13.01.2023 14:10:35
RUSSLAND
Von Julia Schatte
Im Moskauer „Winzavod“, ehemals Weinkelterei und heute Zentrum für zeitgenössische Kunst, öffnete am 20. September die Ausstellung „Duchownaja bran´“ (Geistliche Beschimpfung).
Die Ausstellung zeigt unter anderem Ikonen, die wie ein Fotonegativ aussehen – die Gesichtszüge in schwarzer Farbe, die Augenhöhlen weiß. Andere tragen Masken und erinnern an den Stil von Pussy Riot.
Die beiden Initiatoren, der Kunstsammler Wiktor Bondarenko und die Künstlerin Jewgenija Malzewa haben sich durch die Pussy-Riot-Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale inspirieren lassen. Ein Angriff auf die Kirche sei die Ausstellung nicht.
Vor der Eröffnung blockierten orthodoxe Aktivisten und Kosaken den Galerieeingang, um ihren Protest kundzutun. Es gab Prügeleien, das Gelände wurde zeitweilig geschlossen, einige Aktivisten nahm die Polizei fest.
Viele Kirchenvertreter empfinden diese Darstellungen als verletzend und bedrohlich. Als „Antiikonen“ seien sie eine Beleidigung für orthodoxe Gläubige. Dumamitglied und Vorsitzende des Komitees für Sicherheit und gegen Korruption Irina Jarowaja verurteilte die Ausstellung als „Pseudokunst“ und eine „Provokation eines gesellschaftlichen Konflikts“.
Als Folge der heftigen Kontroversen um Religion und Kunst diskutierte die russische Duma am 25. September einen Projektentwurf, der sich mit der Verantwortung für die „Verletzung religiöser Gefühle der Bürger“ befasst. Dumasprecher Sergej Naryschkin stellte fest, dass religiöse Vereinigungen für einen zivilgesellschaftlichen Frieden und Einigkeit wichtig wären. Religiöser Extremismus, Fundamentalismus, Vandalismus und alle Arten von Ordnungswidrigkeiten gegenüber der Russisch-Orthodoxe Kirche und anderen religiösen Organisationen seien zu verurteilen. Man brauche daher ein neues Gesetz, in dem die Sanktionen für solche Vergehen eindeutig formuliert sind.
Wenn es um die religiösen Gefühle und Rechte geht, die die Russisch-Orthodoxe Kirche vertreten und schützen will, spricht sie nicht nur in ihrem Namen. In ihren Äußerungen geht es um die Befindlichkeiten „orthodoxer Gläubiger“, öfter auch ganz allgemein des „Volkes“, des „russischen Volkes“ oder der „Gesellschaft“.
Wenn man jedoch beachtet, wie begrenzt das reale Interesse am ganzen Prozess in der russischen Gesellschaft tatsächlich war, stellt sich die Frage, wer diese Gläubigen sind, deren religiöse Gefühle hier vertreten werden sollen?
Laut Meinungsumfragen des Jurij-Lewada-Instituts vom April 2012, hat gerade mal ein Drittel der Bevölkerung von der Aktion Pussy Riots und dem Prozess hauptsächlich durch das Fernsehen gehört, nur vier Prozent davon verfolgten die Ereignisse. Von den Befragten hielten 46 Prozent die zunächst von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe von sieben Jahren Haft für angemessen, 35 Prozent fanden sie zu hoch und neun Prozent meinten, dass derlei Aktionen überhaupt nicht strafrechtlich verfolgt werden dürften.
Unter den aufmerksamen Beobachtern gibt es die jüngeren Haupt- oder Großstädter mit Hochschulabschluss und ältere Menschen mit mittlerem Bildungsabschluss, von denen erstere die Strafe erwartungsgemäß als zu hoch einstufen und letztere als völlig adäquat.
Seit dem Ende der 80-er bis Anfang der 90-er Jahre wurden Kirchenbesuche im postkommunistischen Russland zum Symbol neuer bürgerlicher und demokratischer Freiheiten.
Ungefähr ab 1993 und im Zusammenhang mit der Verfassungskrise und dem Beginn des ersten Tschetschenienkriegs änderte sich die Situation. Die Orthodoxie wurde zu einer Art Gegenpol und Ausdruck von Misstrauen gegenüber dem Kurs der Staatsmacht.
Seit 1989 bezeichneten sich nur 30 Prozent der an den Umfragen Beteiligten als orthodox und 65 Prozent gaben an, nicht gläubig zu sein. In den Jahren 1993-1995 lag die Zahl der „Orthodoxen“ bereits bei 56Prozent, der Nichtgläubigen bei 39Prozent. Einen weiteren Anstieg derer, die sich zur Orthodoxie bekannten, gab es erst in den Jahren 2000 bis 2008 wieder, es folgte eine Stagnation und ein leichter Rückgang.
Heute ist diese Zahl relativ stabil und liegt bei 70Prozent, nur noch 20Prozent geben an, nicht gläubig zu sein. Unter diesen 70Prozent dominierten bisher ältere, auf dem Land oder in Kleinstädten lebende Menschen mit mittlerem und niedrigem Bildungsniveau und Frauen. Derzeit formieren sich jedoch neue Gruppen, die ihre Zugehörigkeit zur Orthodoxie zeigen. Das sind Männer, junge Leute mit Hochschulabschluss und Führungskräfte der mittleren Ebene, die Religion als eine neue Erfahrung oder die Demonstration von etwas Neuem betrachten.
Der Soziologe Boris Dubin vom Moskauer Jurij-Lewada-Institut für Meinungsforschung meint, dass die Rolle der Religion im Leben derjenigen, die sich als orthodox bezeichnen, in der Realität nicht überschätzt werden darf. Das wird umso deutlicher, wenn soziologisch hinterfragt wird, welchen Zusammenhang es zwischen der Zugehörigkeit zur Orthodoxie und der tatsächlichen Religiosität bzw. dem Einfluss auf das alltägliche Leben gibt. Differenziertere Befragungen brachten zum Teil widersprüchliche Antworten und Ergebnisse zutage.
So geben heute 87-90 Prozent der Bevölkerung an, getauft zu sein. Der Anteil der Getauften ist somit höher, als derjenigen, die sich als orthodox bezeichnen. Von den „Orthodoxen“ geben nur 40 Prozent an, an Gott zu glauben. Weitere 25 Prozent sind sich nicht sicher und 30 Prozent glauben gar nicht daran.
Die Frage, ob die Religion Einfluss auf ihr tägliches Leben hat, bejahen 40 Prozent der „Orthodoxen“ , 60 Prozent sagen aus, gar nicht oder kaum beeinflusst zu sein. Außer seltenen Gottesdienstbesuchen zu großen Feiertagen sagen 90-92 Prozent, dass sie keinen Anteil am Kirchenleben haben, 80 Prozent gehen nicht zur Beichte. Den orthodoxen Ostergottesdienst, der als wichtigster gesehen wird, besuchen 15 Prozent, 55 Prozent der befragten „Orthodoxen“ gehen zu keinen Gottesdiensten. Nur zehn Prozent geben an, täglich zu beten und regelmäßig zu fasten.
Über die Hälfte dieser Leute besitzt keinerlei religiöse Literatur, nur 20-25Prozent haben zu Hause eine Bibel oder ein Gebetbuch. Offensichtlich wurde bei den Befragungen auch, dass die „Orthodoxen“ oftmals mehr an Aberglauben und eher Symbole heidnischen Ursprungs glauben, als an christliche bzw. erstere und letztere nicht voneinander unterscheiden können.
Wenn man die Differenz zwischen den persönlichen Angabe, „orthodox“ zu sein und den tatsächlichen religiösen Aktivitäten beachtet, dann stellt sich die Frage, welche Bedeutung und welchen Inhalt das „Orthodoxe“ außerhalb dieser Aktivitäten für den Einzelnen hat? Für Boris Dubin erinnert das Verhältnis der Bevölkerung zur Kirche an das zum Staat und Russland als Ganzem: verbale Bejahung, aber keinerlei Aktionismus.
Die Orthodoxie wird – ganz allgemein gesprochen- als eine moralische Orientierung, als Grund gesehen, um über den Sinn des Lebens nachzudenken. Religion scheint also hilfreich dabei zu sein, sich an alle möglichen Gegebenheiten adaptieren zu können. „Orthodoxe“ geben an, dass Religion sie lehrt, andere Menschen zu akzeptieren, die Mitmenschen also „erträglicher“ macht. Man kann sich somit das Leben erleichtern, ohne aktiv werden zu müssen.
Die Frage nach der eigenen Aufgabe in der Welt und der Vergleich eigener Erfahrungen mit den Erfahrungen anderer wird mit einem Zuwenden zur Religion verbunden. Diese Zuwendung ist aber symbolischer Art, sie schließt keine aktiven Handlungen, keine Teilnahme, kein Übernehmen von Verantwortung in der Gemeinschaft ein.
Soziologische Forschungsergebnisse zeigen, dass die Veränderung der Einstellung zur Kirche und zum Glauben eng verbunden ist mit Identifikationsprozessen. Seit 2000 ist das Verhältnis zur Religion auch eine Reaktion auf Wladimir Putins Politik und das Verständnis von Russland als einer starken Macht. Die Zustimmung oder Kritik an der Kirche ist sehr abhängig von der Präsentation der Staatsoberhäupter, die durch elektronische Medien vermittelt wird.
Die „staatliche“ Orthodoxie ist ein Teil des Images und ein zentrales Mythos im öffentlichen Bewusstsein. Das Verhältnis zur Orthodoxie korreliert also mit dem Verhältnis zum Staat, aber auch zum „Ganzen“, also zur Sowjetunion, zu Russland oder dem Verhältnis zu sich selbst. Die Staatsmacht und die Orthodoxie symbolisieren zwei Seiten dieses Ganzen. Die Zugehörigkeit zum Ganzen ist wiederum wichtig, weil das durch die Kirche vermittelte Wir-Gefühl die Welt erklärt, indem es in ein „Wir“ und die „Anderen“ teilt. Dieses „Wir“ verweist auf die Zugehörigkeit zur Mehrheit, ist weder stigmatisierend noch diskriminierend.
Von diesem zweiseitigen, symbolischen Mythos profitiert in diesem Kontext die Staatsmacht, weil sie so quasi mit oder durch die Kirche wahrgenommen wird, und damit in einem milderen, weniger repressiven Licht.
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