Nochmals zwölf Jahre?WLADIMIR PUTIN

Nochmals zwölf Jahre?

Zum Beginn der neuen Amtszeit des russischen Präsidenten – ein Blick auf Wunschvorstellungen und Realitäten im 21. nachsowjetischen Jahr Russlands

Von Wolf Oschlies

Am 7. Mai wurde Russlands alt-neuer Präsident in den Kreml gefahren, durchs Moskauer Zentrum, das zuvor eine unverkennbar nervöse Polizei menschenleer gefegt hatte. Erstmals wird das präsidiale Mandat sechs Jahre dauern – Grund genug, sich ein paar Gedanken dazu zu machen, was man  wohl von dem Mann, der gegenüber früher so gründlich verändert ist, in dieser Führungsposition zu erwarten hat. Nach Ansicht des Soziologen Wladimir Solovev ist sein Amt traditionell die einzige klar definierte Institution in Russland, egal ob sie von Zaren, Generalsekretären oder Präsidenten eingenommen wird.    

Der echte Putin

Im Internet ist der russische Film „Nastojascij Putin“ (Der echte P.) anzuschauen, eine gnadenlose Abrechnung mit Wladimir Putin. In ihrem Vorspann charakterisieren die Filmemacher ihn und sein Wirken so:

„Die letzten zwölf Jahre werden allgemein als Zeit der Stabilität bezeichnet. Die ganze Zeit über ist in unserem Land Wladimir Putin an der Macht. Zu welchem Preis haben wir diese Stabilität bekommen? Oder ist vielleicht nur ein Mythos? Die unvoreingenommene Statistik bezeugt, dass in Russland nicht alles so gut ist, wie es das Staatsfernsehen darstellen möchte. Die Mortalität steigt an. Die soziale Ungleichheit erlangt phantastische Ausmaße. Unter der unumschränkten Gewalt der Machtorgane stöhnen die einfachen Arbeiter und ihre Chefs, die Businessmen. Die Korruption hat Russland wie ein Krebsgeschwür zerfressen. Die Funktionäre demonstrieren hemmungslos ihrer Liebe zum schönen Leben – in Palast-Villen, mit Millionen-teueren Jachten, mit Armbanduhren, deren Preis dem Gegenwert von 208 Jahren mittlerer Pension entspricht. Russland ist die Führungsmacht hinsichtlich der Menge seiner Dollarmilliardäre, und deren Zahl wächst jedes Jahr weiter. Aber unter den Superreichen unseres Landes findet sich kein einziger, der sein Geld mit neuen Technologien verdient hätte.  Die neuen Russen – das sind die gestern noch völlig unbekannten Leute, die jetzt Supereinkommen durch Öl, Gas, Kohle, Metalle, Elektroenergie scheffeln. Ihre einzige Qualifikation ist, dass sie mit Wladimir Putin seit dessen Wirken im Stadtrat von Sankt Petersburg auf gutem Fuß stehen. Ist das der Preis der Stabilität? Soll das noch weitere zwölf Jahre so weitergehen? Schließlich nimmt Wladimir Putin Anlauf, sich erneut zum Präsidenten zu küren. Wird Russland das aushalten?“ 

Fazit: „Putin ist kein Garant von Demokratie und Freiheiten, er ist ein Garant des Bürgerkriegs“, der die Folge von versprochenen, aber nicht realisierten Reformen in Bildung, Gesundheitswesen, Rentenversicherung, Administration etc. sein könnte. Putins „Stabilität ist die Stabilität des Friedhofs“, da Russlands Bevölkerung so rapide abnimmt, dass man nach den Worten des Duma-Abgeordneten Vadim Solovev „keinen Kaukasus und keine USA als Feinde mehr braucht, weil wir von ganz allein aussterben“.

Putins Wirtschaftsdaten – Einkommen verdoppelt, Armut um das Zweieinhalbfache gesenkt – sind Nonsens, denn tatsächlich vertieft sich die soziale und regionale Differenzierung in ungeahnter Weise, so dass der Standard eines Wohlhabenden 17 Mal über dem eines Armen liegt. Vor zehn Jahren versprach Putin bessere Straßen in Russland, derzeit sind zwei Drittel aller russischen Straßen „unter jeder Norm“ und Russland steht hinsichtlich der Qualität seiner Fernstraßen auf dem 125. Platz der Welt. Spitzenreiter ist es nur als das (vermutlich) korrupteste Land der Welt, wobei der Geldwert der Korruption, der höchsten der russischen Geschichte,  alljährlich eine Summe von 300 Milliarden US-Dollar ausmacht. Eine „Armee“ von über drei Millionen Funktionären sind die Hauptbegünstigten der Korruption. Über ihnen rangieren nur noch die Auserwählten, denen Putin Staatseigentum per „Privatisierung“ überließ.

Putin und sein Statthalter

In Russland und im Ausland ist jedermann überzeugt, dass Putin und der bisherige Präsident Dmitrij Medwedjew Anfang Mai eine unverfrorene „Rochade“ vornahmen, als sie mal eben die Posten tauschten. So hatten sie es  seit 2008 geplant, da für eine dritte Amtszeit Putins die Verfassung hätte geändert werden müssen. In Russland diskutierte man, ob Medwedjew Putins „posledovatel“ (Nachfolger) oder „preemnik“ (Fortsetzer) wäre, inzwischen sieht es so aus, als sei er nur Putins „Pausenclown“ gewesen, aber fraglich bleibt, ob der ganzen Angelegenheit von Anfang an eine zynische Kalkulation zugrunde lag. Am 5. November 2008 bestritt das der Duma-Abgeordnete Viktor Iljuchin in einer Rundfunkdebatte nachdrücklich:

„Zwischen Medwedjew und Putin zeigen sich erste Widersprüche. Medwedjew ist augenscheinlich nicht erfreut über die dominierende Position von (der Putin-Partei) Einiges Russland. Er blieb parteilos, sucht jetzt Unterstützung und Förderung. Zumal der Öffentlichkeit das Gerede nicht nachlässt, dass Medwedjew nur gekommen ist, um zwei Jährchen abzusitzen und dann seinen Posten, wie es heißt, an Wladimir Putin zurückzugeben. Er hat uns noch heute zu verstehen gegeben, dass er für eine längere Zeit angetreten ist, und Spielchen in der Form eines Postenschachers wird es mit ihm nicht geben. Er hat ziemlich ausgeprägte Ambitionen“.

Was Medwedjew 2008 ausschloss, wurde am 8. Mai 2012 Realität. Putin, tags zuvor vereidigter Präsident, nominierte in der Duma Medwedjew als neuen Premier, der dann auch 299 Stimmen bekam, 73 mehr als nötig. Medwedjew hatte zweifellos die besten Absichten gehabt, aber nicht die Kraft, diese durchzusetzen. Waren sie überhaupt durchsetzbar? Als er am 2. März 2008 als neuer Präsident in den Kreml kam, verkündete er: „Freiheit ist besser als Unfreiheit. Russland wird ein blühendes, demokratisches Land werden – das Beste der Welt für die begabtesten, anspruchsvollsten, eigenständigsten und kritisch denkenden Bürger“.

Als der das sagte, lief bereits Putins Kampagne gegen „kritische Geister“, deren Gegenwehr bis zu den Massenprosten an der Jahreswende 2011/12 eskalierte. Und da war von Medwedjews „ambitioniertem“ Programm der „vier I“ schon nichts mehr zu spüren: Keine Entwicklung der Infrastruktur, keine Festigung demokratischer Institutionen, keine Anwerbung von Investitionen, keine Implementierung von Innovationen.

Russland, so Medwedjews Überzeugung, wird sich nicht ewig mit Öl- und Gasverkäufen finanzieren können, es muss immer größere Teile seiner ökonomischen Wertschöpfung durch intellektuelle Leistungen verdienen. Hat es dazu Ansätze unternommen?  

Medwedjew hatte nie eine Chance: Was nützte es, die Legislative durch Mandatsverlängerung gegenüber der Exekutive zu stärken, wenn in der russischen Gesellschaft ein lähmender „Rechtsnihilismus“ herrscht? Und was sollte Medwedjews groß angekündigte „Reservebank für Fachleute“, wenn Oligarchen und Bürokraten keine intellektuelle Konkurrenz aufkommen ließen und keine Innovationsschübe duldeten? Medwedjew resignierte bald davor, dass „die von der Menschheit formulierten Grundwerte schwer an russische Besonderheiten anzuwenden“ sind und übernahm Putin’sche Wunschträume als eigene Ziele: Russland werde im Jahre 2020 zu den „fünf führenden Wirtschaftsmächten“ gehören, sein BIP verdreifachen, seine Arbeitsproduktivität vervierfachen, über die Hälfte aller Beschäftigten mit höherer Fachbildung ausstatten etc.

Bereits in seiner Antrittsbotschaft am 5. November 2008 musste er indessen eingestehen, dass entgegen diesen Wünschen russische Realität von A bis Z „einfach erschreckend“ sei. Und diese Realität hat ihn am auch Ende überrollt: Im Frühjahr 2012 war Medwedjew kaum mehr als eine tragische Figur, an dessen „Leistungen“ die Medien höhnisch erinnerten: Zwar ein „Gesetz zum Kampf gegen die Korruption“, aber keine Aktion gegen „bezalabernost“ (Verkommenheit) der Beamten und Drahtzieher der Korruption; zwar Umbenennung der „Miliz“ in „Polizei“, aber keine Maßnahmen gegen uniformierte „Sadisten“ und brutale Ordnungshüter; zwar „Verbot des Alkoholgenusses am Steuer“, aber keine Strafbestimmungen usw.

Zuletzt musste er sich selber forträumen, wie auf Putins web-sites nachzulesen ist: „Am 24. September 2011 akzeptierte er (=Putin) blitzschnell den Vorschlag des dritten Präsidenten Russlands, Dmitrij A. Medwedjews, Kandidat der Regierungspartie Einiges Russland bei der Präsidentenwahl 2012 zu werden“. 

„Freigebiger“ Putin

Putin war gerade als alt-neuer Präsident ins Amt gekommen, da signierte er elf „Ukase“, die den Russen ein Schlaraffenland verhießen, von Experten aber als „(milde gesagt) schwer realisierbar“ bezeichnet wurden. Die Wochenzeitung „Argumenty i fakty“ (AiF), medialer Ombudsman der frustrierten russischen Gesellschaft, hat Putins Verheißungen aufgelistet, schön nach Branchen geordnet:

Die von AiF befragten Experten konnten dazu nur die Köpfe schütteln: Putins Ziele sind entweder unrealistisch oder illusorisch, in vielen Fällen einfach ignorant: Viele der verheißenen Ziele sind längst in Gesetzen verankert, nur leider werden diese Gesetze nicht eingehalten. Und im Moment sind ökonomische Versprechungen ohnehin vergeblich: Die griechische Schuldenkrise hat Öl- und Gaspreise sinken lassen, was Russland schmerzlich zu spüren bekommt, da es außer Öl, Gas und anderen Rohstoffen nur wenig hat, das den Weltmarkt reizen könnte. Früher machte es noch einigen Profit im Waffenhandel, aber der „arabische Frühling“ hat die besten Kunden wegbrechen lassen. Derzeit sind Internationaler Währungsfonds (IMF), Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und andere überzeugt, dass Russlands Wirtschaftswachstum 2012 unter 4 Prozent liegen wird, und das könnte sich noch als eine überoptimistische Prognose erweisen.

„Sieger“ Putin

Fedor Lukjanov, international angesehener Herausgeber von „Russland in der Globalpolitik“, der besten russischen  Fachzeitschrift für Außenpolitik, war am 5. Mai Gast in der Radiostation „Stimme Russlands“. Im Interview wurden ihm drei typisch „putinische“ Fragen vorgelegt, die die Weltferne der gegenwärtigen russischen Politkultur verrieten:

Ganz anders Putins Russland. Am 9. Mai 2012 ließ sich der „Genosse Oberkommandierende“, wie sein offizieller Titel lautet, auf der üblichen Feier und Parade zum Gedenken an „unseren großen Sieg“ recht selbstherrlich vernehmen:

„Eine strenge Beachtung internationaler Normen, die Respektierung staatlicher Souveränität und der eigenständigen Entscheidung jedes Volkes, das sind grundlegende Garantien dessen, dass sich die Tragöde des vergangenen Kriegs nie mehr wiederholt. Russland hat das große moralische Recht, prinzipiell und beharrlich auf seinen Position zu bestehen, weil gerade unser Land den Hauptschlag des Nazismus bekommen hat, ihn mit heroischem Widerstand zurückwies, durch schwerste Prüfungen ging, ganz allein den Ausgang dieses Kriegs bestimmte, den Feind zerschlug und den Völkern der ganzen Welt die Befreiung brachte“.

Dass Russland 1945 Teil der siegreichen Anti-Hitler-Koalition gewesen war, in der die USA die Hauptlast des Kampfs getragen hatten, wurde nach 1945 in Russland eher unterschlagen, aber Putins Alleinvertretungsanspruch auf den „Sieg Russlands“, zu feiern am 9. Mai dem „Tag des Kriegsheroismus Russlands“, ist von abenteuerlichem Hochmut.

Russische Märchenwelt

Solches Eigenlob ist typisch für Putin, der damit den unausweichlichen Verfall Russlands übertönen möchte. Laut Wladimir Pribylovskij, Ko-Autor des jüngsten Bestsellers „Korporation: Russland und das KGB unter Putin“, ist Putin nicht nur unfähig für rationale Reformpolitik, er ist sogar unfähig, die Notwendigkeit einer solchen Politik zu erkennen. Und „wenn ein Mensch zwölf Jahre lang keine einzige Reform eingeleitet hat, warum sollte er es jetzt tun?“ Nicht einmal eine „neue Wirtschaftskrise“ könnte seine reformfeindliche Intransigenz auflockern.

So starr waren zu Sowjetzeiten die damaligen Führer, die wegen ihrer Unfähigkeit und Erfolglosigkeit zu besonderen Mitteln der allgemeinen Beschwichtigung griffen, wobei sie dem Gros der Russen entgegenkamen. So behauptet es der kluge Vjaceslav Kostikov, Ex-Pressechef Präsident Elcins und Ex-Botschafter Russlands im Vatikan. Russen verdrängen gern unangenehme Wahrheiten und folgen den Politikern, die allgemeine Not hinter Phrasen von „russischer Größe“ verstecken: Russlands „große Eroberungen, großes Territorium, große Kultur, Großbauten des Kommunismus“, „wir werden Amerika überholen und die Völker Asiens, Afrikas und Latein-Amerikas unter unserem Banner vereinen“. Wenn wir das nicht schaffen, dann tun wir so, als hätten wir es geschafft, denn anders geht es in Russland nicht: „Wir sind an erlogene Größe gewöhnt, es hat bei uns viele Verbrecher gegeben, die unser großes Land in ein großes Konzentrationslager namens GULAG verwandelt haben“. „Unsere Führer konnten sich nur mit einem nicht brüsten, dass der russische Mensch gut und frei leben könne, und um nicht verrückt zu werden, war der russische Mensch gezwungen, seine Befriedigung in Märchen von Wundern, von guten Herrschern, von idealen Staaten und großen Missionen zu suchen“.

Am 25. April 2005 bezeichnet Putin vor Duma-Abgeordneten den Zerfall der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Diese Aussage wird ihm in ihrer haarsträubenden Idiotie im Ausland immer noch um die Ohren gehauen, daheim nicht, denn hier hat Putin ungezählten Sowjet- und Stalin-Nostalgikern aus der Seele gesprochen. Nicht jedoch klugen Russen wie Kostikov, der Putin als Haupthindernis dessen sieht, was Russland lebensnotwendig braucht: eine „nüchterne Bilanz der Vorzüge und Nachteile des vergangenen 20. Jahrhunderts, ohne die es gefährlich wäre, einen neuen Präsidialzyklus zu beginnen“, desgleichen für die vergangenen 20 postkommunistischen Jahre: „Was wurde real geschaffen? Wie viel wurde gestohlen? Wo sind die Straßen? Wo die blühenden Städte? Wo die verheißene Mittelklasse? Und schließlich: Warum sind wir trotz der stürmischen Bereicherung der Funktionärskaste auf Platz 120 hinsichtlich unternehmerischer Bedingungen?“

Paria Putin-Russland

Schwebt Putin eine sozusagen postsowjetische Sowjetunion als außenpolitisches Ziel vor? Als die UdSSR zerfiel, bildeten Russland und elf Ex-Sowjetrepubliken am 8. Dezember 1991 die „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS), laut Putin „um den zivilisierten Zerfall der früheren Sowjetunion zu unterstützen und die daraus resultierenden Verluste zu minimieren“. „Verluste“ für wen? Moskau wollte die Ex-Sowjetrepubliken als „nahes Ausland“ in eine „Sicherheitszone“ einbinden, um sie vom Anschluss an „feindliche Allianzen“ zu  hindern. Diesem Konzept verweigerten sich Lettland, Estland und Litauen von Anfang an, die am 12. Mai 2004 EU-Mitglieder wurden. Das wären die GUS-Mitglieder auch gern, die mehrheitlich unter Russlands kolonialistischer Überheblichkeit zu leiden haben. Russland will nicht wahrhaben, dass das „nahe Ausland“ GUS längst echtes Ausland geworden ist – in seiner Angst vor westlichen Ränken hat es die GUS-Staaten dem Westen förmlich in die Arme getrieben. In seinem Bestreben, die GUS in „kontrollierter Instabilität“ zu halten, unterstützt es russische Sezessionsgebiete.

Für Putin ist die postsowjetische Welt in Ordnung. Am 15. Mai leitete er ein „informelles Treffen der GUS-Staaten“, wobei er im besten Sowjetstil erklärte: „Ich möchte nochmals betonen, dass die GUS-Staaten unsere nächsten strategischen Partner sind. Buchstäblich alle Aspekte eines Zusammenwirkens mit Ihnen sind für unser Land lebensnotwendig. Uns alle vereint wirklich viel. Vor allem sind es die soliden Traditionen der Freundschaft und guten Nachbarschaft unter unseren Völkern. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, eine jahrhundertealte Vergangenheit, aber auch in der jüngeren Vergangenheit vereint uns der große Vaterländische Krieg und der Sieg in diesem Krieg, dessen Jahrestag wir unlängst begangen haben. Gegenwärtig stehen vor den GUS-Ländern gemeinsame Aufgaben zur Modernisierung der Wirtschaft, der Abwehr neuer Provokationen und Bedrohungen, Aufgaben zur Formung des neuen, gerechteren Weltordnung“.

Putins Welt

Was mögen die GUS-Politiker wohl gedacht haben, als sie das hörten? Russland betreibt die Bildung einer „Zollunion“ und deren Ausbau zur „Eurasischen Union“, die GUS-Politiker als „ineffektiv“ oder gar „totgeboren“ bezeichnen. Staaten wie die Ukraine halten nur darum letzte Verbindungen zu Russland aufrecht, weil sie Investitionen und Rohstoffe benötigen, und um diese zu bekommen, nutzen sie schamlos „Russlands heftige Phantomschmerzen wegen des Zerfalls der UdSSR“ aus. Am meisten wird Putin von diesen „Schmerzen“ geplagt, die angesichts eskalierender Protestdemonstrationen nicht geringer werden, auch nicht unter dem Eindruck von Umfrage Ergebnissen, denen zufolge bis zu 55 Prozent aller Russen die unruhigen Kaukasus-Staaten zum Teufel wünschen: „Schluss mit der Kaukasus-Fütterung“ hieß es auf Demonstrationsplakaten.

„Putins Welt ist unvorhersehbar, chaotisch und voller Gefahren“, sagte Fedor Lukjanov. Russland hat keine Feinde, aber Putin malt laufend neue Teufel an die Wand: „Die Lehren des Zweiten Weltkriegs sind nach wie vor aktuell“. Was er genau meint, bleibt dunkel, aber er fordert  „Stark sein ist die Garantie der nationalen Sicherheit für Russland“. So war auch ein Aufsatz überschrieben, den er zu Jahresbeginn veröffentlichte und in dem er den „Aufbau einer neuen Armee“ forderte, einer die „über den Horizont schauen kann und 30 bis 50 Jahre voraus blickt“, die „kompakter“ und „mobiler“ sein muss, stärker bewaffnet, auch mit Atomwaffen, und das alles kann nur geschehen, wenn auf die „chronisch unterfinanzierten Armee und Flotte“ ein warmer Rubelregen hernieder geht.

Daraus kann nichts werden. Die Armee zählt eine Million Köpfe – 300.000 in der Infanterie, 161.000 in der Flotte, 120.000 in Raketeneinheiten, 100.000 in der Raketenabwehr, 35.000 in den Luftlandetruppen -, ist schlecht versorgt und noch schlechter bewaffnet, weswegen die „Auftakelung (osnascenie) der Streitkräfte zu 70 Prozent mit moderner Waffentechnik bis 2020“ zu Putins Prioritätenkatalog zählt. Aber diese Armee kann niemand „auftakeln“, anders ist es mit bewaffneten Formationen für den internen Gebrauch, deren Umfang eine Ahnung verschafft, dass Putin und die Seinen gegen heimische Gegner aufrüsten: Truppen des Innenministeriums 170.000, Sondereinsatztruppen 25.000, Truppen des Ministeriums für außergewöhnliche Situationen 300.000, Werkschutz 170.000, Drogenfahndung 40.000, Strafverfolger 365.000, Eisenbahntruppen 80.000, Föderaler Sicherheitsdienst 160.000 und ca. 1,5 Millionen weitere.

Putin verpasst den USA bei jeder Gelegenheit einen „pinok“ (Fußtritt), sagen seine Bewunderer, womit sie die stets gleiche Litanei meinen, die Putin ständig vorträgt: „Gleichberechtigung, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Achtung wechselseitiger Interessen, feste Garantien, dass die NATO-Abwehrraketen nicht gegen Russland gerichtet sind“ und ähnliches mehr, was im Westen niemand mehr wahr- oder ernstnimmt. Für den Westen ist es ja auch nicht gemeint, sagt die geistvolle Moskauer Politologin Marija Lipman: „Bei ihm (=Putin) wie bei der Mehrheit der Russen besteht die Vorstellung, dass Amerika sich bemüht, bei jeder Gelegenheit die Schwäche Russlands auszunutzen, es zu schwächen, Russland zu schaden. Ich denke nicht, dass jetzt, da Putin wieder an die Macht gekommen ist, dieses Misstrauen überwunden werden kann“.  

Putins Perspektiven

Putin ist im Amt, aber wird er sich sechs oder gar zwölf Jahre in diesem halten können? Auf den ersten Blick ist nichts zu erkennen, was ihn behindern oder vertreiben könnte – sagte Marija Lipman: Putin ist momentan die „einflussreichste und politisch stärkste Figur im Lande“. Wahlen „drohen“ ihm auf absehbare Zeit nicht, sie können ihn auch nicht wirklich schocken, da er Gesetze und Regularien nach Belieben manipulieren kann. Solange er drei Bedingungen erfüllt, kann er ungestört an der Macht bleiben: Er braucht die weitestgehende Unterstützung der russischen Gesellschaft, die Einheit der Machtelite und möglichst hohe Öl- und Gaspreise.

Öl- und Gaspreise sacken momentan ab. Dass auch die anderen Pfeiler von Putins Macht erste Risse zeigen, ist deutlich. Pavel Baev vom Osloer Institut für Friedensforschung glaubt, dass die Opposition in Russland Putin in Gefahr bringen kann, weil ihre Proteste im Westen mehr und mehr beachtet werden, wodurch sich Spannungen zur Putin-Führung aufhäufen. Wenn Washington erst einmal „Besorgnis“ über das brutale Vorgehen der russischen Polizei äußert, dann gerät Putin in eine „Selbstisolation“: Zügelt er die Polizei, gewinnt die Opposition, und im Westen kommen Zweifel an Putins Machtfülle auf. Je mehr die Machtelite indessen Polizei und Gerichte für ihre Zwecke vereinnahmt, desto deutlicher wird im Westen das letztlich brüchige Machtgefüge Putins.

Davor hat er eine Riesenangst, meint Marija Lipman, und deshalb ist er auch dem G-8-Gipfel in Camp David ferngeblieben. Die nächste Zeit wird spannend, findet Marija Lipman, obwohl es „in Russland immer ziemlich schwierig ist, sich mit Prophezeiungen abzugeben“. Dass Putin in Innen-, Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik „konservativ“ agiert, also eher im Stile der alten Sowjetunion, wird immer offenkundiger. Aber was resultiert daraus? Marija Lipman wagt eine Prognose, die es wahrhaft „in sich“ hat: „Wahrscheinlich wäre ein Staatsstreich das Einzige, was Putin veranlassen könnte, vorfristig abzutreten“. 

Russland

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