09.08.2023 13:11:56
EISBADEN
Von Ulrich Heyden
eiß leuchtet das Eis des Besdonnoje-Sees im Mondschein. Ein Meßdiener in weißer Kutte schwenkt den Weihrauch-Brenner, ein anderer singt mit tiefer Stimme „Gott schütze unser Rußland vor Kriegen“. Es ist eine von zahlreichen Bitten, die jeweils endet mit einem langgezogenen „Gospodin pomolimsja“, „Wir beten zu Gott“.
Die Menschen am Ufer des Sees im Westen von Moskau schauen andächtig und erwartungsvoll auf die Geistlichen, die direkt an einem großen, schwarzen Loch stehen, das die Helfer des Katastrophenschutzministeriums ins Eis gehauen haben. Ein Priester in schwarzem Umhang kniet nieder und taucht ein silbernes Kreuz in das Naß. Es ist Mitternacht. Die Zuschauer bekreuzigen sich.
Wie in jedem Jahr feiern die Russen an diesem 19. Januar „Kreschenija“, den Tag, an dem Jesus von seinem Jünger Johannes im Jordan getauft wurde. Es ist einer von 12 orthodoxen Feiertagen. Von Jahr zu Jahr sind es mehr Menschen, die in Seen und Flüssen, die von Priestern geweiht wurden, ein Bad nehmen. Während des Kommunismus war das Ritual verboten.
Die Messe ist noch nicht zuende. Doch schon drängeln sich ungeduldige Nackte durch die in Pelzmäntel gehüllten Wartenden Richtung Eisloch. Nur eine Unterhose schützt sie vor dem Januarfrost.
Aus dem Lautsprecher tönt die warnende Stimme des Veranstaltungsleiters, einem schmächtigen Mann mit Glatze und Goldbrille: „Nur fünf auf einmal!“ Die Eisdecke ist nur 15 Zentimeter dick. In diesem Winter will es nicht so richtig kalt werden in Moskau. Für Eingebrochene oder mit krankem Herzen Abgetauchte halten Helfer lange Stangen mit Haken bereit.
Nun steigen die Ersten über die eiserne Trittleiter ins Wasser. Muskulöse Männer, Frauen mit Kopftuch und langem Rock, eine Mutter im Bikini mit einem Kleinkind auf dem Arm. „Keine Kinder“, ruft der Mann mit Glatze. Doch zu spät, die Mutter ist mit ihrem Kleinen bereits untergetaucht. „Die Abhärtung wird ihm gut tun“, meint eine untersetzte, stämmige Frau, die gerade aus dem Wasser gestiegen ist und von ihrem Mann abgerubbelt wird.
Manche Badende stoßen kleine Lustschreie aus. All das spornt die Wartenden am Ufer an. Plötzlich ist die Masse nicht mehr zu halten. Die Stimme aus dem Lautsprecher warnt: „Langsam! Wir sind hier nicht auf einer Sportveranstaltung.“ Doch nun stürmen die Leute voran und springen unter lautem „Hallo“ kopfüber ins Eisloch. Niemand will ein Feigling sein. „Russkaja duscha“, die „russische Seele“, ist nicht zu halten, meint die kleine Stämmige.
Ein Student schwenkt im Wasserloch die blaue Fahne seiner Fakultät und schreit vor Freude. Andere, mit dampfenden Körpern posieren für ein Erinnerungsphoto. Wieder andere werfen sich in den Schnee und machen keuchend Liegestütze. Wohin nur mit all der freigewordenen Energie? Plötzlich ein Knacken. Ein Mann mit langer Stange ruft: „Zurück, zurück!“ Über das spiegelglatte Fläche zieht sich ein langer Riß. Doch wie ein Wunder hält das Eis.
Der Priester und seine Meßdiener haben lange das Weite gesucht. Diejenigen, die religiöse Besinnlichkeit suchen, haben sich an den Rand des Sees verzogen. „Das ist ein Festtag“, meint die Stämmige. „Ich fühle mich frei, ich könnte fliegen.“ Kein Zweifel, hier steht eine Russin ganz ohne Sorgen.
Plastikflaschen werden im Eisloch versenkt. Das geweihte Wasser nehmen die Menschen mit nach Hause. Man besprengt die Wände der Wohnung damit oder läßt es auf die Stirn des Kindes tropfen. Das geweihte Naß schützt angeblich vor Krankheiten und bösen Geistern.
Auf dem Nachhauseweg durch den Fichtenwald wärmen sich die Leute mit heißem Tee und Wodka. „Nach solch einem Bad ist noch niemand krank geworden“, meint die kleine Frau mit vielsagendem Blick. Um zwei Uhr nachts ist es wieder still am See. Der Mond ist hinter dem Wald verschwunden. Wie Glas liegt eine dünne Eisschicht über dem geweihten Wasser.
09.08.2023 13:11:56
29.07.2023 10:14:12
13.01.2023 14:10:35
08.07.2022 17:15:55
18.05.2022 09:35:41
14.05.2022 12:09:22
11.04.2022 14:21:21
19.03.2022 10:08:25
16.07.2021 13:38:36
22.03.2021 21:36:33