Hubschrauber wird nicht bestellt, das Gepäck auf alle anderen Rucksäcke verteilt und schon kann es weitergehen, humpelnd auf einem Bein, mit zwei Stöcken. So kommen wir mittags bei der Vazzoler Hütte an. Entscheidungen müssen getroffen werden: Gehen wir alleine weiter, oder machen wir einen halben Tag Pause, damit sich unsere Verletzte etwas kurieren kann. Eine Karaffe Wein wird bestellt, eine Runde Schnaps und schon steht die Entscheidung. Wir bleiben alle hier und laufen dafür morgen eineinhalb Etappen. Wir bestellen noch eine Flasche Wein, noch eine und noch eine...

Mit großem Gelächter und fragwürdig bis besorgten Blicken der anderen Gäste beginnt der nächste Morgen. Wir erinnern uns an die eineinhalb Etappen, die vor uns liegen und schon geht das Gestöhne los. Aber der gestrige Suff scheint auch etwas Gutes für sich gehabt zu haben, denn unsere Patientin ist wieder in der Lage einigermaßen gut auf beiden Füßen aufzutreten. Es kann also weiter gehen.

Unser durchschnittlicher Verbrauch an Wasser liegt bei täglich fünf bis sechs Litern, doch an diesem Tag danach steigt er ins Unermeßliche. Wir erreichen unser Ziel nicht ganz, kommen aber immerhin bis zur Pramperethütte. Was wäre eine Hütte ohne einen Schlafsaal, in dem mindestens zwei bis drei Leute um die Wette schnarchen oder bei dem die dreistöckigen Hochbetten aus Metall so wacklig sind, daß man bereits nach einer überstandenen Nacht darin hochseetauglich ist. Wenn man eines lernt, auf einer Hüttentour, dann ist es unter den widrigsten Umständen zu schlafen.

Die Schiara – glorreicher Abschluß der Alpenüberquerung

Der Rest ist schnell erzählt. Am Morgen steht der Hälfte von uns die schwierigste Tour bevor und damit der glorreiche Abschluß der Alpenüberquerung. Die Klettersteigausrüstung soll nun endlich auf dem Weg durch die Schiara zum Einsatz kommen. Doch ausgerechnet heute fängt es bereits mittags an zu gewittern. Die Einheimischen hatten uns gewarnt. Die Schiara ist umhüllt von Wolken. Erstmals haben wir wirklich schlechtes Wetter und die Berge zeigen sich von ihrer unwirtlichen Seite. Hagelkörner, so groß wie Kirschen und Gewitterfronten aus allen Richtungen. Unsere zwei Kletterer waren bereits losgezogen, kehrten jedoch Gott sei Dank gerade noch rechtzeitig um. Erleichtert und doch enttäuscht sitzen wir zwei Stunden später in der Bianchet-Hütte, können uns bei einem Gläschen Schnaps am Kamin aufwärmen, heiß duschen und gemeinsam unseren letzen Abend in den Alpen verbringen.

Abschied von den Bergen und der Sprung ins Meer

Von der Bianchet-Hütte steigen wir ab bis zur Landstraße und fahren die letzten zehn Kilometer mit dem Bus in die italienische Kleinstadt Belluno. Wir lassen die Berge hinter uns, denn im Süden von Belluno gibt es im Prinzip nur noch hügelige Weinberge. Die Landschaft wird immer flacher, bis sie schließlich im Meer versinkt. Ich kaufe mir als erstes ein frisches T-Shirt, die drei, die ich die letzten drei Wochen getragen habe, kann ich einfach nicht mehr sehen. Nach einem Nachmittag vor dem Supermarkt, bei dem wir alles genießen, was das Herz begehrt, werden wir abends mit dem Auto abgeholt und fahren direkt nach Rosalina Mare. Der Campingplatz hat schon Nachtruhe, aber der Sandstrand steht uns als Schlafplatz, die Adria für ein salziges Bad in den rauschenden Wellen offen.

Den Markusplatz in Venedig haben wir aus Zeitmangel nie erreicht. Und trotzdem: Wir haben es geschafft. Ich habe es geschafft. Ich habe die Alpen von Nord nach Süd überquert und habe etwas bewerkstelligt, an dem schon einige vor mir wetterbedingt, verletzungsbedingt oder einfach wegen mangelnder Kondition bzw. fehlendem Durchhaltevermögen gescheitert sind. Nur - zu Beginn meiner Tour war mir das noch nicht klar. Ich habe die Isar bis zur ihrem Ursprung verfolgt, habe die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gebirgsketten von den Münchner Hausbergen angefangen über das Karwendel und die Zillertaler Alpen bis zu den mächtigen Dolomiten erfahren. Ich habe drei Wochen lang an der frischen Luft verbracht, habe Almwiesen gesehen, deren Blumen nur in den Bergen solch intensive Farben haben. Der süßliche Duft der Bergkiefern, das ständige Grüßen der vielen Wanderer, die Hüttenruhe um zehn, die wenigen heißersehnten Duschen, der tägliche Erfolg. Ich habe die Dreitausendergrenze überschritten, 20.000 Höhenmeter und 400 Kilometer hinter mich gebracht und drei Menschen in mein Herz geschlossen.

Zurück in Bremen kommen mir die letzten vier Wochen vor wie ein großer Traum. Nur gut, daß die vielen Blasen an meinen Füßen und die Fotos Zeugnis von dem Erlebten abgeben, sonst würde ich es wahrscheinlich selbst nicht glauben. Viele Dinge haben sich seit meiner Rückkehr geändert, nur eines ist geblieben: eine fast unerklärliche Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Es ist die Sehnsucht danach mir morgens die Bergstiefel zu schnüren, meine Wasservorräte aufzufüllen, das Nötigste in einem Rucksack zu verstauen, allen unnötigen Ballast zu Hause zu lassen und wieder loszuziehen, soweit die Füße tragen.

***

Seit Anfang der siebziger Jahre faszinierte Ludwig Graßler die Idee, die Alpen zu überqueren. Nach einem fehlgeschlagenen Versuch 1973, schaffte er es 1974 erstmals selbst seine Route von München nach Venedig zu begehen. Seitdem folgten Tausende seinen Spuren.

Falls nun auch Sie nichts mehr zurückhalten kann:

Die nächste Ausgabe des Eurasischen Magazins wird über die unzähligen Weit- und Fernwanderwege innerhalb Deutschlands sowie im übrigen Europa berichten. Von der Wochenendtour bis hin zu einer jahrelangen Wanderschaft, ob über die Berge oder durchs Flachland, ob im Weserbergland oder dem Teutoburger Wald, ob von Flensburg bis zum Bodensee oder in Spanien auf dem berühmten Jakobusweg - Die Möglichkeiten sind nahezu grenzenlos.

Der Bildband „Zu Fuß über die Alpen“ ist nicht nur ein Genuß für die Augen, sondern informiert auch über Landschaft und Kultur der Regionen. Zusätzlich enthält er ein kleines Wanderheft mit Angaben zu den einzelnen Etappen. Die beiden anderen „Traumpfad-Bücher“ sind Wanderführer, die für eine Begehung des Weges sehr hilfreich sind.

•  Ludwig Graßler: Zu Fuß über die Alpen. Der Traumpfad von München nach Venedig, Bruckmann 2002, ISBN 3-7654-3757-3, 39,90 Euro.

•  Ludwig Graßler: Traumpfad München-Venedig , 28 Tagestouren, aus der Reihe Wandern kompakt, Bruckmann 2003, ISBN 3-7654-3994-0, 11,90 Euro.

•  Ralf Lamsbach, Mareike Lamsbach: Wandern von München nachVenedig, 30 Tagesetappen. Dumont 2002, ISBN 3-7701-5815-6, 12,00Euro.

•  Informationen zu Ausrüstung und Literatur, Anforderungenund Routen, sowie ein Forum für München-Venedig-Wanderer findet manunter: http://www.muenchenvenedig.de.

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