Kino mit Rundumblick in die VergangenheitRUSSLAND

Kino mit Rundumblick in die Vergangenheit

Kino mit Rundumblick in die Vergangenheit

Das „Kinopanorama“ in Moskau ist das einzige Kino der Welt, das seit 50 Jahren Filme auf einer 360-Grad-Leinwand zeigt. Als ununterbrochener Streifen zieht sich die Leinwand in dem kreisrunden Saal an der Wand entlang – und der Zuschauer steht mittendrin. Parteichef Nikita Chruschtschow ließ das ungewöhnliche Haus 1959 erbauen, um das Disneyland in den USA zu übertreffen. Heute kommt meist nur noch eine Handvoll Zuschauer. Von 20-minütigen Kurzfilmen lassen sie sich in ein Land entführen, das es nicht mehr gibt – und manch einer ahnt, dass dem charmanten alten Kino vielleicht das gleiche Schicksal droht.

Von Ulrike Gruska

Im Kinopanorama umschließen die Leinwände den Zuschauer komplett.  
Im Kinopanorama umschließen die Leinwände den Zuschauer komplett.
(Foto: Kinopanorama)
 

W enn im Moskauer „Kinopanorama“ das Licht ausgeht, wird die Zeit um ein halbes Jahrhundert zurückgedreht. Ein Knistern, ein Flackern, ein verwackeltes Bild ohne Anfang und Ende. Die Leinwand zieht sich als ununterbrochener Streifen an der Wand des kreisrunden Kinosaals entlang, der 28 Meter durchmisst. Und der Zuschauer steht mittendrin. Staunend blickt er auf das bewegte Panorama ringsum. Er fliegt mit der Kamera über schneebedeckte Gipfel, rumpelt im Lastwagen durch sibirische Wälder, schaut nach vorn, nach hinten, zur Seite, dreht sich um die eigene Achse.

Das Moskauer „Kinopanorama“ ist eine cineastische Rarität. Es ist das einzige Kino der Welt, das seit 50 Jahren Filme auf einer 360-Grad-Leinwand zeigt. In der Sowjetunion gehörte es zu den größten Attraktionen der Hauptstadt. Kaum eine Vorstellung, zu der nicht hunderte Menschen kamen. Heute kann man die Zuschauer meist an einer Hand abzählen. Von 20-minütigen Kurzfilmen lassen sie sich in ein Land entführen, das es nicht mehr gibt – und manch einer ahnt, dass dem charmanten alten Kino vielleicht das gleiche Schicksal droht.

Zweiundzwanzig Leinwände in zwei Reihen

Im Das Moskauer Kinopanorama - seit seiner Eröffnung ein Publikumsmagnet.  
Das Moskauer Kinopanorama - seit seiner Eröffnung ein Publikumsmagnet.
(Foto: Kinopanorama)
 

„Es ist kein Geld da, was soll man machen?“, fragt Ludmila Wanjukowa in den fast leeren Raum. Die 67-jährige Filmvorführerin hat ihr ganzes Leben im „Kinopanorama“ gearbeitet, von seiner Eröffnung 1959 bis zu ihrer Pensionierung vor einem Jahr. Sie kennt noch die Zeit, in der es an Geld nie mangelte in dem Haus, dessen Bau der erste Mann im Staat anordnete.

Parteichef Nikita Chruschtschow hatte Ende der 50er Jahre von einem Rundkino im Disneyland in den USA erfahren und beschlossen: So etwas braucht Moskau auch, größer natürlich und mit besserer Technik. Auf dem Gelände der Freiluftausstellung WDNCh ließ er in nur drei Monaten einen Zylinder aus Ziegeln und Glas errichten. 22 Leinwände wurden darin in zwei Reihen übereinander im Kreis angeordnet – doppelt so viele wie im US-amerikanischen Vorbild.

Um Filme für das ungewöhnliche Haus zu drehen, montierte man elf Kameraobjektive auf einen Ring und konnte so eine beliebige Szenerie nach allen Seiten hin gleichzeitig aufnehmen. Zum Parteitag im Juni 1959 musste der erste Film fertig sein. Die Genossen waren begeistert: Der Streifen zeigte ihr Land in all seiner Schönheit. Er stellte – wie fast jeder weitere für das Rundkino gedrehte Film – Urlaubsziele in der UdSSR vor: die Traumstrände der Halbinsel Krim, die kaukasischen Berge, blühende sibirische Wälder.

„Kinopanorama“ gehörte zum Pflichtprogramm für Besucher

Das Moskauer Kinopanorama ist schon von außen gesehen eine Rarität.  
Das Moskauer Kinopanorama ist schon von außen gesehen eine Rarität.
(Foto: Kinopanorama)
 

Für in- und ausländische Delegationen, für Schulklassen und Touristengruppen gehörte ein Besuch im „Kinopanorama“ bald zum Pflichtprogramm. Manchmal fuhr ein Bus des sowjetischen Reiseunternehmens Intourist unangemeldet vor. „Und wir hatten schon alle Tickets verkauft“, erinnert sich Ludmila Wanjukowa und versucht, eine erschrockene Mine aufzusetzen.

Dabei stand sie nur zu gern hinter dem Bedienungspult unten im Saal, wenn sich statt der vorgesehenen 300 mehr als 600 Menschen Rücken an Rücken ins Kino schoben. Sie freute sich über das begeisterte „Ohhh“ der Zuschauer, wenn die Kamera mit den elf Augen unter Wasser tauchte oder im Slalom zwischen Skifahrern einen Hang hinunterzischte.

Die Filmvorführer im „Kinopanorama“ – elf Leute pro Schicht, einer hinter jedem Projektor – arbeiteten bis zum Ende der Sowjetunion im Minutentakt: Film einlegen, Tonspur einspannen, Bild justieren. Film rausnehmen, säubern und die 600 Meter auf jeder Rolle zurückspulen, in den ersten Jahren per Handkurbel. Zwanzig Minuten Film, zwanzig Minuten Pause. Macht vierzehn Vorstellungen pro Tag an sieben Tagen pro Woche.

Es gibt nur noch sieben alte Filme, die man zeigen kann

Ludmila Wanjukowa wechselt seit Urzeiten die Rollen der Filme in Sekunden.  
Ludmila Wanjukowa wechselt seit Urzeiten die Rollen der Filme in Sekunden.
(Foto: Gruska)
 

Heute öffnet Natalia Waschtschekina, die neue Direktorin, das Kino noch an vier Tagen in der Woche. Sieben der alten Filme sind erhalten und werden im Wechsel gezeigt. Waschtschekina verkauft Karten für fünf Vorstellungen pro Tag – theoretisch. Praktisch bleibt die Leinwand oft schwarz, weil keiner kommt. Dann fegt die Direktorin die Blätter vor dem Eingang zusammen, hängt ein neues Plakat auf oder klebt einen gerissenen Film.

Zusammen mit drei Kollegen hält sie den Betrieb aufrecht, für ein eher symbolisches Gehalt. Das „Kinopanorama“ gehört zur staatlich geförderten Gruppe „Moskauer Kino“. „Nun ja, ein klein wenig Geld bekommen wir, um es vorsichtig auszudrücken“, sagt Waschtschekina. Vor ein paar Jahren wurde immerhin eine neue Tür eingesetzt, kurz darauf das Dach erneuert. Ansonsten improvisiert die Direktorin: Wenn ein Kino in der Stadt einen alten Projektor ausrangiert, holt Waschtschekina ihn für das Rundkino ab.

Ab und zu lädt sie die pensionierten Filmvorführer wieder ins „Kinopanorama“ ein. In der Mittagspause sitzen sie dann bei Tee, Käsebrot und Melone zwischen den Filmprojektoren – und weil sie statt zwanzig Minuten eineinhalb Stunden Zeit haben, denken sie sich aus, was man alles machen könnte, wenn genug Geld da wäre.

Ludmila Wanjukowa, immer noch ganz Technikerin, würde zuerst die vergilbten Leinwände austauschen. Dann müsste ein Regisseur her, der sich zutraut, einen neuen 360-Grad-Film zu drehen. Schließlich gibt es die Kamera mit den elf Augen noch, man müsste sie nur ein wenig auf Vordermann bringen. Natalia Waschtschekina denkt daran, den ungewöhnlichen Saal für Präsentationen an Unternehmer zu vermieten. Künstler könnten hier Lasershows und Videoprojektionen zeigen, wie während des Festivals für moderne Kunst vor einem Jahr. Dann würde man mit dem „Kinopanorama“ endlich nicht mehr nur in die Vergangenheit reisen, sondern in die Zukunft.

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Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.

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