„Nachbar China“ von Helmut Schmidt im Gespräch mit Frank SierenGELESEN

„Nachbar China“ von Helmut Schmidt im Gespräch mit Frank Sieren

Die Volksrepublik China ist heute Mitglied des globalen Weltmarktes. Sie ist „Werkstatt der Welt“ und Wachstumslokomotive. Aber China ist auch rätselhaft – kommunistisch und kapitalistisch zugleich. Faszinierend, mit einer viel älteren kulturellen Tradition als das gesamte Abendland. Helmut Schmidt ist unter den deutschen Politikern der beste Chinakenner. Was er im Gespräch mit seinem Co-Autor Sieren über das Reich der Mitte erzählt, ist faszinierend, abgeklärt, unaufgeregt und lehrreich.

Von Eberhart Wagenknecht

„Nachbar China“, von Helmut Schmidt im Gespräch mit Frank Sieren  
„Nachbar China“, von Helmut Schmidt im Gespräch mit Frank Sieren  

E achbar China? Haben sich da der Altkanzler Helmut Schmidt und sein Interviewer Frank Sieren nicht gar zu weit vorgewagt. Nachbar, weil Eurasien zusammengerückt ist, seit der  Eiserne Vorhang nicht mehr trennt? Oder Nachbar, weil viele Werkbänke europäischer Unternehmen inzwischen bis nach China verlängert wurden?  

Nachbar China, das heißt für den Weltökonomen Schmidt, dass im globalen Wirtschaftsraum jeder jedermanns Nachbar ist - der eine etwas ferner, der andere näher. Und Nachbarn sollte man einfach besser kennen. Darauf kommt es Helmut Schmidt und seinem Co-Autor an. Sieren lebt seit zwölf Jahren als China Korrespondent der „Wirtschaftswoche“ in Peking. Der Londoner „Times“ zufolge ist er einer der führenden deutschen China-Spezialisten.

Für die Verfasser von „Nachbar China“ ist es ein Vorurteil, dass China an ökonomischen und sozialen Problemen in Westeuropa schuld sei: Der Altkanzler: „Der dem europäischen Publikum immer wieder erweckte Eindruck, weil China neuerdings Mitglied des globalen Weltmarkts geworden sei, gefährde es unsere Arbeitsplätze und unseren Wohlstand, ist falsch.“

Altkanzler Schmidt pflegt seit dreißig Jahren freundschaftliche Beziehungen zur Führungsriege in Peking

Aber China ist ein rätselhaftes Land. Das räumt auch Helmut Schmidt ein. Ein kommunistischer Staat, der die Marktwirtschaft entdeckt. Eine Wachstumslokomotive, die „zur Werkstatt der Welt“ wird. (Siehe auch unser zweites hier rezensiertes Asienbuch: „Der Tanz der Riesen von Karl Pilny).

Helmut Schmidt ist unter deutschen Politikern mit Sicherheit der beste Chinakenner. 1975 hatte er bei seinem ersten Staatsbesuch im Reich der Mitte als Bundeskanzler noch Mao Zedong persönlich kennen gelernt. Wenige Monate nach der blutigen Niederschlagung der Studentendemonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989, hat er den Gesprächsfaden mit China wieder aufgenommen, lange bevor andere die Ächtung Pekings beendeten. Helmut Schmidt traf sich damals mit dem Machthaber Deng Xiaoping zu einem privaten Gespräch.

Der Gedankenaustausch mit den Führern in China ist seither nicht abgerissen. Von Mao über Deng bis zum heutigen Staatspräsidenten Hu Jintao hat der deutsche Altkanzler dreißig Jahre lang einen engem Meinungsaustausch mit der Führungsriege in Peking gepflegt. Mit Hu Jintao verbindet ihn eine tiefe Freundschaft.

Demokratie und Wohlstand bedingen laut Helmut Schmidt einander nicht

Helmut Schmidt und sein Co-Autor sind ein interessantes Gespann, dessen Gespräch nicht ohne Widersprüche verläuft. Als Sieren die Meinung vertritt, dass ein stärkerer wirtschaftlicher Wohlstand geradezu zwangsläufig auch demokratische Entwicklungen mit sich bringen müsse, widerspricht Schmidt vehement: „Das halte ich für einen Wunschtraum. Sie können diesen schönen Satz auch umkehren und behaupten, es sei zwangsläufig, dass eine demokratische Staats- und Gesellschaftsentwicklung zu mehr Wohlstand führt. Auch da würde ich sagen - ein Wunschtraum.“

In China fehlten alle Voraussetzungen für eine Demokratie. Es gebe keinen demokratischen Traditionen in dem Riesenland. Nebenbei gesagt: so wenig wie bei seinem Nachbarn Russland. Man solle deshalb nicht versuchen die Chinesen zu belehren – zum Beispiel in Sachen Menschenrechte. Helmut Schmidt möchte mit seinem Buch dazu beitragen, dass „der leichtfertigen moralischen und politischen Besserwisserei der Boden entzogen wird“. Denn, so der elder Statesman: „Die Besserwisserei des Westens ist von Übel“.

Zum Beispiel auch in Sachen Kernenergie, wie er seinem Interviewpartner anvertraut. Die Chinesen wollten bekanntlich in Kürze 20 weitere Atomkraftwerke errichten, während sie hierzulande verboten würden. Für Helmut Schmidt „Grund genug darüber nachzudenken“, ob die Deutschen wirklich „die Schlauesten der Welt sind. Sie verzichten als einziger Großstaat der Welt darauf, Atomkraftwerke zu errichten. Diese populäre Welle der Antipathie gegen Kernkraftwerke, die ist sehr deutsch. Die gibt es in anderen Nationen nicht, nicht in Frankreich, nicht in Kanada, nicht in den USA.“

Über 300 Seiten Gespräch über das Riesenreich im Fernen Osten. Der Autor mahnt dabei immer wieder zum Respekt vor einer Kultur, die um vieles älter ist als alles, worauf wir Deutsche und Europäer uns so viel einbilden: „Chinas Schriftzeichen sind fast 3000 Jahre alt. Die Chinesen haben im ersten Jahrhundert nach Christus sogar schon den Kompass erfunden. Wir in Europa haben das über Jahrhunderte ignoriert – ein großer Fehler!“

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Rezension zu: „Nachbar China“, von Helmut Schmidt im Gespräch mit Frank Sieren, Econ Verlag Berlin, 2006, 325 Seiten mit Zeittafel und Personenregister, 22,00 Euro ISBN 3-430-30004-5

China Rezension

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