Offener Brief der 105 Chinawissenschaftler, Publizisten und Politiker

Offener Brief der 105 Chinawissenschaftler, Publizisten und Politiker

Betr.: Kampagne gegen die Chinaberichterstattung der Deutschen Welle

Von EM Redaktion

27. Oktober 2008

An den Intendanten der Deutschen Welle Herrn Erik Bettermann
An den Rundfunkrat der Deutschen Welle
An den Deutschen Bundestag

In der Deutschen Welle ist vor kurzem eine Redakteurin der chinesischsprachigen Radioredaktion infolge ihrer vermeintlich einseitigen Beurteilung des heutigen China ihrer Leitungsfunktion enthoben worden. Die genannte Redakteurin wurde von dieser Funktion nicht etwa wegen nachgewiesener Verfehlungen in ihrer redaktionellen Arbeit entbunden. Vielmehr wurde sie abgestraft, weil sie u.a. in öffentlichen Diskussionsrunden die Einschätzung eines der führenden deutschen Chinaberichterstatters, des Pekinger Korrespondenten der „Zeit“, wiedergegeben hatte: Dass die Überwindung der Armut für 400 Mio. Chinesen in den letzten 30 Jahren eine der größten Menschenrechtsverbesserungen der jüngeren Zeit sei. Kein Zweifel, darüber kann man streiten. Aber man muss sich darüber streiten können und dürfen, und selbstverständlich muss man solche Aussagen als Journalist zitieren dürfen.

Ein „Autorenkreis der Bundesrepublik“ hat in einem Schreiben an den Bundestag der Chinaredaktion der Deutschen Welle Werbung für den Parteistaat in China vorgeworfen. Der Autorenkreis spricht von einem „Re-Import diktatorischer Propaganda“ und fordert eine „Mitarbeiterprüfung für alle Redaktionen, die über und in totalitäre Länder einschließlich Russlands berichten“;  darüber hinaus die Einsetzung eines „unabhängigen, diktaturimmunen Beobachters“, der die Sendungen kontrolliert; und schließlich die nachträgliche Prüfung der Berichterstattung der letzten fünf Jahre und eine nochmalige Stasiüberprüfung der deutschen Mitarbeiter der Deutschen Welle.

Parallel dazu haben einige chinesische Dissidenten, die Aktivisten der religiös-politischen Sekte Falun Gong sind oder mit dieser in Verbindung stehen, ebenfalls an den Bundestag geschrieben und der Deutschen Welle vorgeworfen „für die chinesische Regierung ein befreundetes Medium“ zu sein. Tatsächlich waren die chinesischen Online-Seiten des Senders in China in den letzten Jahren bis kurz vor der Olympiade ununterbrochen gesperrt. Falun Gong-Propagandisten identifizieren zugleich die vermeintlichen Wortführer der „roten Infiltration in Deutschland“: Helmut Schmidt und eine Reihe führender deutscher Chinawissenschaftler, die unter anderem auch von der Deutschen Welle mehrfach interviewt wurden und sich in den letzten Jahren um ein realitätsgerechtes Chinabild bemühten (vgl. dazu den Internetartikel „ Die rote Welle in Deutschland“ - http://www.blog.china-guide.de/index.php?entry=entry081001-045354).

Diese Auseinandersetzung ist Teil des Disputes über die Frage, wie man die derzeitige Entwicklung und den Aufstieg Chinas beurteilen soll. Ist China ein Schurkenstaat, der zunehmend zu einer Bedrohung nach innen und außen wird oder aber ein Land, das einem kontinuierlichen Wandlungsprozess unterliegt und sich dabei zunehmend als ein zuverlässiger Kooperationspartner in internationalen Fragen erweist? Verschiedene und zum Teil widersprüchliche Bilder charakterisieren diesen Entwicklungs-prozess: Es gibt Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Machtmissbrauch, und es gibt zugleich einen Wandel, der die Strukturen des Systems verändert und der Mehrheit der Menschen signifikante Verbesserungen bringt. Solche widersprüchlichen Entwicklungen verlangen nach einem differenzierten Urteil. Eine solche Differenzierung gab es jedoch in großen Teilen der medialen Berichterstattung in Deutschland vor und während der Olympischen Spiele nicht. Die Deutsche Welle versuchte hier gegenzusteuern.

Die „Offenen Briefe“ an den Bundestag rufen zu Ausgrenzung und Zensur auf. Es werden Vorwürfe wie in Zeiten des Kalten Krieges vorgetragen („rote Infiltration“). Es sollen diejenigen Journalisten, Wissenschaftler und Politiker diskreditiert und eingeschüchtert werden, die in sorgfältig recherchierten Berichten und Analysen auf die vielfältigen und widersprüchlichen Facetten der Entwicklung Chinas hinweisen wollen und das Land eben nicht schlicht als „Schurkenstaat“ betrachten. Das angestrebte Ziel ist offenkundig die Unterbindung jeder um Differenzierung bemühten öffentlichen Kommunikation über die Entwicklung Chinas in Journalismus und Wissenschaft und die Verpflichtung aller öffentlichen Akteure dieses Bereichs auf eine pauschale negative Berichterstattung über China.

Wir nehmen die o. g. Vorgänge zum Anlass, um alle Verantwortlichen in Publizistik, Politik und Wissenschaft auf diese beunruhigende Entwicklung und ihre Hintergründe aufmerksam zu machen und für die Wahrung der Grundsätze journalistischer und wissenschaftlicher Professionalität, Eigenverantwortung und Objektivität ohne jede Einschränkungen einzutreten. Insbesondere fordern wir sie auf, sich offensiv und entschieden vor die in der laufenden Kampagne zu Unrecht  angegriffenen Personen zu stellen.

Erstunterzeichner am 09.10.2008

Dr. Lale Akgün MdB

Prof. Björn Alpermann, Universität Würzburg, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Chinas

Katrin Altmeyer, Leiterin China Büro der Heinrich Böll Stiftung, Peking

Diana Altner, Zentralasienseminar, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität Berlin

Dr. Hans-Peter Bartels, MdB

Prof. Wolfgang Behr, Universität Zürich, Ostasiatisches Seminar

Georg Blume, Autor und Journalist von „Die Zeit“ und „taz“, Peking

Volker Bräutigam. ehemaliger Redakteur der ARD-Tagesschau

Reinhard Bütikofer, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen

Prof. em. Chiao Wei, Universität Trier, Sinologie

Prof. Wolfgang Däubler, Universität Bremen, Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht

Prof. Herta Däubler-Gmelin, MdB, Bundesministerin der Justiz a.D.

Dr. Ole Döring, Sinologe, GIGA Institut für Asien-Studien, Hamburg

Dr. Stefanie Elbern, Desk Officer for China, North Korea and Asia-wide programs (Hong Kong), Evangelischer Entwicklungsdienst e.V. (EED), Bonn

Johnny Erling, Autor und Journalist, Peking

Amir Moghaddass Esfehani, Fachreferent für Sinologie, Staatsbibliothek zu Berlin, Berlin

Dr. Katrin Fiedler, Interdisziplinäres Zentrum für Ostasienstudien, Universität Frankfurt

Dr. Doris Fischer, Wirtschaft Chinas, Deutsches Institut für Entwicklungsforschung, Bonn

Prof. Dr. Mareile Flitsch, Ethnologin und Sinologin, Universität Zürich

Helmut Forster, Projektleiter, Goethe-Sprachlernzentrum Xi' an

Dr. Klaus Fritsche, Geschäftsführer Asienstiftung Essen

Susanne Gaschke, Journalistin und Autorin

Wolf Gauer, Journalist, São Paulo

Dr. Christian Göbel, Ostasienwissenschaften, Universität Duisburg-Essen

Prof. Bettina Gransow, FU Berlin, Sinologie/Chinastudien

Günter Grass, Schriftsteller, Nobelpreisträger für Literatur

Jari Grosse-Ruyken, Universität Bonn, Bonner Gesellschaft für China-Studien

Prof. Dieter Grunow, Universität Duisburg-Essen,Politikwissenschaft

Andreas Gruschke, Sinologe, Universität Leipzig

Dr. Peter Hachenberg, Universität Düsseldorf, Geschäftsführer des Sprachenzentrums der Universität

André Hakmann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität Trier, Sinologie

Dr. Hermann Halbeisen, Universität Köln, Ostasien-Studien

Prof. Volkmar Hansen, Direktor, Goethe-Museum, Düsseldorf

Klaus Harpprecht, Publizist, La Croix Valmer, Frankreich

Prof. Thomas Heberer, Universität Duisburg-Essen, Ostasienwissenschaften

Prof. Sebastian Heilmann, Universität Trier, Politik Ostasiens

Prof. Carsten Herrmann-Pillath, Academic Director Sino-German School of Governance, Frankfurt/M.

Dr. Lukrezia Jochimsen, MdB

lic. iur. Steffen Kaiser, Basel

Dr. h.c. Hanjo Kesting, Redakteur und Autor, Hamburg, Berlin

Prof. Lorenz King, Zentrum für internationale Entwicklungs- und Umweltforschung (ZEU), Universität Giessen

Peter Kleinert, Redakteur, Neue Rheinische Zeitung

Dr. Sascha Klotzbücher, Universität Wien, Sinologie

 Prof. Jürgen Kocka, FU u. WZB Berlin, ehem. Präsident des       Wissenschaftszentrum Berlin

Prof. Dr. Hermann Kreutzmann, Zentrum für Entwicklungs­länder­­forschung (ZELF), Institut für Geographische Wissenschaften, Freie Universität Berlin

Peter M. Kuhfuß, Universität Tübingen, Sinologie/Geschichte

Kristin Kupfer, freie Journalistin, Peking

Prof. Dieter Kuhn, Universität Würzburg, Sinologie

Prof. Alfons Labisch, Rektor der Universität Düsseldorf

Dr. Martin Lehnert, Sinologie, Ostasiatisches Seminar der Universität Zürich

Prof. Mechthild Leutner, Lehrstuhl Staat, Gesellschaft und Kultur des modernen China im Fach Sinologie am Ostasiatischen Seminar der FU Berlin

Prof. Dirk Linowski, Director Institute of International Business Studies, Steinbeis University, Berlin

Dr. Astrid Lipinsky, Universität Wien, Sinologie

Dr. Huiru Liu, Universität Trier, Sinologie

Albrecht von Lucke, Blätter für Deutsche und Internationale Politik, Berlin

Dr. Kang-Kai Ma, International Key-Account Manager

Gisela Mahlmann, Fernsehjournalistin und ehemalige ZDF- Chinakorrespondentin, Baden-Baden

Prof. Wolfgang Merkel , Direktor Wissenschaftszentrum Berlin, Demokratieforschung.

Prof. Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, Bonn

Prof. Thomas Meyer, Universität Dortmund, Politikwissenschaft, Herausgeber/Chefredakteur Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte

Prof. Barbara Mittler, Universität Heidelberg, Sinologie

Prof. Ralf Moritz, Universität Leipzig, Sinologie

Michael Müller, MdB und Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Dr. Ingo Nentwig, Sinologe und Ethnologe, ehem. Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig

Prof. Julian Nida-Rümelin, Universität München, Staatsminister für Kultur und Medien a.D.

Jochen Noth, Geschäftsführer, API Asien-Pazifik-Institut für Management GmbH

Cristina Ohlmer, freischaffende Künstlerin, Dozentin TianjinAcademy of Fine Arts

Dr. Carmen Paul, Sinologie, Universität Freiburg

Prof. Gregor S. Paul, Universität Karlsruhe und Vorsitzender der Deutschen China-Gesellschaft

Rodo Pfister, Sinologe, SNF-Projekt, Universität Basel

Prof. Karl-Heinz Pohl, Universität Trier, Sinologie

Dr. Lutz Pohle, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Leiter Büro Peking

Prof. Dr. Andrea Riemenschnitter, Universität Zürich, Moderne Chinesische Sprache und Literatur am Ostasiatischen Seminar

Walter van Rossum, Publizist, Köln

Prof. Michael Rudolph, Chair of Chinese Language and Culture, University of Southern Denmark

Prof. Eberhard Sandschneider, Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin

Dr. Nora Sausmikat, Asienstiftung Essen

Prof. Monika Schädler, Hochschule Bremen, Wirtschaftssinologie

Prof. Dr. Thomas Scharping, Moderne China Studien, Universität Köln

Anna Schattkowsky, ehem. Agrar-Univer­si­tät Shanxi, Taigu, und Sino-German Vocational Training Centre (AFZ), Tianjin

Prof. Helwig Schmidt-Glintzer, Wolfenbüttel, Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Vereinigung für Chinastudien e.V.

Prof. Axel Schneider, Director, Modern East Asia Research Centre, Leiden University/Niederlande

Prof. Angela Schottenhammer, Universität München, Sinologie

Prof. Gunter Schubert, Universität Tübingen, Greater China Studies

Dr. Günter Schucher, GIGA Institut für Asien-Studien, Hamburg

Dr. Christian Schwermann, Universität Bonn, Sinologie

Prof. Reimund Seidelmann, Universität Gießen, Internationale Politik, Hon. Prof. an der Renmin University, Peking,

Frank Sieren, Autor und Journalist, Peking

Dr. Moon-Ey Song, Universität Tübingen, Abteilung für Sinologie und Koreanistik

Dr. Tilman Spengler, Sinologe und Journalist, Ambach

Dr. Johano Strasser, Präsident des deutschen PEN-Clubs

Prof. Markus Taube, Universität Duisburg-Essen, Ostasienwissenschaften

Barbara Unmüßig, Vorstand Heinrich Böll Stiftung, Berlin

Dr. Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a.D., Berlin

Dr. Gudrun Wacker, Senior Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik, Forschungsgruppe Asien

Hans Wagner, Publizist, Altomünster

Dr. Lihua Wang-Eckhardt, Universität Bonn, Biochemie und Molekularbiologie

Prof. Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Universität Wien, Moderne Sinologie

Dr. Felix Wemheuer, Universität Wien, Sinologie

Dagmar Woehlert, China Association for NGO Cooperation, Senior International Advisor

Dagmar Yu-Dembski, Sinologin und Publizistin, FU Berlin

Adrian Zielcke, Ressortleiter Außenpolitik, Stuttgarter Zeitung

Astrid Zimmermann, Sinologie/Ethnologie, Autorin, Freiburg

Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen Amt a.D.

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