Medwedjew schnallt den „Zeitgürtel“ engerRUSSLAND

Medwedjew schnallt den „Zeitgürtel“ enger

Der russische Präsident fordert Reformen in einem Ausmaß, vor denen die einstigen Reformen Peters des Großen wie ein sanfter Rempler anmuten würden. Russlands Zeitzonen-Wirrwarr dient ihm dabei als sichtbares Symptom für Entwicklungsrückstände.

Von Wolf Oschlies

U nvergesslicher Silvester 1974. Wir, eine fröhliche deutsch-russische Truppe, saßen in einer tief verschneiten Datscha nördlich von Leningrad und harrten der Drinks, die der Tag uns noch bringen sollte. Punkt 13 Uhr unserer deutschen Zeit meldete sich das Radio: „Soeben hat auf Kamtschatka das neue Jahr begonnen: Alles Gute zum neuen Jahr, liebe Genossen, auf ein neues Glück!“
 
Klar, dass wir einen auf das Glück der Genossen von Kamtschatka hoben. Zu unserer Rettung konnten wir so nicht fortfahren, also mit Etappensaufen das neue Jahr auf seinem Weg über Russlands elf Zeitzonen – russisch „tschasovyj pojas“, d.h. „Zeitgürtel“ – zu begleiten. Es wäre auch nicht möglich gewesen, denn die genaue Dislozierung der elf Zeitzonen vermittelt den Eindruck, irgendwer habe sie wie Würfel aus dem Knobelbecher über die Weiten von Mütterchen Russland gestreut.
 
Sollen Zeitzonen einen Sinn haben, dann müssen sie der maximalen Ausdehnung eines Riesenlandes folgen, im Regelfall also der West-Ost-Richtung. Im Prinzip ist das auch in Russland der Fall, wo sich die Zeitzonen vom westlichen Kaliningrad (früher Königsberg und meine Geburtsstadt) bis zum fernöstlichen Kamtschatka auffädeln. Neben, über und unter diesen Zonen gibt es weitere in Nord-Süd-Anordnung, die wenig sinnvoll, aber unfreiwillig komisch wirken. So überlappt sich die Kamtschatka-Zeitzone mit den Zonen von Magadan und Wladiwostok, die Jakutische Zone grenzt im Süden an die Zone von Irkutsk.

Die Zone von Krasnojarsk hat eine endlose Nord-Süd-Ausdehnung, die von Ekaterinburg zieht sich in eurasischer Endlosigkeit von Ost nach West, dennoch sind beide Großregionen jeweils nur eine Zeitzone, zwischen die sich im Süden jedoch die Omsker Zone schiebt. Völlig grotesk ist Russlands Westen, der zum größten Teil vom Gebiet Moskau samt gleichnamiger Zeitzone eingenommen wird. Klitzeklein im Süden liegt die Samara-Zeitzone, deren Geltungsbereich ganze 466 Quadratkilometer misst, und ganz im Westen trifft man die „Enklave Kaliningrad“, die natürlich eine Exklave ist, da sie sich außerhalb russischer Grenzen befindet. Mit 15.125 Quadratkilometern ist sie unwesentlich kleiner als Thüringen, bildet aber eine eigene Zeitzone.

Auch mit weniger Zeitzonen wird Russland nicht kleiner

Wer sich den russischen Zeitzonen-Wirrwarr anschaut und sich ein Bild von dem Chaos macht, das diese elf Zeitzonen in jede Zeitplanung bringen müssen, der versteht, was Präsident Dmitrij  Medwedjew meinte, als er am 12. November 2009 der Föderalversammlung seine Botschaft an die Nation vorlegte und darin ausführte:
„Russland, das sich über elf Zeitgürtel erstreckt, ist aufgerufen, zum wichtigsten Glied der globalen Informations-Infrastruktur zu werden. Bei dieser Gelegenheit etwas über die Zeitzonen. Wir sind traditionell daran gewöhnt, auf ihre Anzahl stolz zu sein, weil diese uns als klare Illustration der Größe unserer Heimat erschien. Genau so ist es. Aber haben wir irgendwann einmal ernsthaft darüber nachgedacht, inwieweit eine so übertriebene Aufteilung der effektiven Verwaltung unseres Landes hilft und ob sie nicht zum Einsatz überteuerter Technologien zwingt. Beispiele anderer Länder - Vereinigte Staaten von Amerika und China -  zeigen, dass man auch mit kleineren Zeitunterschieden auskommt“.

Natürlich wissen Medwedjew und andere, dass die Zeitzonen zwar wichtig sind, aber keineswegs das zentrale Element russischer Entwicklung und Zukunft. Bereits Anfang September 2009 hatte der Präsident in einem offenen Brief kritisiert, dass Russland von „primitiver Rohstoffwirtschaft“ lebe, von „veralteten Gewohnheiten“ behindert werde und wegen „chronischer Korruption“ nicht gesunden könne. In seiner Botschaft vom 12. November nun hat Medwedjew seine Diagnose wiederholt und ihr Therapievorschläge angefügt. Das alles ergibt zusammen ein Reformkonzept, dem man aufrichtig wünschen möchte, dass es wenigstens zu größeren Teilen erfüllt würde. Dann bekäme Russland einen Modernisierungsstoß, gegen den die Reformen Peters des Großen wie ein sanfter Rempler anmuteten.

In diesem Zusammenhang spielen die Zeitzonen nur eine geringe Rolle, zumal der Präsident längst Angst vor der eigenen Courage zu spüren scheint: Man müsse „alle Folgen genau berechnen“, sagte er, und darüber können Fachleute nur lachen: Die Verringerung der Zeitzonen bringt wirtschaftliche Vorteile und biologisch keine Nachteile, bekunden einmütig Ökonomen, Soziologen, Spezialisten für Biorhythmus und andere. Einige wurden von russischen Blättern namentlich zitiert, andere zogen es vor, anonym zu bleiben. Man kann sie verstehen, denn russische Zeitbräuche haben ihre eigene Mystik, die dem Uhrzeiger nicht immer und nicht unbedingt folgen.

Russen haben die Zeit behandelt wie US-Milliardäre ihr Geld

„Budjet“ (es wird sein), sagt der Russe, wenn er etwas auf unbestimmte Zeit verschiebt, wie ihm auch „sejtschas“ (gleich, sofort) eher als freundliche Ausrede denn als exakte Zeitbestimmung dienen. Den zeitlichen Wildwuchs, der zu Sowjetzeiten auf Bahnhöfen und Flughäfen herrschte, haben ungezählte Korrespondenten und Reiseschriftsteller beschrieben: Pünktlich lief sowieso nichts, die Länge von Verspätungen wurde wie ein Staatsgeheimnis behandelt, also hieß es für Reisende, immer gegenwärtig und reisefertig zu sein. Da die Wartezeit Stunden, ja Tage betragen konnte, haben die Reisenden das berühmte Appell-Verfahren entwickelt, das jeder Russlandkenner miterlebt hat. Einer hält Wache, zwei oder drei sind Verbindungsoffiziere, der Rest füllt die Wartezeit mit sinnvollen Erledigungen. Sollte die Reise losgehen, müssen Wachthabender und Läufer die anderen zusammentreiben. Steht der Reisebeginn noch in den Sternen, wird alle vier, fünf Stunden ein Appell anberaumt, ob alle noch da sind und sich kein fremder Abstauber eingeschlichen hat.

Das hat sich inzwischen gebessert, aber im russischen Unterbewusstsein lebt noch der klassische Umgang mit Zeit. Russen haben die Zeit behandelt wie US-Milliardäre ihr Geld: Wer’s hat, redet nicht davon. Bekanntlich hat 1582 Papst Gregor XIII. den nach ihm benannten Kalender eingeführt, der die Unstimmigkeiten des altehrwürdigen Julianischen Kalenders aus dem Jahre 45 v. Chr. korrigierte. Natürlich dauerte es lange Zeit, bis sich der Gregorianische Kalender allgemein durchsetzte, aber dafür ist seine Haltbarkeit bis zur Gegenwart ungeschmälert. Ein Kuriosum waren nur die Russen, die sich bis zum Beginn ihrer Neuzeit der oströmischen Zählung seit dem Jahr 5501 v. Chr., dem Jahr der „Erschaffung der Welt“, bedienten.

Bis 1918 Zählung der Jahre nach „altem Stil“

Dann befahl Peter der Große im Jahre 7208, also 1699, dass ab dem folgenden 1. Januar auf den Julianischen Kalender übergeschwenkt würde. Der hinkte hinter dem Gregorianischen bereits elf Tage zurück, was die Russen nicht störte. Bis 1918 haben sie die Jahre nach „altem Stil“ gezählt, und in meiner Studienzeit war es eine beliebte Prüfungsfrage, gewisse Daten umzurechnen. Dafür gab es komplizierte Formeln - oder primitive Faustregeln, derer wir uns bedienten und damit auch immer hinkamen.

Völlig ablehnend verhielten sich die Russen, vor allem ihre Orthodoxe Kirche, gegenüber den Zeitzonen, auf die man sich international 1884 geeinigt hatte: 24 Zeitzonen über die ganze Erde, jede umfasst einen Streifen von 15 Längengraden, der Zeitunterschied beträgt eine Stunde. So etwas lehnte die Kirche als „Verstoß gegen die heilige Eigenart Russlands“ ab, aber das war infantil. Die „Eigenart“ Russlands lag darin, dass es aus kleinsten Anfängen westlich von Ural und Wolga entstanden war, und dass auf seinem ursprünglichen Miniterritorium eine Zeitangabe, mittags per Sonnenuhr ermittelt, hinreichte.

Die spätere Ausweitung Russlands verlief so schnell, dass man sich um Randfragen wie regionale Zeitzonen nicht kümmern konnte und wollte. Wenn sie sich dennoch einbürgerten, dann sozusagen als Duftmarken von Machtrevieren: Jedes „Gouvernement“ (oder wie die territorialen Untergliederungen sonst hießen) hatte sein Zentrum, dessen Zeit für alle Regionsteile verbindlich war. Und was die früheren „Gouvernements“ begründeten, sollten heutige „Föderationssubjekte“ nicht einfach abschaffen.

Einheitlichkeit mit der ganzen zivilisierten Welt

Am 8. Februar 1918 beschloss der „Rat der Volkskommissare“, also die bolschewistische Regierung, die Einführung von Zeitzonen „zwecks Herstellung der Einheitlichkeit mit der ganzen zivilisierten Welt hinsichtlich der Zeitmessung im 24-Stunden-Verlauf“. Das klang vernünftig, war es auch, zumindest im Vergleich zu den Kaptriolen, die sich die Sowjetmacht sonst noch in Sachen Zeitmessung erlaubte.

Da war z.B. die „Dekretzeit“, die 1930 verordnet wurde und die die 1917 eingeführte Sommerzeit – Vorstellen der Uhren um eine Stunde, um die Tageshelle besser nutzen zu können – nochmals um eine Stunde verlängerte. Die Dekretzeit wurde eingeführt und abgeschafft, alles regional unterschiedlich, sie kollidierte mit der Sommerzeit oder potenzierte diese, und der Effekt beider war kaum vorhanden: Zwar wurden Milliarden Kilowattstunden eingespart, aber die Einsparung machte nur (umgerechnet) 1,70 Euro pro Russe und Jahr aus. Das war gar nichts, gemessen an den Schlaf- und biorhythmischen Störungen, die die Russen heimsuchten.

Noch verrückter war der „Sowjetische Revolutionskalender“, der von Ende 1929 bis 1940 galt und die bisherige Sieben-Tage-Woche durch eine ununterbrochene fünftägige Arbeitswoche ersetzte. Alle Arbeitnehmer waren in fünf Gruppen eingeteilt, von denen jede ihre Arbeits- und Ruhezeit hatte (plus ein paar überzählige arbeitsfreie Tage). Dadurch verschwand der christliche Sonntag und an jedem Tag des Jahres waren 80 Prozent der Werkbelegschaft am Arbeitsplatz. In der Realität war das alles nicht so reibungslos, vielmehr ruhten die Arbeiter am offiziellen Ruhetag und am abgeschafften Sonntag, und zwar so massenhaft, dass man 1940 den „Revolutionskalender“ wieder tilgte.

1945 war Berlin auf sowjetische Kommandozentralen ausgerichtet

Aber der Gipfel kam mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In Berlin liefen, so der Befehl Nr. 4 des Stadtkommandanten Nikolaj Bersarin, seit 20. Mai die Uhren nach „Moskauer Zeit“, waren also um zwei Stunden vorgestellt. Damit war Berlin auf sowjetische Kommandozentralen ausgerichtet, aber der Rest der Sowjetischen Besatzungszone war nur bedingt in zeitlichem Gleichklang mit Berlin. So bekundet es der Potsdamer Historiker Lutz Prieß:  „Ob alle Chefs der Militärverwaltungen der Länder bzw. Provinzen gleichlautende Befehle erließen, konnte bisher nicht vollständig nachgewiesen werden. Der Chef der Sowjetischen Militäradministration der Provinz Sachsen, später Sachsen-Anhalt, Generalmajor Kotikov, befahl zum Beispiel am 17. Juli 1945 die Einführung der Moskauer Zeit am 20. Juli 1945; diese Maßnahme hob er am 28. September 1945 wieder auf. Ebenso befahl der Chef der SMA Brandenburg am 28. September 1945 den Übergang zur Berliner Zeit. Ein vorhergehender Befehl zur Einführung der Moskauer Zeit in Brandenburg ist bisher nicht bekannt“.

Uhren wechseln den Besitzer und die Zeitzone

Die Berliner lebten nach deutscher Sommerzeit, was die Differenz zur Moskauer Zeit halbierte. Generell war Zeit ohne Belang: Schulen und Fabriken waren geschlossen, Züge und Bahnen fuhren, wenn überhaupt, nach unerforschlichen Zeiten. Hinzu kam die „Uri-Uri-Mentalität“ der russischen Soldaten, die sich als unersättliche Uhrendiebe erwiesen. Das ganze Chaos beschrieb Erich Kuby 1965 in seinem Buch „Die Russen in Berlin 1945“: „Wo die Sowjets hinkommen, wechseln die Uhren nicht nur den Besitzer, sondern sie werden auch auf Moskauer Zeit umgestellt. Somit sind die besetzten Stadtteile zwei Stunden früher dran als die noch nicht besetzten. In einigen Bezirken wird sogar die Ausgangssperre – zuerst von 18 bis 8 Uhr, dann von 22 bis 8 Uhr – nach Moskauer Zeit festgesetzt, was dazu führt, daß die dort wohnenden Berliner am helllichten Tag von den Straßen verschwinden müssen. Da fast alle Uhren von den Sowjets als Kriegsbeute kassiert wurden, lässt Bürgermeister Georg Schulze für die Zehlendorfer morgens um 8 Uhr die Glocken läuten, damit sie wissen, daß die Sperrzeit um ist“.

In Dresden lebte damals Viktor Klemperer, der große Analytiker der NS-Sprache, der in seinen Nachkriegs-Tagebüchern Klartext redete: „Wenn Berlin 20 Uhr sagt, ist es bei uns 19 Uhr und in Bremen 21 Uhr. Die Russen haben in Berlin Moskauer, in Dresden Sommerzeit“. Und ein paar Seiten weiter: „Seit gestern Abend  Moskauer Zeit: von 20 auf 21 Uhr gerückt. Die Russenzeit ist allzu sehr gegen die Natur, wir gehen zu spät schlafen dadurch – übrigens ist auch die Berliner Stunde des Musikfreundes von 24 bis 1 Uhr – und stehen zu spät und unausgeschlafen auf“.

Der größte Zeitwirrwarr aller Zeiten

Viktor Klemperer hat in seinen Tagebüchern unter dem 11. und 15. Juli 1945 notiert, in welche tragikomischen Szenen er selber durch diesen Wirrwarr nach einer Theateraufführung von „Nathan der Weise“ in Dresden kam: „Ich musste nach der Ringszene fort, um noch meine drei Tramstrecken nach Löbtau in Betrieb zu finden. Die Uhr! Man hatte um 18 Uhr beginnen wollen, und als ich gehetzt ankam, war es noch nicht 17 Uhr. Es war den Tag vorher in Dölzschen bekannt gegeben worden, dass von nun an Moskauer Zeit gelte. Ich kam neulich eine Stunde zu früh ins Theater, weil man die Moskauer Zeit schon allgemein eingeführt glaubte, während sie nur erst für die Reichsbahn eingeführt war“.

Acht Wochen hat die Moskauer Zeit in Berlin gegolten, mit dem Eintreffen der West-Alliierten war sie Mitte Juli 1945 vorbei. Dass man überhaupt auf eine solche Idee verfallen konnte, hatte wohl zwei Gründe. Zum einen mussten und wollten sich die sowjetischen Kommandeure bei jeder Kleinigkeit in Moskau rückversichern und da lag es nahe, Berliner und Moskauer Zeitusancen zu synchronisieren. Zum zweiten war es so, dass Moskauer Führer einen nachtaktiven Arbeitsrhythmus bevorzugten. Dieser wurde vor allem Stalin zugeschrieben, worüber Erich Weinert 1940 im Moskauer Exil sein Gedicht „Im Kreml brennt noch Licht“ verfasste. Aber Stalin hatte nur einen längst herausgebildeten Brauch übernommen. Geog Popoff, Starjournalist und viel gelesener Buchautor in den 1920er Jahren, hat verraten, warum die Sowjet-Chefs so gern die Nacht zum Arbeitstag machten – weil sie dann die Schwätzer, Bürokraten, Funktionäre und andere, die ihnen am Tag die Zeit stahlen, los waren!

Russische Eisenbahnen kennen nur eine Zeit

Im Übrigen gibt es bis heute einen aktiven Beweis für die Relativität russischer Zeitmessungen: Russische Eisenbahnen kennen keine Zeitzonen. Die berühmteste von ihnen, die Transsibirische Eisenbahn (Transib), durchquert auf ihrer 9.302 Kilometer langen Strecke die bekannten elf Zeitzonen. Bahnamtlich wird das ignoriert, denn alle Bahnhöfe zeigen „moskovskoe vremja“ – Moskauer Zeit, also etwa in Wladiwostok 6 Uhr morgens, auch wenn dort gerade die Nacht anbricht.

Den Russen ist das ziemlich egal; sie lieben die Zeit nicht, aber die Chronometer. Wer einmal in der DDR Russisch lernte, erinnert sich noch an Mamlakat Nachangova – eine Asiatin, die entdeckt hatte, dass man „Baumwolle mit zwei Händen pflücken kann“, und für diese umwerfende Entdeckung von Stalin mit einer goldenen Uhr beschenkt wurde. Nur Russen wissen die Größe des Geschenks zu würdigen: Orden hatten in Russland nie größere Bedeutung – es gab so viele, sie wurden so automatisch verliehen, dass z.B. Militäruniformen verstärkte Brustpartien hatten, weil diese ein, zwei Kilo Orden, Medaillen, Ehrenzeichen etc. halten mussten.

Viel begehrter aber waren die „wertvollen Geschenke“, nämlich Uhren, die als besondere Ehrung verabfolgt wurden. Mitte der 1930er Jahre hatte Stalins Sowjetunion in der Schweiz zwei Uhrenfabriken komplett aufgekauft. In Leningrad - früher und heute wieder Sankt Peterburg - wurden die Anlagen zum Fertigen der Uhren installiert. Die besten waren die „Komandirskie“ (Kommandeursuhren), die zeitweilig auch in Westeuropa ihre Fans hatten. Auf dem Zifferblatt zeigten sie einen roten Stern, darunter die russische Aufschrift „Spezialanfertigung des Verteidigungsministeriums der UdSSR“. Nach 1989 wurde Europa mit billigsten Raubkopien dieser Uhren überschwemmt, wobei unter Hunderten vielleicht ein Original war, das dann aber auch den doppelten Preis kostete.

Es geht gar nicht um Zeitzonen, sondern um ein modernes, zielbewusstes Russland

Aber lassen wir die russische Zeit und ihre Zonen! Sie bieten zwar endlosen Gesprächsstoff, sind aber nicht besonders wichtig. Präsident Medwedjew hat, wie einleitend erwähnt, gerügt, dass Russen traditionell stolz sind auf die vielen Zeitzonen, weil sie diese als „Illustration“ russischer Größe annehmen. Der Präsident scheint der Ansicht zuzuneigen, dass russische „Größe“ eher Massigkeit ist, die das ganze Land, seine Wirtschaft und Politik zu Immobilität verdammt. Russland ist so überdimensioniert, dass seine internen Reibungsverluste die Lebensqualität seiner Menschen und die Konkurrenzfähigkeit seiner Wirtschaft beeinträchtigen. Medwedjews 100-Minuten-Botschaft vom 12. November 2009 galt allein der Frage, wie die „archaische Gesellschaft“ der Russen in einem Land der „chronischen Rückständigkeit“ es schaffen kann, „Korruption“ und „Rohstoffexport“ als Haupteinnahmequellen zu überwinden und ein „echtes, modernes, zielbewusstes Russland“ zu bauen, das „in der internationalen Arbeitsteilung einen würdigen Platz einnimmt“. Dem heutigen Russland, das von Putin so sehr in Großmachts- und Siegerillusionen gewiegt wurde, den Spiegel so krass vorgehalten zu haben, ist eine Großtat des kleinen Präsidenten, der Russlands Zeitzonen vor allem als Symptom für Russlands Entwicklungsrückstände empfindet und interpretiert.

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