Juni 1941: Angriff auf die SowjetunionZWEITER WELTKRIEG

Juni 1941: Angriff auf die Sowjetunion

Juni 1941: Angriff auf die Sowjetunion

Vor 70 Jahren, im Morgengrauen des 22. Juni 1941griffen mehr als 120 deutsche Divisionen die Sowjetunion an. Auf einer Front von 2130 Kilometern Länge, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, rückte die deutsche Wehrmacht vor. Sie nannte ihren Überfall „Unternehmen Barbarossa“. Vom 8. auf den 9.Mai 1945, nachdem Millionen von Soldaten und Zivilisten elend umgekommen waren, endete die europäische Tragödie mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. – Versuch einer Analyse zur Rolle Hitlers und Stalins, 70 Jahre danach.

Von Leonid Luks

Leonid Luks
Zur Person: Leonid Luks

Prof. Dr. Leonid Luks wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte Slavische Philologie, Osteuropäische und Neuere Geschichte in Jerusalem und München. Seine Promotion (1973) und auch seine Habilitation (1981) erfolgten an der Ludwig- Maximilians-Universität München.

Luks war danach  Hochschullehrer an den Universitäten München, Bremen und Köln. Seit 1995 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Außerdem ist Luks Mitherausgeber der Zeitschriften „Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte“ (http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/index.htm) sowie „Forum novejšej vostočnoevropejskoj istorii i kul'tury“ (http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forumruss.html)

E s war Hitlers und Stalins Krieg. Als Hitler am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, befand sich die sowjetische Bevölkerung bereits seit zwölf Jahren im Krieg. Dieser Krieg wurde ihr im Jahre 1929 – im „Jahr des großen Umbruchs“ – von Josef Stalin erklärt.

Damals entschloss sich der sowjetische Diktator zu einem waghalsigen und aus der Sicht vieler Zeitzeugen undurchführbaren Unternehmen – nämlich zur gänzlichen Enteignung der russischen Bauernschaft, die Stalin als die „letzte kapitalistische Klasse“ Russlands bezeichnete. Mehr als 100 Millionen Menschen – etwa 80 Prozent der Bevölkerung – sollten ihres Hab und Guts beraubt werden. Auf diese Kriegserklärung antworteten die Bauern mit einem verzweifelten Widerstand.

Die wehrlose Landbevölkerung Russlands hatte keine Chance

Einer der scharfsinnigsten Beobachter der damaligen Entwicklung, der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow, schrieb 1931: „Nun entscheidet sich das Schicksal Russlands für die nächsten Jahrhunderte. Sollte das Volk diese entscheidende Schlacht verlieren, wird es aufhören, Subjekt der Geschichte zu sein“.

Die wehrlose Landbevölkerung hatte keine Chance, diesen Krieg gegen den totalitären Leviathan zu gewinnen, der in seinen Händen so viele Machtmittel kumuliert hatte, von denen Thomas Hobbes nicht einmal hätte träumen können. Aber noch wirksamer als die direkten Terrormaßnahmen lähmte die Hungersnot von 1932/33 den Widerstand der Bauern, die größte Hungersnot in der Geschichte des Landes, die infolge der brutalen Enteignungspolitik des Regimes ausbrach.

Wurde der Hunger von der Stalin-Clique als Waffe benutzt, um das aufsässige Bauerntum zu bestrafen? Solche Vermutungen werden in Ost und West wiederholt geäußert. Wie dem auch sei, eine direkte Verbindung zwischen der Kollektivierung der Landwirtschaft und der damaligen Hungerkatastrophe steht für die Mehrheit der Kenner der Thematik außer Zweifel. Der sowjetische Agrarhistoriker Viktor Danilow schrieb zur Zeit der Gorbatschowschen Perestroika (1988): „Der Hunger von 1932–33 stellte das schrecklichste Verbrechen Stalins dar. Dies war eine Katastrophe, die die gesamte künftige Entwicklung des sowjetischen Dorfes entscheidend prägte.“

Parteitag der Sieger – Parteitag der Selbstmörder

Mitte der 1930er Jahre – nach der Bezwingung des sowjetischen Bauerntums – gebärdete sich die bolschewistische Partei wie ein allmächtiger Demiurg, der imstande sei, über Nacht eine neue Welt zu kreieren. Der 17. Parteitag der Bolschewiki, der im Januar 1934, also unmittelbar nach der endgültigen Niederlage der sowjetischen Bauern stattfand, wurde von den Parteipropagandisten sogar als „Parteitag der Sieger“ bezeichnet. In einer gleichgeschalteten Gesellschaft stellte indes eine derart selbstbewusste Partei einen Fremdkörper dar. Einige Jahre später – zur Zeit des „Großen Terrors“ von 1936–1938 – wurde die sowjetische Machtelite, die unangefochten alle Machthebel im Staat kontrollierte und die wichtigste Grundlage des Regimes darstellte, enthauptet. Der „Fremdkörper“ wurde in den gesamtgesellschaftlichen Organismus integriert. 

Anders als die sowjetische Bauernschaft hat sich die sowjetische Oligarchie gegen den Vernichtungsfeldzug, den Stalin gegen sie richtete, kaum gewehrt. Nicht zuletzt deshalb hat der Moskauer Historiker Michail Gefter den „Parteitag der Sieger“ von 1934 in „Parteitag der Selbstmörder“  umbenannt.

„Stalin führt einen Krieg gegen ganz Russland“

Im April 1938 – auf dem Höhepunkt des „Großen Terrors“ – schrieb Fedotow: „Stalin führt einen Krieg gegen ganz Russland, wenn man ein einseitiges Abschlachten von […] wehrlosen Gefangenen einen Krieg nennen kann […] Ein Mann gegen das ganze Land. Noch nie war die Lage Russlands derart verzweifelt. “

Zu den verhängnisvollsten Folgen dieses Krieges gehörte die Enthauptung der Roten Armee, ausgerechnet am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges. Die Ausmaße dieser Gewaltorgie demonstrieren z.B. folgende Zahlen: Im deutsch-sowjetischen Krieg fielen etwa 600 sowjetische Generäle. Im Krieg Stalins gegen die Rote Armee von 1937–39 fielen dreimal so viele Generäle bzw. Dem Generalsrang Gleichgestellte zum Opfer. Während Stalin im Krieg gegen das eigene Volk beträchtliche Erfolge verbuchen konnte, versagte er bei der Aufgabe der Verteidigung des Landes gegen außenpolitische Feinde beinahe gänzlich. Auf diesem Gebiet war er, wie Fedotow mit Recht betont, ein hoffnungsloser Stümper.

Als sich die Westmächte nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitler im März 1939 von ihrer kurzsichtigen und selbstzerstörerischen Appeasementpolitik abwandten und sich bereiterklärten, gemeinsam mit Moskau die Aggressionsgelüste Hitlers einzudämmen, entschloss sich Stalin aus einem kurzsichtigen machiavellistischen Kalkül zu einem Bündnis mit dem gefährlichsten Feind, mit dem Russland je konfrontiert worden war.

Die sowjetische Rückendeckung ermöglichte Hitler nach seinem Überfall auf Polen beispiellose militärische Erfolge. Da er im Osten nichts zu befürchten hatte, unterwarf er innerhalb von etwa 20 Monaten beinahe den gesamten außerrussischen Teil des europäischen Kontinents. Immense demographische und industrielle Ressourcen standen jetzt dem NS-Staat und seinen Vasallen zur Verfügung. Nun hielt Hitler die Zeit für gekommen, um seinen bereits in Mein Kampf entworfenen Plan der Eroberung des Lebensraums im Osten zu realisieren.

Das „Unternehmen Barbarossa“

Am 31. Juli 1940 fand auf dem Obersalzberg ein Treffen Hitlers mit der Führung der Wehrmacht statt. Hitlers Worte wurden vom Generalstabschef des Heeres Halder folgendermaßen zusammengefasst: „Im Zuge einer Auseinandersetzung muss Russland erledigt werden […] Operation hat nur Sinn, wenn wir [den russischen Staat] in einem Zuge zerschlagen. Gewisser Raumgewinn allein genügt nicht“.

Hitlers Absicht, eine neue Front zu eröffnen, bevor der Krieg gegen England zu Ende ging, rief bei einigen Vertretern des konservativen Establishments des Reiches Skepsis hervor. Indes blieben alle Versuche der konservativen Verbündeten Hitlers, dem abenteuerlichen Vorgehen des „Führers“ Einhalt zu gebieten, erfolglos. Die Konservativen gaben, ähnlich wie bei früheren Konfliktsituationen, letztendlich nach, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie, trotz aller Vorbehalte, mit vielen Punkten des außenpolitischen Programms Hitlers übereinstimmten. Der Militärhistoriker Manfred Messerschmidt spricht in diesem Zusammenhang von einer „Teilidentität der Ziele“.

Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde von Hitler bewusst als Krieg neuer Art, als weltanschaulicher Vernichtungskrieg konzipiert.

Auch Heinrich Himmler dachte damals über die Zukunft Russlands nach: „Zweck des Russlandfeldzugs [ist] die Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen“.

Deutsche Generäle zum Vernichtungskrieg bereit

Die Äußerungen Hitlers und Himmlers überraschen nicht. Massenmorde sind für das Vorgehen totalitärer Herrscher beinahe konstitutiv. Wichtiger ist die Frage, wie die deutschen Generäle auf solche Pläne reagierten, auf Gedankengänge also, die all ihre bisherigen Vorstellungen vom Krieg aus den Angeln hoben. Dabei darf man nicht vergessen, dass es sich bei diesen Generälen nicht selten um die gleichen Militärs handelte, die noch in den 1920er und zu Beginn der 30er Jahre mit dem künftigen Kriegsgegner – der Roten Armee – eng zusammengearbeitet hatten. Dessen ungeachtet konnte man, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, so gut wie keinen vernehmbaren Widerstand gegen die von der NS-Führung konzipierte Vorgehensweise registrieren.

Ernst Nolte bezeichnete seinerzeit das von Hitler im Dezember 1940 endgültig bewilligte „Unternehmen Barbarossa“ als den „ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt“.

Dass dieser Krieg ausgerechnet von einem Land geführt wurde, dem viele außenstehende Beobachter eine übertriebene Russophilie, eine maßlose Verklärung der rätselhaften russischen Seele vorwerfen, erstaunt.

Seit Herbst 1940 wurde Moskau fortwährend vor einem bevorstehenden Überfall Hitlers gewarnt.

Am 15. Juni 1941 berichtete der sowjetische Top-Spion Richard Sorge aus Tokio, dass der deutsche Angriff am 22. Juni erfolgen werde. Stalin versah diesen Bericht mit dem Kommentar: „Eine deutsche Desinformation“.

Angesichts dieser Stalinschen Vogel-Strauß-Politik stellt sich nun die Frage, ob die propagandistische These der NSDAP, der deutsche Angriff auf die Sowjetunion sei lediglich ein Präventivkrieg gewesen, vertreten werden kann. Diese These wurde nämlich 1985 vom ehemaligen Offizier des sowjetischen Nachrichtendienstes und Amateurhistoriker Viktor Suvorov (V. Rezun) wieder aufgewärmt. Von der überwältigenden Mehrheit der Militärhistoriker, wenn man von einigen Ausnahmen absieht (Joachim Hoffmann), wird diese These als wissenschaftlich nicht haltbar verworfen.

Stalin hatte panische Angst vor Hitler. Generalstabschef der Roten Armee Zhukow berichtet zum Beispiel über die erste Reaktion Stalins, nachdem ihm der deutsche Überfall gemeldet wurde: „Das ist eine Provokation der deutschen Militärs. Man soll kein Feuer eröffnen, um eine Eskalation zu vermeiden“.

Erst drei Stunden nach dem Beginn des deutschen Angriffs sei von Stalin die Erlaubnis erteilt worden, zurückzuschießen.

Der „erste deutsch-sowjetische Krieg“ und sein Ende - vom Hitlerschen Überfall auf die UdSSR bis zur Schlacht von Moskau

Das stalinistische Regime, das seit Anfang der 30er Jahre einen grausamen Krieg gegen imaginäre Volksfeinde geführt hatte, wurde am 22. Juni 1941 mit wirklichen Feinden konfrontiert. Vieles sprach dafür, dass es diese harte Bewährungsprobe nicht überstehen würde. Das Debakel der Roten Armee in den ersten Monaten des Krieges gehört zu den größten Katastrophen in der gesamten Militärgeschichte.

Der deutsch-sowjetische Krieg bestand praktisch aus zwei Kriegen, die sich grundlegend voneinander unterschieden. Und im „ersten“ Krieg, der sich im Sommer und im Herbst 1941 abspielte, erlitt die Rote Armee eine verheerende Niederlage. Am 3. Juli 1941 schrieb der Generalstabschef Halder: „Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass der Feldzug gegen Russland innerhalb von vierzehn Tagen gewonnen wurde.“

Die verheerenden Niederlagen der Roten Armee im Sommer und im Herbst 1941 lassen sich nicht allein auf Stalins Verbot zurückführen, rechtzeitig wirksame militärische Gegenmaßnahmen zu ergreifen, oder auf den Überraschungseffekt des deutschen Angriffs. Nicht weniger wichtig war auch die Tatsache, dass der Roten Armee 1941 Tausende von Offizieren fehlten, die Stalin 1937–39 hatte ermorden lassen.

Das Debakel der Roten Armee war wohl auch durch die erschreckend niedrige Kampfmoral vieler sowjetischer Soldaten zu Beginn des Krieges bedingt. Der brutale Terror der 30er Jahre, der sich praktisch gegen alle Schichten der Gesellschaft gerichtet hatte, musste sich zwangsläufig verheerend auf die Moral der Bevölkerung auswirken.

Um Hitler zu begreifen, war ein erst Lernprozess nötig

Die defätistische Stimmung, die einige Teile der sowjetischen Bevölkerung und sogar der Armee erfasste, war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass diese Gegner des sowjetischen Regimes sich zunächst über die Absichten der nationalsozialistischen Führung nicht im Klaren waren. Sie mussten, ähnlich wie früher viele westliche und sowjetische Verfechter der Appeasementpolitik Hitler gegenüber, aber auch wie viele deutsche Konservative, einen Lernprozess durchlaufen, um zu begreifen, dass eine partielle Identifizierung mit dem Nationalsozialismus nur Hitler nutzt, für seine Verbündeten aber verheerende Folgen nach sich zieht.

In den Monologen Hitlers im Führerhauptquartier kann man nachlesen, wie der deutsche Diktator sich die Zukunft des eroberten Ostens vorstellte. Ein Beispiel sollte genügen: Am 17. Oktober 1941 führte Hitler aus:

„Die Eingeborenen? Wir werden dazu übergehen, sie zu sieben. Den destruktiven Juden setzen wir ganz aus […] In die russischen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen vollständig ersterben. Wir brauchen uns da gar keine Gewissensbisse zu machen … [Wir] haben überhaupt keine Verpflichtungen den Leuten gegenüber“.

Als sich die Brutalität des deutschen Besatzungsregimes in voller Deutlichkeit zeigte, nahm die defätistische Stimmung in der sowjetischen Bevölkerung eindeutig ab. Immer weniger Soldaten der Roten Armee sahen es als Ausweg an, in deutsche Kriegsgefangenschaft zu geraten. Es blieb ihnen nicht verborgen, was sie dort erwartete. Und dieser Umschwung im gesellschaftlichen Bewusstsein trug nicht unwesentlich zum späteren Sieg der UdSSR über das Dritte Reich bei.

Durch den Krieg kam es in der Sowjetunion zu einer Art Kompromiss zwischen der bis dahin drangsalierten Gesellschaft und den Machthabern

Um vom Dritten Reich nicht hinweggefegt zu werden, musste die stalinistische Clique, die sich bis dahin auf die Terrorisierung der eigenen Bevölkerung konzentriert hatte, das bestehende Unterdrückungssystem modifizieren, es etwas flexibler machen. Der Krieg war paradoxerweise mit einer gewissen Lockerung des Regimes verbunden. Es kam zu einer Art Kompromiss zwischen der bis dahin drangsalierten Gesellschaft und den Machthabern. Viele Offiziere, Ingenieure und Wissenschaftler, die während der Säuberungen von 1936-38 verhaftet worden waren, wurden nun aus den Gefängnissen und Straflagern entlassen und erhielten nicht selten erneut führende Positionen in der Armee oder Industrie.

 Einige bis dahin offiziell abgelehnte Schriftsteller und Dichter durften wieder publizieren, die Zensur wurde gelockert. Die bis dahin brutal verfolgte Russisch-Orthodoxe Kirche erhielt nun neue Betätigungsmöglichkeiten.

Der bereits erwähnte Michail Gefter spricht im Zusammenhang mit den damaligen Entwicklungen sogar von einer „spontanen Entstalinisierung“, die sich 1941 ereignete.

Der sowjetische Schriftsteller Konstantin Simonow bezeichnete viele Jahrzehnte später – zur Zeit der sogenannten Breschnewschen „Stagnation“ – den Krieg als den einzigen lichten Fleck in der sowjetischen Geschichte der letzten Jahrzehnte. Wie grauenhaft muss die sowjetische Wirklichkeit vor dem 22. Juni 1941 gewesen sein, wenn einer der brutalsten Kriege in der Geschichte der Menschheit als ein lichter Fleck, als eine Art innere Befreiung empfunden wurde!

Kriegsgefangene wurden als Landesverräter betrachtet

Man darf auf der anderen Seite nicht vergessen, dass auch nach dem Ausbruch des Krieges Millionen von Menschen sich weiterhin im „Archipel Gulag“ befanden. Ganze Völker wurden ins Innere der Sowjetunion deportiert, weil man sie der Kollaboration mit dem Feind bezichtigte, wobei Tausende von Menschen von den Terrororganen ermordet wurden. Mit äußerster Härte wurden auch die eigenen Soldaten von der Kremlführung behandelt. Dies betraf vor allem die sowjetischen Kriegsgefangenen, die als Landesverräter betrachtet wurden. Die sowjetischen Industriearbeiter, vor allem in den rüstungsrelevanten Sektoren, wurden ihrerseits einer außerordentlich scharfen Arbeitsdisziplin unterworfen. Mit dem Dekret vom 26. Dezember 1941 wurden die Arbeiter in der Rüstungsindustrie zwangsmobilisiert und wie Soldaten behandelt. Das eigenmächtige Verlassen der Betriebe galt als Fahnenflucht.

Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in den unbesetzt gebliebenen Teilen der Sowjetunion fand sich mit der Verschärfung der Arbeitsdisziplin und mit den zusätzlichen Bürden, die das Regime ihr nach dem Ausbruch des Krieges auferlegte, in der Regel ab. Angesichts der tödlichen Gefahr, die das russische Staatswesen als solches bedrohte, sah man die Notwendigkeit dieser verschärften Maßnahmen im Wesentlichen ein. Sie waren durch reale und nicht durch imaginäre Gefahren wie in den 30er Jahren verursacht. Das stalinistische System wiederum – diese Verkörperung des Absurden – musste gewisse Konzessionen an die Realität machen, und schon das allein machte es in den Augen der Bevölkerung etwas erträglicher.

Kurz vor Moskau wurde der deutsche Vormarsch gestoppt

Dieser Kompromiss zwischen Regime und Bevölkerung wurde zur wichtigsten Ursache dafür, dass der „erste“ deutsch-sowjetische Krieg im Dezember 1941 zu Ende ging. Am 5. Dezember 1941 wurde der deutsche Vormarsch kurz vor Moskau gestoppt und zurückgeschlagen.

Der „zweite“ deutsch-sowjetische Krieg hatte nun begonnen, der im Mai 1945 im zertrümmerten Berlin sein Ende fand. Nach der verlorenen Luftschlacht über England erlitt Hitler im Dezember 1941 die zweite große Niederlage in seiner Karriere seit 1930. Denn seit dem Triumph bei den Reichstagswahlen vom September 1930 hatte er im Grunde nur noch Siege gekannt. Er hatte es in der Regel mit demoralisierten, innerlich unschlüssigen Gegnern zu tun gehabt, die scharenweise vor ihm kapitulierten – bis er auf zwei Kräfte traf, die nicht zur Selbstaufgabe bereit waren: die Freiheitsliebe der angelsächsischen Nationen und den russischen Patriotismus. An diesen beiden Kräften sollten Hitler und sein Regime auch zerbrechen.

Die Tragik Russlands bestand allerdings darin, dass es durch die Bezwingung seines äußeren Feindes lediglich seinen inneren Feind – die stalinistische Tyrannei – stärkte. Bereits einige Monate nach der Schlacht von Moskau begann das zunächst verunsicherte Regime, das verlorene innenpolitische Terrain wiederzugewinnen. Damit erschöpft sich aber nicht die Bedeutung des sowjetischen Sieges über das Dritte Reich: „Der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat setzte sich fort. Von diesem Streit hing das Schicksal des Menschen, seine Freiheit ab“, schreibt der russische Schriftsteller Wassili Grossman in seinem Buch „Leben und Schicksal“, das zu den bedeutendsten Romanen des 20. Jahrhunderts zählt. (Deutsch bei Claasen, 2007).

Der nach innen gerichtete Kontrollzwang der stalinistischen Tyrannei band einen beträchtlichen Teil ihrer Kräfte und hinderte sie daran, so uferlos nach außen zu expandieren, wie dies bei der nationalsozialistischen Diktatur der Fall gewesen war.

Die Übergänge zwischen Regime und Volk waren natürlich fließend. Die Stalinsche Despotie wäre ohne die partielle oder gänzliche Identifizierung beträchtlicher Teile der Gesellschaft mit ihr nicht lebensfähig gewesen. Trotz alledem bestand sie doch, diese Trennlinie zwischen Regime und Volk, dem die herrschende Clique bis zuletzt misstraute. Sie unternahm außerordentliche Anstrengungen, um es lückenlos zu kontrollieren. Dieser nach innen gerichtete Kontrollzwang der stalinistischen Tyrannei band einen beträchtlichen Teil ihrer Kräfte und hinderte sie daran, so uferlos nach außen zu expandieren, wie dies bei der nationalsozialistischen Diktatur der Fall gewesen war.

Die „spontane Entstalinisierung“ der Kriegszeit verhallte übrigens nicht ohne Resonanz. Denn unmittelbar nach dem Tode Stalins knüpfte der reformorientierte Teil der Parteiführung an einige ihrer Postulate an. Und so begann in der UdSSR eine immer schärfer werdende Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Terrorregime, die trotz mancher Rückschläge und Restaurationsversuche der Machthaber bis zur Auflösung der Sowjetunion dauern sollte. Die Entmachtung der KPdSU im August 1991 war nicht zuletzt die Folge dieser russischen Variante der Vergangenheitsbewältigung.

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