13.01.2023 14:10:35
RUSSLAND ERFRISCHEND
Von Jan Balster
aroslawl, am oberen Flusslauf der Wolga gelegen, ist mit ihren knapp einer Million Einwohnern nicht nur eine Hafenstadt mit einem Eisenbahnknotenpunkt an der Transsibirischen Eisenbahn, sondern auch Gebietshauptstadt. Außerdem blickt die über tausendjährige Stadt auf eine reichhaltige Geschichte zurück und bildet mit ihrer breit gefächerten Industrie, der Gummiproduktion, Chemie und dem Maschinenbau den wirtschaftlichen Motor der Region.
Hier habe ich mich mit Kolja um 10 Uhr morgens am Wlassjaw Torturm verabredet. Von weitem winkt er mir zu, überquert sicheren Schrittes die zweispurige Hauptstraße und schon schütteln wir uns die Hände. „Da ist ein Kwas-Wagen“, sage ich „wollen wir etwas trinken?“
„Ein Kwas-Wagen?“, wiederholt Kolja, „ich denke, du interessierst dich für Kultur, Ikonen und das Igorlied?“
„Lass uns zuvor etwas trinken“, antworte ich mit durstiger Kehle und Kolja meint, ich würde mich ja schon beinahe wie ein Russe anhören: „Wird es heute nicht, wird es morgen.“
„Möchtest du einen Becher“, lasse ich nicht locker. „Hier könnten wir uns hinsetzen und über Ikonen sprechen.“
Kolja lacht: „Ich habe mich entwöhnt.“ Und er nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner Colaflasche. „Gut, wenn du magst“, fährt er dann fort, „dann erledige ich erst noch einige Besorgungen für meine Frau.“
Koljas Worte zu unserer nächsten Verabredung nehme ich nur noch flüchtig wahr. Meine Gedanken kreisen schon wieder um das alte russische Gebräu, welches neben Wodka als Nationalgetränk der Russen gilt. Kwas, das beliebte alkoholarme Erfrischungsgetränk, welches durch Vergären von Brot und Getreide gewonnen wird. Je nach Jahreszeit, dem Klima, Geschmack und den Gewohnheiten der Russen gibt es zeitweilig mehr als fünfzig Kwassorten. Dem „sauren Getränk“, der russischen Bedeutung für Kwas, spricht man sogar heilende Wirkung zu.
Der nussig, malzige Geruch steigt mir in die Nase, als Tatjana, die Verkäuferin am Kesselwagen den ersten Halbliter Plastikbecher füllt. Alles ringsum ist vergessen. Eine Art Abhängigkeit setzt ein, wie sie andere bei Zigaretten verspüren. Automatisch führe ich den ersten Becher zum Mund. Süffig gurgelt das kühle Nass durch meine Kehle. Ich merke es kaum, als mir Tatjana den zweiten Becher reicht. Ich genieße den säuerlichen Geschmack, der mir beinah in Vergessenheit geraten war. Ein Glücksgefühl breitet sich in mir aus. „Noch einen Becher?“ fragt die 26-jährige, nachdem sie mir bereits insgesamt den Dritten abgefüllt hat. „Einen Moment bitte“, antworte ich: „Ich schmecke noch ein wenig nach. Vielleicht können Sie derweilen meine beiden Literflaschen füllen.“ Jetzt stutzt sie noch mehr als zuvor. Ihr Gesichtsausdruck verrät mir, dass sie mich nicht ernst nimmt. „Soviel nimmt kaum jemand“, sucht sie zu überspielen. „Vor 15 Jahren konnte man diese gelben Kesselwagen an jeder Ecke und sogar in Moskau antreffen“, rechtfertige ich mich ein wenig: „Der Wagen gehörte zum Straßenbild dazu, wie die berühmte Puppe in der Puppe in den Souvenirläden. Heute muss ich schon danach suchen und weit ins Umland hinausfahren.“
„Kwasherstellung ist schwer“, meint Tatjana, „das Brot ist heute nicht mehr so geeignet, voll gestopft mit Chemie. Es wird schimmelig, statt hart zu werden.“ Täglich steht sie hier und verkauft ihren kühlen Trunk, der im Sommer wesentlich leichter unter die Leute zu bringen ist als im Winter. Was soll sie anderes tun, ohne Ausbildung, ohne Chance auf einen Broterwerb, eine anständig bezahlte Arbeit.
Also arbeitet sie mit ihrer Mutter im Verkauf. Und gleichzeitig sind beide auch noch Kwas- Hersteller. Nach zwölf Stunden am Wagen ist ihr Arbeitstag noch nicht beendet. Auf ihrem Hof außerhalb der Trabantensiedlungen, die sich weit ins Umland schieben, setzten sie die neuen Fässser für die kommenden Wochen an.
Im Winter haben die Frauen mehr Freizeit. „Aber im Sommer müssen wir das Geld für diese Zeit mit verdienen“, erklärt Tatjana „und die Winter sind lang in Russland.“ Ihre Mutter arbeitet am Kwaswagen auf dem Krasnaja Ploschad. Jeden Mittag kommt sie an den Wlassjaw Torturm und bringt der Tochter etwas zu essen vorbei.
„Ach, da bist du ja schon“, begrüßt Tatjana ihre Mutter, die unversehens dazu gestoßen ist. Eine kleine Unterhaltung entspinnt sich. „Du flirtest schon wieder“, gibt die Mutter zurück. Tatjana stammelt ein paar Worte der Entschuldigung. „Na, lass mal”, bremst ihre Mutter und wendet sich mir mit einem alten russischen Sprichwort zu: „In der Jugend waren die Zucker süßer und die Mädchen schöner.“
„Möchten Sie etwas mitessen“, fragt mich Tatjana. Dankbar lehne ich ab. Wenig haben diese Menschen, denke ich und trotzdem teilen sie. Ihnen ist es sogar unangenehm, vor mir zu essen. „Ich nehme gern noch einen Becher Kwas“, sage ich.
Vielen Menschen bereiten die marktwirtschaftlichen Gegebenheiten Probleme. Und tatsächlich geht es vielen Russen heute schlechter als zu Sowjetzeiten. Man kannte keine Arbeitslosigkeit. Der Lohn wurde pünktlich gezahlt. Und das Urlaubsgeld reichte für eine dreiwöchige Reise ans Schwarze Meer. Kurzum, das Geld genügte für das tägliche Leben. Dabei kommt Tatjanas Mutter ins Schwärmen. „Du immer mit deiner Sowjetunion“, unterbricht sie die Tochter. Und die Mutter kontert wie so oft: „Da war eben vieles besser.“ Tatjana sieht das anders: „Wir leben heute. Mit deiner Sowjetunion kann ich wenig anfangen.“ Und wieder hat die Mutter ein Argument, warum es damals einfach besser war: „Ja, heute frisst die Miete zwei Drittel der Monatseinnahmen.“
Tatjanas Mutter ging die Entwicklung in Russland zu rasant. Der sich ausbreitende Kapitalismus verderbe die Jugend und lasse die Ansprüche vieler Menschen hochschnellen. Allmählich sieht sie die russische Seele dahinschwinden. Ganz Unrecht hat sie damit vermutlich nicht. „Die Jugend denkt nur noch an Konsum“, erklärt sie sehr bestimmt. „Mutter, du hast wohl die Inflation von 1998 vergessen“, fällt ihr Tatjana ins Wort: „Gespart hast du. Und was hattest du davon? Nichts.“
Seit geraumer Zeit haben die beiden neue Sorgen. Die russische Presse bestätigte Gerüchte, der amerikanische Konzern Coca Cola wolle den russischen Markt mittels eines neuen Kwasproduktes beglücken. Hierzu will der Konzern in zwei russischen Fabriken, in Twer und Pensa, den beliebten Trunk brauen lassen. Schließlich war Kwas in den vergangenen zwei Jahren das Erfrischungsgetränk mit der steilsten Wachstumskurve. „Mit großen Werbekampagnen wird Coca Cola den Markt neu beleben“, bekräftigt Tatjana: „dies wird sicher auch unserem Geschäft gut tun.“
Die Mutter lächelt und fragt den Herrn, dem sie gerade einen Becher Kwas abfüllt: „Was meinen Sie dazu?“ Die Antwort ist eindeutig: „Ich brauche keinen amerikanischen Kwas.“ Tatjana wirft ein: „Die Leute werden sich daran gewöhnen“. „Ja, das könnte sein, sie gewöhnen sich daran, wie der Schluck aus den Flaschen im Supermarkt schmeckt“, sagt der Herr. „Und irgendwann werden wir Russen nicht mehr wissen, wie richtiger Kwas geschmeckt hat“, fügt die Mutter hinzu.
Da kommt Kolja von seinem Besorgungsgang zurück und meint zu mir: „Was ist jetzt mit dem Igorlied und den Ikonen?“ „Hast du alles bekommen?“, frage ich zurück. Er lacht: „Und du?“
„Da, 50 Rubel in Kwas angelegt.“ – Solange es den echten noch gibt.
*
Von Jan Balster ist erschienen: „Zu Fuß von Dresden nach Dublin“, Verlag am Park / edition ost, (Eulenspiegel Verlagsgruppe), Berlin, ISBN-13: 978-3-89793-124-4, 14,90 Euro. Außerdem ist Jan Balster Co-Autor zu den Themen: Reisen nach Osteuropa, Russland und Zentralasien im Selbstreise-Handbuch - Peter Meyer Reisebuchverlag - 4.Auflage - ISBN: 3-89859-5005 - 16,95 Euro. Kontakt zum Autor: www.auf-weltreise.de.
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