„Liebliche Weide“CHINA

„Liebliche Weide“

„Liebliche Weide“

Die Großstadt Urumqi im Nordwesten Chinas liegt inmitten malerischer Naturschönheiten. Mit seinem Geländewagen hat sich Andreas Gruschke der Stadt langsam angenähert – durch die Sandweiten der Dsungarei-Wüste und das Hochgebirge des Bogdo Ola.

Von Andreas Gruschke

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Skyline der Innenstadt von Urumqi. Mit weit über einer Million Einwohnern zählt die zentralasiatische Metropole nach europäischen Maßstäben zu den Großstädten der Volksrepublik China.  

EM – Könnte es sein, daß eine Stadt nur deshalb uninteressant ist, weil keiner sie kennt? Mit über einer Million Einwohnern zählt Urumqi (sprich: Urumtschi) nach unseren Maßstäben zu den Großstädten. Gleichwohl ist die zentralasiatische Metropole, deren wohlklingender mongolischer Name soviel besagt wie „Liebliche Weide“, kaum jemandem in Deutschland geläufig...

Gerade noch jagte unser japanischer Geländewagen einsam über die neugebaute Wüstenautobahn, vorbei an einem Meer von sich gleichmäßig drehenden Windrotoren. Wie weiße, mit ihren Armen fuchtelnde Riesen bevölkern sie die flache Steppe unweit der chinesischen Grenze mit Kasachstan und der Mongolei. „Wo kann in dieser Wüstenei so viel Strom gebraucht werden?“ fragt man sich bei dem Anblick unwillkürlich. „Hier lebt ja kaum jemand!“

Im Herzen Chinesisch-Turkestans

Schon bald jedoch tauchen am Horizont die ersten Fabrikschornsteine auf, schließlich sogar Hochhäuser. Gerade noch war die mehrspurige Schnellstraße fast autofrei, fahren wir, kaum taucht eine Gruppe von Wolkenkratzern aus dem am Fuß der Berge wabernden Dunst auf, mitten in einen Stau hinein. Er wäre dem Verkehrschaos jeder mitteleuropäischen Stadt am verkaufswütigen Samstag in nichts nachgestanden. Hier, im Herzen des von Wüsten und Steppen geprägten Chinesisch-Turkestan, hatten wir so etwas nicht erwartet. Schnell sind die ausgedehnten Geröllwüsten unterhalb des schneebedeckten Himmelsgebirges vergessen. In einem weitläufigen Tal vor uns, türmen sich auf einmal große Mengen streichholzschachtelförmiger Wohnbauten auf. Karge Weidelandschaften weichen Äckern, den in der Kehle kratzende Staub, den in alle Winkel kriechenden Sand lassen wir hinter uns.

Eine Eisenbahnlinie windet sich wie eine in der Sonne glitzernde Schlange in das Häusermeer hinein. Auf ihr schnaubt eine Dampflokomotive und schleppt im Schneckentempo einen schier nicht enden wollenden Güterzug.

Es geht also immer noch bergauf. Rund 900 Meter hoch liegt Urumqi, fast einen Kilometer oberhalb der berühmten Turfan-Oase, von wo wir losgefahren sind. Knapp 3000 Kilometer vom Meer entfernt, reicht die Oase an ihrer tiefsten Stelle 154 Meter weit unter den Meeresspiegel hinab. Im Sommer verwandelt sich die Senke dann in einen Glutofen, während auf den Gipfeln des Bogdo Ola, den höchsten Bergen um Urumqi, Schnee und Eis liegen.

Der Stau hat sich erstaunlich schnell aufgelöst. Verursacht hat ihn die Zahlstelle, an der für die Autobahnbenutzung kassiert wird. In flotter Fahrt tauchen wir nun in ein Meer von Hochhäusern ein, die wir in Deutschland allenfalls aus Frankfurt/Main kennen und die eher an Amerika erinnert als an eine orientalische Stadt mitten in Zentralasien. Dann stürzen wir uns ins Autogewimmel der Innenstadt – zähflüssiger Verkehr mit zeitweise völligem Stillstand ist hier auch ohne Mautstationen die Regel. Während Taxis und Pkws die Straßen verstopfen, bohrt sich mancher Lastwagenfahrer im Stau gelangweilt in der Nase, ja fast ertappt man sich selbst dabei. Filigrane Eisengitter ragen aus der Straßenmitte auf, damit nicht abgebogen wird, wo nicht abgebogen werden soll, oder gemütlich einher stolzierende Fußgänger die Fahrspuren an jeder passenden und unpassenden Stelle überqueren.

Schwarzes Haar, rote Lippen

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Blick vom Sheraton Hotel auf „downtown“ Urumqi, das Geschäftsviertel  

Eine Vielfalt von knalligen Farben, betäubenden Geräuschen und anderen kunterbunten Eindrücken stürzt auf den Neuankömmling ein. Taxifahrerinnen, die ihre japanischen Flitzer geschickt durch die kleinste Lücke steuern. Junge Frauen auf sauber blitzenden Motorrädern, mit rot geschminkten Lippen und unter dem Sturzhelm hervorwehenden schwarzen Haar. Straßenkehrer, die sich Mühe geben, bei klarem Wetter genug Staub aufzuwirbeln, um den die Stadt um über 4000 Meter überragenden Bogdo Ola-Gebirgszug zu verhüllen. Dennoch die Straßen sind in Urumqi trotz Wüstenstaub sauber. Auch die Luft ist erstaunlich sauber, die Industrieschornsteine tun dem keinen Abbruch. Durch die vielen Bäume, deren Blätterkleid sich im Herbst gelb einfärbt, wird die Atmosphäre noch anheimelnder.

Auf den Gehsteigen flanieren Passanten verschiedenster Nationen und Völker. Türkische und chinesische, aber auch europäisch wirkende Gesichter sind hier zu sehen. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist die dunkle Sonnenbrille auf der Nase. Sie wird niemals abgenommen. Auch nicht im Schatten oder nach dem man ein Gebäude betreten hat. Jedenfalls bleibt man auf diese Weise cool, selbst wenn die Sonne das Thermometer nach oben treibt.

Lebhaft geht es zu auf Urumqis Straßen. Han-Chinesen, die in Anzug und Krawatte ebenso bedeutend wirken wollen wie die Manager florierender, aber immer an Standortnachteilen leiden wollenden deutschen Unternehmen. Adrette Frauen im Minirock und wohlbeleibte türkische Mammis gehen ihren Einkäufen nach. An glitzernden Geschäftsfassaden vorbei, tragen ältere Chinesinnen wie in vergangenen Jahrzehnten Fleisch und Gemüse, das sie auf dem Markt eingekauft haben. Mit ihren Netzen und offenen Taschen eilen sie nach Hause in ihre Streichholzschachtelwohnungen. Von Außen sieht man nur ihre Balkone, samt und sonders wie ein Wintergarten verglast, und mit allem nötigen und unnötigen Hausrat vollgestellt.

Wenngleich die Umgebung von Urumqi überwiegend türkisch-uigurisch geprägt ist, stellen die Chinesen eindeutig die Mehrheit der Stadtbewohner. Und das ist durchaus nicht erst eine Erscheinung der Moderne. Urumqi, ist aus dem chinesischen Dihua hervorgegangen, das vor über zwei Jahrhunderten zur Hauptstadt der Vielvölkerregion Xinjiang, „Neue Grenzmark“, gemacht wurde. Ihren heutigen mongolisch-türkischen Namen erhielt die Stadt erst 1954, also fünf Jahre nach Gründung der Volksrepublik China. Er soll die Verbundenheit des Landes mit der türkisch-mongolisch-kasachischen Umgebung symbolisieren. Das Stadtgebiet umfaßt 11.440 Quadratkilometer, das ist beinahe die Fläche des gesamten ehemaligen Großherzogtums Baden.

Pastaspezialitäten der Hui

Von den rund eineinhalb Millionen Menschen, die in Urumqi leben sind rund drei Viertel Angehörige der Han - also jenes Volkes, das wir schlicht als „die Chinesen“ bezeichnen. Vom Typ her sind ihnen die Hui sehr ähnlich - chinesische Muslime, die keine eigene Sprache mehr sprechen, dafür einen sehr herb klingenden chinesischen Dialekt. Ihre Ursprünge gehen auf die Uiguren des chinesischen Mittelalters zurück. In Urumqi machen sie neun Prozent der Bevölkerung aus und betreiben viele der köstlichen Nudelrestaurants, in denen wir Fremden immer wieder fasziniert das kunstvolle Schleudern und Herumwirbeln des Nudelteigs beobachten. Beim Essen träumt man davon, einen solchen Hui mit zu uns nach Deutschland zu entführen, damit wir auch daheim die Gelegenheit haben, zu so köstlichen Nudelgerichten zu kommen. Die heutigen Uiguren, die mehr den uns geläufigen Türken als dem gleichnamigen historischen Volk verwandt sind, bilden mit 12 Prozent die zweitstärkste Bevölkerungsgruppe in der turkestanischen Metropole. Darüber hinaus gibt es Kasachen und Mandschus, außerdem wenige Mongolen, Xibo, Usbeken und sogar hier aufgewachsene Russen. Spuren der Geschichte als Drehscheibe auf den zentralasiatischen Handelsstraßen.

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Auch in Urumqi, Hauptstadt der muslimisch geprägten autonomen Region Xinjiang, werden auf großen Plakaten die drei „Konstrukteure des neuen Chinas“ gepriesen: Mao Zedong, Deng Xiaoping und Jiang Zemin.  

Das alte Dihua war ursprünglich nur eine große Ansammlung von schäbigen Lehmhütten und Garnisonen, mehr an ein zu groß geratenes Dorf als an eine Stadt erinnernd. Was sich dann aus der bis in die 1940er Jahre lediglich 80.000 Menschen beherbergenden Stadt entwickelte, war zunächst ein „sozialistisches Arbeiterparadies“ mit grau und gelb rauchenden Schloten zwischen Plattenbauten und tristen Avenuen. Rußwolken verstellten den Blick auf die umliegende Bergwelt, heute ragen hier Wolkenkratzer aus dem Grün der Steppe.

Seit der wirtschaftlichen Liberalisierung Chinas und vor allem der rasch voranschreitenden Erschließung von Xinjiangs Bodenschätzen, unter denen Kohle und Erdöl an erster Stelle zu nennen sind, hat sich aus der grauen Maus ein - für zentralasiatische Verhältnisse - buntgefiederter Phoenix entwickelt. Kreisförmig angelegte Fußgängerüberführungen thronen inmitten einer bunten Geschäftswelt über zentralen Straßenkreuzungen und lassen die Menschenmassen sich in die Straßen und Gassen ergießen. Geschäfte, so weit das Auge reicht. Darin wird Mode feilgeboten, wie sie in allen Großstädten der Welt anzutreffen ist. In Schaufenstern locken Mobiltelefone, Piepser und andere Elektronik zum Kauf. Werbeplakate unterbrechen die Sicht auf die Ladenzeilen, hinter denen sich ein kleines Restaurant ans andere reiht. Nobelkaufhäuser und kleine Boutiquen folgen. Und immer wieder ein, wie wir sagen würden, Tante Emma-Lädchen, wo sich der handy-bewehrte Geschäftsmann wichtigtuerisch ein paar Zigaretten kauft und der durstige Tourist eine Flasche Xinjiang-Bier ersteht. Süßigkeiten, Schnaps und Zigaretten, Kekse und Knabberzeugs - davon quillen diese Buden über.

Chinesisch-türkische Stadtarchitektur

Die Hochhäuser in der Innenstadt von Urumqi erinnern nicht nur an amerikanische Skylines. Das Stadtzentrum hat durchaus sein eigenes chinesisch-türkisches Mischgepräge. Zwischen kuppelbekrönten Moscheen und Bauten, die geschwungene chinesische Dächer tragen, ragen moderne Büro- und Bankgebäude auf, die einheimische Stile integrieren, aber auch westlicher Avantgarde Konkurrenz zu machen versuchen. Mitten zwischen Hotels und Kaufhäusern ragt gar ein Klotz auf. Er sieht aus wie ein überdimensionaler Roboter, der sich anschickt, gleich loszumarschieren. An anderen Dingen merkt man jedoch schnell, daß man nicht im Westen, sondern im Reich der Mitte und im in die Moderne katapultierten Zentralasien ist. Wo sonst könnte man noch Hotels finden, die so denkwürdige Namen tragen wie „Gästehaus Neulanderschließung“ oder „Erdölprodukte-Hotel“? Oder die breiten Straßen, auf denen schon eine relativ kleine Zahl von Taxis, Bussen, Limousinen, Fahr- und Motorrädern, Fußgängern und sonstigen Verkehrshindernissen ein herrlich chaotisches Ambiente erzeugen? Mit Frauen in Stöckelschuhen oder auf Plateausohlen schwankend, im Minirock oder in wallenden türkischen Gewändern, Männer mit Reiterstiefeln und Lodenmantel, mit Uigurenkäppi und finsterer Sonnenbrille – und das alles sowohl in den Straßenschluchten der modernen Großstadt wie auch auf kleinen orientalischen Märkten.

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Das Massiv des Bogdo Ola (5445m) 

Im Sommer, wenn es in Urumqi bis zu 40 Grad heiß wird, tauchen am Horizont, über den Spitzen der unzähligen Hochhäuser, über den mit grünen Parkanlagen durchsetzten Komplexen aus grauen Wohnklötzen und Industrieanlagen, in klaren Linien schneebedeckte Berggipfel auf. Der Bogdo Fen ragt 5.445 Meter hoch auf, seine Gletscher sind es, die das Wasser für die „Liebliche Weide“ liefern. Urumqi - eine Stadt, die wirkt wie ein Moloch, wenn man sie aus den angrenzenden Wüsten- und Gebirgslandschaften betritt. Aber es ist eine Großstadt wie keine zweite in Zentralasien, die die Annehmlichkeiten einer Metropole mit den Schönheiten der Natur verbindet.

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