13.01.2023 14:10:35
CHINA
Von Johann von Arnsberg
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In China werden immer weniger Mädchen geboren und großgezogen |
EM – „Mädchen von heute sind die Arbeiter von morgen.“ So steht es auf Spruchbändern, die derzeit in der chinesischen Provinz entrollt werden. Lokale Regierungen haben Komitees gebildet, die auf Parteiveranstaltungen und bei Straßenumzügen für mehr Mädchengeburten im Lande werben. Es werden inzwischen sogar Prämien und Renten für bäuerliche Familien ausgesetzt, die nur Töchter haben. Der Staat verspricht für den weiblichen Nachwuchs eine Minderung des Schulgelds oder Hilfe bei der Suche nach einem Arbeitsplatz.
Der Grund für solche Maßnahmen zugunsten von Mädchengeburten wurde in diesem Frühjahr 2004 in einer Meldung der amtlichen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua genannt: Im nächsten Jahrzehnt werden nach Berechnungen chinesischer Bevölkerungsstatistiker in der Volksrepublik bis zu 60 Millionen Frauen fehlen. Vor dieser Entwicklung warnen laut Xinhua chinesische Soziologen: „Ein derartiges Ungleichgewicht der Geschlechter ist eine große Bedrohung für das gesunde, harmonische und nachhaltige Bevölkerungswachstum“, erklärte Familienplanungsexperte Li Weixiong. Es könne zu einer Ausweitung von Menschenhandel und Menschenraub führen. Auch ein zunehmender Mißbrauch von Frauen und eine Ausbreitung der Prostitution müsse man befürchten. Auch die Vereinten Nationen warnen in ihrem diesjährigen Entwicklungsbericht vor einem solchen Trend.
Familienminister Zhang Weiqing zufolge kommen in China durchschnittlich 117 Jungen auf 100 Geburten von Mädchen. Bei Kindern unter neun Jahren entspräche dies einem Jungenüberschuß von 13 Millionen. Wenn dieser Trend anhalte, könnte dies bereits im Jahr 2020 dazu führen, daß 50 bis 60 Millionen Männer keine Frau mehr finden. Zhang forderte „energische Maßnahmen“, um das wachsende Ungleichgewicht zu bekämpfen.
Über die Ursachen des Mangels an weiblichem Nachwuchs bestehen keine Zweifel. Sie liegen in der konfuzianischen Tradition des Landes und in der staatlichen Bevölkerungspolitik. Wie auch in anderen süd- und südostasiatischen Ländern – zum Beispiel in Indien - gilt in China ein Junge weit mehr als ein Mädchen. Die Folge ist, daß häufig chinesische Mädchen bei ihrer Geburt gar nicht gemeldet werden und so vermutlich Millionen Frauen - vor allem auf dem Land - illegal leben. Obwohl es sie gibt, haben sie kaum die Chance zu einer offiziellen Eheschließung.
Für die konfuzianische Kultur stellt die Sorge um den Nachwuchs und die Erhaltung der männlichen Erblinie die wichtigste Aufgabe einer Familie dar. Nur der Sohn, so das Denken, kann die Familie fortsetzen, während das Mädchen mit der Heirat in eine andere Familie überwechselt und somit für die Eltern verloren ist.
Ein Sohn hat zusammen mit seiner Frau die Aufgabe, für seine Eltern in Krankheit und im Alter aufzukommen. Bislang haben nur die wenigsten chinesischen Bauern eine Krankenversicherung. Altersrente ist auf dem Land, außer für staatliche Funktionäre, unbekannt.
Daraus resultiert in Verbindung mit der Bevölkerungspolitik Pekings die zweite Ursache für den eklatanten Mädchenmangel. Denn in China schreiben staatliche Erlasse und Gesetze die Ein-Kind-Ehe vor. Deshalb setzen viele Eltern alles daran, nur Jungen großzuziehen. Weibliche Säuglinge, sowie Mädchen und Frauen werden sowohl bei der Ernährung als auch bei der Gesundheitsversorgung benachteiligt. Durch den Fortschritt der Technik ist die Geschlechtsbestimmung der Föten im Mutterleib schon früh möglich. Mädchen werden abgetrieben, nach der Geburt getötet oder ausgesetzt. Die Regierung hat inzwischen Ultraschalluntersuchungen zur Geschlechtsbestimmung verboten, wie die Tagszeitung „South China Morning Post“ vor wenigen Wochen meldete. Außerdem werden für Kindesmord hohe Strafen angedroht.
Bis in die 70er Jahre gehörte China noch zu den Staaten, die das Bevölkerungswachstum aktiv gefördert haben. Damals gaben Politiker die Parole aus, „700 Millionen Chinesen sind 700 Millionen Soldaten“. In den 80er Jahren, als die Bevölkerungszahl sich mit atemberaubender Geschwindigkeit der Milliardengrenze näherte, versuchte China mit scharfen Gesetzen und drastischen Strafen die Ein-Kind-Familie zu erzwingen. Die rigorose Politik der Geburtenbeschränkung wird mit strenger sozialer Kontrolle und oft auch mit brutaler Gewalt durchgesetzt. Wer sich den Regeln widersetzt, wird bestraft. Zwischen umgerechnet 1.000 und 20.000 Mark müssen Familien berappen, wenn die Mutter zum Beispiel vor ihrem 28. Lebensjahr ein zweites Kind bekommt. Zehn Prozent Lohnabzug für beide Ehepartner nach einem unerlaubten Baby sind keine Seltenheit. Wer sich dagegen an die Auflagen hält, wird belohnt. Die Prämien für Ein-Kind-Familien reichen von Saatgut und Düngemitteln auf dem Lande bis hin zu technischer Ausbildung, besseren Wohnungen und auch Bonuszahlungen.
Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der Geburten infolge der Ein-Kind-Politik in den vergangenen zehn Jahren um 300 Millionen gesunken. Dennoch soll die Zahl der Chinesen laut einschlägiger Prognosen von derzeit knapp 1,3 Milliarden bis 2043 auf 1,6 Milliarden steigen.
Jetzt haben die Familienplaner in der Provinz fünfzehn Parolen ausgegeben, mit denen die Menschen auf dem Lande davon überzeugt werden sollen, daß auch Mädchen es wert sind, geboren und großgezogen zu werden. Die Aktion heißt „Sorgt euch um die Mädchen!“ Auf vielen Spruchbändern steht beispielsweise: „Die Zeiten haben sich geändert, Mädchen und Jungen sind gleich gut.“ Oder: „Wer sagt, daß Jungen besser sind als Mädchen?“ Und schließlich wird den Menschen durch die amtlich ersonnenen Weisheiten auch die Selbstverständlichkeit schlechthin beigebracht: „Nur Mädchen und Jungen zusammen sind die Hoffnung der Nation.“
Auch die Familienplaner beginnen umzudenken. Sogar die Ein-Kind-Politik soll vorsichtig gelockert werden. China hält zwar generell weiter an seiner restriktiven Geburtenplanung fest, setzt aber inzwischen darauf, daß sich die Zahl der Kinder auch aufgrund anderer Entwicklungen in Grenzen halten läßt – durch den immer weiter steigenden Lebensstandard der Bevölkerung, durch mehr Aufklärung und bessere Verhütung. Der chinesische Bevölkerungsstatistiker Wang Qian sagt laut Xinhua voraus: „Noch wachsen wir trotz des Tritts auf die Bevölkerungsbremse bis zum Jahr 2050.“ Chinas Bevölkerung werde erst bei 1,5 Milliarden Menschen ein Nullwachstum erreichen und dann wieder abnehmen.
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