Ortsnamen als GeschichtsquelleEURASISCHE FRÜHZEIT

Ortsnamen als Geschichtsquelle

Den ältesten Zeugnissen in der Sprache der Völker sind die Namenforscher oder Onomastiker auf der Spur: Den Bezeichnungen von Flussen, Bächen und Landschaften. Sie sind älter als alles was Menschen jemals aufgeschrieben haben und verraten noch nach Jahrtausenden, wer wo gelebt und wie er gesprochen hat. Jurgen Udolph von der Universität Leipzig hat die einzige deutsche Professur fur Onomastik inne. Der folgende Text basiert auf seiner bislang unveröffentlichten Antritts-Vorlesung, die er im Jahr 2001 gehalten hat.

Von Jürgen Udolph

Von Prof. Dr. Jürgen Udolph

EM - Am 23. Januar 1949 hielt Professor Hans Krahe an der Universität Heidelberg eine Antrittsvorlesung mit dem Titel „Ortsnamen als Geschichtsquelle“. Er stellte darin als entscheidenden Punkt die Frage heraus, inwieweit die Sprachwissenschaft der Geschichtswissenschaft, dem Historiker also, dienlich sein kann. Historiker benötigen bekanntlich schriftliche Quellen. Die Namenforschung aber – so Hans Krahe – kann vor allem für diejenigen Epochen, aus denen keine schriftlichen Quellen berichten, also für den vorhistorischen oder prähistorischen Zeitraum, wichtige Erkenntnisse beibringen. Krahe stellte fest, hier seien die Eigennamen eine Quelle von einzigartigem Wert, ein Sprachmaterial, das dank seiner Eigenart ungleich weiter zurückreiche als alle direkte inschriftliche oder literarische Tradition [1]. Krahe führte damals aus: „Am bedeutsamsten und aufschlußreichsten sind dabei die Ortsnamen.“ Zur Begründung sagte er, Ortsnamen seien bodenständig, raumgebunden und es sei eine für die Forschung ungemein wertvolle Erfahrungstatsache, eine Regel, die fast einem Gesetz gleichkomme, daß die Ortsnamen – und zwar Ortsnamen im weitesten Sinne, also Fluß- und Bergbezeichnungen, Landschafts- und Siedlungsnamen – sich auch bei einem Wechsel der Bevölkerung vielfach mit größter Zähigkeit erhielten. Sie verschwänden bei einem solchen Wechsel nicht, sondern würden in den meisten Fällen von den neuen Herren eines Landes übernommen und von ihnen – wenn manchmal auch unverstanden – beibehalten und in die eigene Sprache eingegliedert. Darin lebten sie dann wie Fossilien weiter. Hans Krahe bezeichnete diese Namen-Fossilien als unser kostbarstes Material für die ethnographische Erforschung frühester Zeiten. Es sei oft das einzig nutzbare, und es sei vor allem das sicherste. Krahe: „Wo Ortsnamen einer bestimmten Sprache in größerer Zahl sich finden, da muß auch die betreffende Sprache selbst gesprochen worden sein, da müssen Angehörige des diese Sprache sprechenden Volkes gelebt haben“[2].

Die gesicherten Erkenntnisse der Namenforschung

Professor Krahe hat in der genannten Antrittsvorlesung vor 50 Jahren die folgenden Erkenntnisse der Namenforschung als gesichert dargestellt:

Zu den weiteren gesicherten Erkenntnis der Namenforschung zählt Krahe die sich durch Ortsnamen abzeichnende ehemalige Ausbreitung keltischer Stämme. Namen wie Neumagen an der Mosel, Kempten (von Kambodunum), Divodurum (heute Metz) und Baudo-briga (heute Boppard) sind sichere Zeugen dieser indogermanischen Sprache.

Der unschätzbare Wert alter Gewässernamen – der Hydronymen

Der zweite Teil von Hans Krahes Antrittsvorlesung war den Gewässernamen gewidmet, ihrer Struktur, Streuung, Schichtung und Etymologie. Dieser Abschnitt hat auch heute noch im wesentlichen Bestand. Das betrifft sowohl die hohe Altertümlichkeit der Hydronyme wie auch die Folgerungen, die Krahe aus der unterschiedlichen Bildung der Namen zieht. Jüngere Typen bestehen demnach vor allem aus Zusammensetzungen, ältere sind eher einstämmig und mit Suffixen gebildet. Unstrittig ist auch seine Bemerkung, daß die älteren Gewässernamen fast ausschließlich aus sogenannten „Wasserwörtern“ gebildet sind, also aus Bezeichnungen für „Wasser, fließen, Fluß, Bach, Flußlauf“ usw. Schon daran scheitern Deutungen wie etwa jene, die versuchen, Flußnamen wie Swine mit dem Schwein und Wipper und Wieprz in Polen mit einem slavischen Wort für den „Eber“ verbinden zu wollen.

In seinem Schlußwort sagte Krahe seinerzeit, es ginge ihm vor allem um die Methoden, mit welchen die wissenschaftliche Ortsnamenforschung arbeitet, und darum, zu zeigen, „welchen Nutzen diese Arbeit für den Historiker und Prähistoriker haben kann“[6]. Den Abschluß seiner Ausführungen bildete ein Satz, der vor mehr als 200 Jahren von Leibniz niedergeschrieben wurde. Diese Passage, sozusagen eine absolute Rechtfertigung für die Untersuchung der Hydronyme, lautet: „Ich bemerke nebenbei, daß die Flußnamen, da sie gewöhnlich aus der ältesten Zeit stammen, am besten die alte Sprache und die alten Bewohner bezeichnen ... Und die Sprachen, die ja die ältesten Denkmäler der Völker sind ..., zeigen am besten den Ursprung der Verwandtschaften und Wanderungen der Völker“.

Indem Hans Krahe unter die Illyrier-These einen Schlußstrich gezogen hatte, wurde die Forschung der Gewässernamen Europas auf eine neue Grundlage gestellt. Krahe hatte erkannt, daß es unmöglich ist, einen in Polen liegenden Gewässernamen mit einem fast identischen in Süddeutschland aus einer indogermanischen Einzelsprache heraus zu erklären. Die Zuweisung zum Germanischen, Illyrischen, Keltischen oder Slavischen wird den Gegebenheiten nicht mehr gerecht - und übrigens auch nicht der Annahme eines vaskonischen oder baskischen Substrats, wie es uns aus München in den letzten Jahren immer wieder vorgeschlagen wird. Der hier gemeinte Fall ist der der hessischen Nidda bei Frankfurt/Main und der polnischen Nida bei Krakau. Er erhält zudem seine etymologische Klärung durch das Altindische: nur dort ist das Verb nēdati „fließt“ bezeugt, so daß auch von hieraus eine Erklärung aus einer indogermanischen Einzelsprache versagt.

Der heutige Stand der Namenforschung

Daraus und aus weiteren Fällen zog Wolfgang P. Schmid den Schluß – und korrigierte damit die von Hans Krahe vertretene Auffassung, die alt-europäische Hydronymie sei nur auf das Westindogermanische beschränkt gewesen –, daß die ältesten Gewässernamen Europas die Gesamtheit aller indogermanischen Sprachen voraussetzt. Anders sei das Vorkommen von ostindogermanischen Appellativen, also Wörtern aus dem Tocharischen, Altindischen und Altiranischen, in europäischen Gewässernamen nicht zu erklären. Die Etymologie von Flußnamen wie Sinn, dem Nebenfluß des Mains, Shannon, dem größten Fluß Irlands, Shin in England und wahrscheinlich dem San im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet mit Hilfe von altindisch sindhu- gleich „Fluß“ zeigt dieses sehr deutlich.

Inzwischen ist man aber in der Untersuchung der Gewässernamen, den nach einem Wort von Ernst Förstemann „ungeschliffenen Juwelen in der Namenforschung“[7], noch einen weiteren Schritt vorangekommen. Wie Wolfgang P. Schmid auch zeigen konnte, stellt das Baltikum ein besonderes Zentrum in der Hydronymie Europas dar. Er sagte: „Gleichgültig, ob man einen altertümlichen Namen in Norwegen, England, Frankreich, Deutschland, Italien oder auf der Balkanhalbinsel wählt, gibt es dazu eine mehr oder weniger genaue Entsprechung auf heutigem oder einstigem baltischen Gebiet“[8].

Daraus folgt vor allem für die Bereiche westlich und südlich des Baltikums: es ist entschieden darauf zu achten, ob es und wenn ja, in welcher Art und Weise es Entsprechungen im Baltikum gibt. Dieses betrifft vor allem zwei Sprachgruppen, die in der Leipziger Onomastik schon immer im Zentrum standen: das Slavische und das Deutsche, beziehungsweise dessen Vorstufe: das Germanische.

Die Theorie der alteuropäischen Hydronymie ist in den slavischen Ländern, vor allem in Polen, nur zögernd aufgenommen worden. Die Annahme einer voreinzelsprachlichen Schicht von Namen bedeutet in slavischen Ländern: Namen, die älter sind als die slavische Besiedlung. Wahrscheinlich hat Hans Krahe selbst zu diesem Zögern beigetragen. Denn er hat eine Äußerung getan, die in Polen sehr befremdet hat. Krahe sagte, die Einförmigkeit der slavischen Gewässernamengebung „bestärkt ... die schon zuvor gewonnene Vorstellung, daß das Slavische nicht in demselben Maße befähigt war, eine gleich abwechslungsreiche und vielgestaltige Hydronymie auszubauen wie das Germanische oder Deutsche“[9].

Neuere Untersuchungen zeigen ein ganz anderes Bild und beweisen nachhaltig, daß gerade die Länder Osteuropas in ihrem einzelsprachlichen Bestand, aber auch in ihrem Anteil an der alteuropäischen Hydronymie überaus wichtiges Vergleichsmaterial enthalten. Auch im Namenbestand des Slavischen sind alteuropäische Reste vorhanden, vornehmlich bei den Gewässernamen. Die Frage ist nun, in welchem Bereich Osteuropas sich aus dem voreinzelsprachlich-alteuropäischen Spektrum das Slavische als Sprachengruppe herausgelöst hat und ob es in einem geographisch ungefähr abgrenzbaren Gebiet Namen gibt, die Bindeglieder sind zwischen der indogermanischen voreinzelsprachlichen Schicht und den einzelsprachlichen slavischen Namen.

Aufbau, Schichtung und Streuung slavischer Namen

In diese Richtung gingen Versuche, die ein auch in Leipzig lehrender Slavist unternommen hat: Max Vasmer. Dabei ging er vom Slavischen aus und suchte die ältesten Wohnsitze slavischer Stämme mit Hilfe von Sammlungen bestimmter Gewässernamen zu ermitteln, und zwar von Gewässernamen, die sich durch unproduktive und daher relativ alte Suffixe auszeichnen[10].

Einen solchen altertümlichen Namentyp sieht Vasmer beispielsweise ganz zurecht in den alten -û-Stämmen vom Typus svekry, („Schwiegermutter“) und deren Auftreten in der Hydronymie. Er zählt dazu etwa Bagva („Sumpf, Morast“), Mokva („feucht“) u.a.[11]. Inzwischen ist die Materialbasis erheblich erweitert worden und in jüngster Zeit wurden diese Bildungen in mehreren Beiträgen ausführlich diskutiert[12].

Wichtig ist in diesem Zusmamenhang der Hinweis von Janusz Rieger[13], daß die Namen mit Bezeichnungen für „Wasser, Sumpf“ usw. verbunden sein müssen. Sie erfüllen damit die Bedingungen, die nach Hans Krahe an alte Gewässernamen gestellt werden müssen.

Bei der Etymologie dieser zum Teil schwierigen Namen lassen sich trotz aller Probleme vier Gruppen herausarbeiten:

Diese Gewässernamen verraten somit, daß eine Produktivität dieser Bildungsweise bis in das Slavische hinein bestand, die auf eine gewisse Kontinuität von alteuropäischer Namengebung bis in die slavische Namenschichten hinweist.

Auch die Gewässernamen auf –ava sind nach Vasmer als alt einzuordnen[14]. Es handelt sich in der Tat um einen morphologisch interessanten und alten Typ, der zudem noch sichere Verbindungen zu den außerslavischen Schwestersprachen und zur alteuropäischen Hydronymie aufweist[15] und somit auf Kontinuität hindeutet. In -(j)avaliegt ein typisches Bildungsmittel slavischer Namen vor, das sich in erster Linie in den Gewässernamen findet, man denke an Grzęzawa, Kaława, Týnava, Nakława, Virawa, Wirawa, Vodava, Ilava, Gliniawa, Morawa und andere.

Ein weiteres, von Vasmer allerdings nicht genanntes Suffix ist slavisch ‑yèü. Die Altertümlichkeit dieses Suffixes ist allgemein anerkannt. Es begegnet in Namen wie Drohobycz, Werbycz, Starycz, Radobycz, Radycza. Besonders eng ist aber die Verbindung mit der slavischen Endung bar. Zum Beispiel altrussisch bara „Sumpf, stagnum“, ukrainisch bar „feuchter Ort zwischen Hügeln“, slovakisch bara „Schlamm, Schmutz, Sumpf“ usw.[16]. Als Barycz kommt dieses Suffix in einem Dutzend Flußnamen vornehmlich im Süden Polens vor.

Gewässernamen zeigen den Raum, in dem sich die slavische Sprache entwickelte

In etwa können wir mit Hilfe der Gewässernamen den Raum umreißen, in dem sich das Slavische aus einem alteuropäischen Substrat heraus entfaltet hat. Suffigierte Bildungen haben sich dabei als besonders hilfreich erwiesen. Es gibt aber ein weiteres wichtiges, aus dem Indogermanischen ererbtes Element, das uns bei der genaueren Bestimmung des slavischen Altsiedelgebietes helfen kann: der nach Jacob Grimm so genannte Ablaut.

Wir kennen ihn alle, sei es aus dem deutschen Verbalsystem, man denke an singen – sang – gesungen, biegen – bog – gebogen, tragen – trug – getragen. Es gibt diesen Ablaut auch im Slavischen. Da der Ablaut auf indogermanische Grundlagen zurückgeht, sind entsprechende Namen von besonderer Bedeutung. Sie sind nicht sehr häufig, aber gerade deshalb besonders bedeutsam.

Eine Heimat des Slavischen auf dem Balkan schließt sich einwandfrei aus, denn es geht hier um urslavische Ablautvarianten, deren Produktivität und Wirkung lange vor dem Eindringen auf den Balkan anzusetzen ist. Das Slavische kann sich auch auf Grund dieser Fakten nur nördlich der Karpaten entfaltet haben.

Der sich abzeichnende Raum etwa zwischen der Weichsel im Westen und dem Dnjepr im Osten ist schon des öfteren – und unter anderem von Max Vasmer – als ältestes slavisches Siedlungsgebiet angesprochen worden. Die Analyse der Gewässernamen scheint dieses zu bestätigen.

Wenn sich die Bedeutung der Ortsnamenanalyse im Falle des Slavischen als richtig erweisen sollte, müßte sie es eigentlich auch bei einer anderen Frage leisten können, nämlich bei der, wo in etwa sich das Germanische entfaltet und entwickelt hat.

Die Germanen kamen nicht aus Skandinavien

Was wissen wir über die Entfaltung, Gliederung und Expansion germanischer Stämme? Inwieweit können uns Ortsnamen hier noch Hinweise geben? Reicht nicht Tacitus‘ Germania aus, dieses interessante Zeugnis, um das uns andere Völker beneiden und das uns so wichtige Informationen über die Verhältnisse in Deutschland gibt? Bietet es nicht über unsere Vorfahren – sofern wir denn Deutsche im weitesten Sinne dazu zählen können – schon ausreichendes Material, auch über die Heimat und Gliederung germanischer Stämme? Und was können Ortsnamen hier noch Ergänzendes oder Korrigierendes beitragen?

Greift man zum Standardwerk über die Germania des Tacitus, der dritten Auflage des von Herbert Jankuhn und Wolfgang Lange herausgegebenen Kommentars[17], so findet man darin folgende Passage über Heimat und Ursprung der Germanen: „Spätestens seit dem Beginn des Neolithikums in Norddeutschland, Dänemark und Südskandinavien, also zu Beginn des 3. vorchristlichen Jahrhunderts, wird man in dieser mutmaßlichen Urheimat der Germanen mit einer bodenständigen Bevölkerung rechnen können“[18].

Diese These einer nordischen Heimat der Germanen ist heute Allgemeingut. Entsprechende Ausbreitungskarten finden sich in jedem Geschichtsbuch. Dabei gab es durchaus auch andere Meinungen, u.a. eine detaillierte Stellungnahme von einem Mann, den man als den letzten Universalgelehrten bezeichnet hat, und den ich eingangs schon einmal zitiert habe. Leibniz hatte gesagt: „Ich bemerke nebenbei, daß die Flußnamen, da sie gewöhnlich aus der ältesten Zeit stammen, am besten die alte Sprache und die alten Bewohner bezeichnen ... Und die Sprache, die ja die ältesten Denkmäler der Völker sind ..., zeigen am besten den Ursprung der Verwandtschaften und Wanderungen der Völker“. Aber er wurde bei der Frage nach der Germanenheimat noch konkreter. In einer vor mehr als 200 Jahren verfaßten Studie zur Herkunft der Germanen unter dem Titel Dissertatio de origine germanorum[19] hat er zunächst erneut die außerordentliche Bedeutung der geographischen Namen betont, um dann bei der Erörterung der schon zu Leibniz' Zeiten von skandinavischen Forschern vertretenen These des skandinavischen Ursprungs der Germanen die bemerkenswerte Äußerung abzugeben: „mihi verò contrarium verisimilis videretur“[20] (S. 198) und wenige Seiten später detailliert geäußert, daß „Germanorum omne genus ... sese in Scandinaviam ex Saxoniae infudisse“[21]. Leibniz hat somit nach einem Wort von Sigrid von der Schulenburg[22] „entschieden die besonders von nordischen Forschern vertretene Hypothese abgelehnt, die ... die Germanen des Festlandes aus Skandinavien herleitet“, vielmehr „stellen ihm die Schweden, nicht das in seinen Sitzen erste germanische Volk, sondern einen der weitest vorgeschobenen Posten unserer Volksfamilie gegen den Norden vor“.

Was kann man zu dieser Diskussion aus heutiger Sicht und aus dem Blickwinkel der Orts- und Flußnamen beitragen?

Nur wenige hundert Meter von der Universität Leipzig entfernt fließt die Weiße Elster. Befaßt man sich etwas näher mit diesem Namen, so wird man direkt und unmittelbar zu den hier angeschnittenen Problemen geführt. Allein schon die Erwähnung des ähnlichen Flußnamens Alster in Hamburg läßt die Frage aufkommen, inwieweit Elster und Alster miteinander verwandt sind und wie die Namen zu erklären sind.

Die beiden Namen stehen nicht allein. Sie sind verwandt mit beispielsweise Alster als See- und Ortsname nördlich von Karlstad in Värmland, mit Alstern bei Brattfors, Värmland und eben mit der Alster, dem rechten Nebenfluß der Elbe in Hamburg. Aber auch mit dem Bach Alster bei Coburg. Hierher gehören auch die Schwarze Elster, ein rechter Nebenfluß der Elbe mit einem eigenen Nebenfluß namens Kleine Elster. Ferner Namen wie Elsterwerda, Bad Elster und Elsterberg. Die Namen gehören mit den Grundformen Al-astra und Al-istra zum indogermanischen el-/ol- für „fließen“ usw.

Flußnamen führen zur Urheimat der germanischen Stämme

Es ist dieses nach Krahe die umfangreichste Sippe innerhalb der alteuropäischen Hydronymie. Sie stützt sich auf Wortmaterial wie lettisch aluõts „Quelle“, was im Litauischen die Bedeutung „vom Wasser überschwemmt werden“ hat usw. Diese Wortsippe findet sich in einer Reihe von Fluß- und Ortsnamen in ganz Europa wieder, zum Beispiel in Ala, Ahle, Ola, Al(l)ia, Alowe, Alwent, Elm, Ilm, Ilmenau, Alme, Alona, Alantia, Aller, Iller, Als, Alsa, Ilse, Alisa, Elze, Alsenz, Alst. Mit einem –g-Element, das Krahe noch nicht im Blick hatte, ist hier auch der Name der Wolga anzureihen.

Bildungen mit einem –str-Element fehlen bei Krahe. Der Blick in die germanische Wortbildung zeigt, warum. Es ist ein einzelsprachliches, ein germanisches Element, ein altertümliches Gebilde, das unter anderem noch belegt werden kann aus gotisch awistr „Schafstall“[23], aus deutsch Laster, Polster usw. Es findet sich nicht nur in den Gewässernamen Alster und Elster, sondern auch noch in vielen weiteren Namen wie Susteren, einem Ortsnamen in den Nie­derlanden, im Namen der dänischen Insel Falster, im skandinavischen Fjordnamen Lustr oder auch im Fluß- und Ortsnamen Kelsterbach bei Groß Gerau.

Betrachten wir uns die Verbreitung der genannten Namen, so zeigt sich, daß England, der Kontinent und Skandinavien fast gleichmäßig von der Streuung betroffen sind. Diese Streuung erhält ihr besonderes Gewicht noch durch einen Vergleich mit einem anderen Suffix, das uns ebenfalls in germanischen Gewässer- und Ortsnamen begegnet. Es wird gelegentlich auch als das Basis-Suffix bezeichnet, auf dem das –str-Element erst aufbaut; gemeint ist ‑st‑.

Von ganz besonderer Bedeutung ist das Suffix –st-

Der vielleicht auffallendste Flußname dieser Kategorie, der zugleich Ortsname ist, heißt Apfelstädt. Weitere sind Aalst als Ortsname bei Hasselt in Flandern, Ehrsten bei Kassel, Elst bei Nimwegen, Ennest bei Olpe, Ergste bei Schwerte, Haste bei Osnabrück, Harste bei Göttingen, Rumst bei Antwerpen, Thüste bei Hameln.

Suffixe sind Kennzeichen einer älteren Bildungsweise germanischer Wörter. Jünger ist die Komposition, also die Verbindung von zwei selbständigen Wortelementen, z.B. Haus und Tür  zu Haustür, Tisch und Tuch zu Tischtuch usw. Es war wiederum Jacob Grimm, der dieses erkannt hat. Bei ihm lautet der entscheidende Satz wie folgt: „Es ist die unverkennbare Richtung der späteren Sprache, die Ableitungen aufzugeben und durch Kompositionen zu ersetzen. Dieses betätigt uns eben, daß jetzt erloschene Ableitungen vormals lebendig, jetzt unverständliche oder zweideutige vormals fühlbar und deutlich gewesen sein müssen“.

Ein einwandfrei germanisches Bildungselement ist –ithi. Wir kennen es noch aus dem Althochdeutschen und den dort bezeugten Wörtern juhhidi „Gespann“, hemidi „Hemd“, jungidi „Junges“.

Das hochaltertümliche –ithi-Suffix erscheint in ca. 250 Ortsnamen Nord- und Mitteldeutschlands. Es tritt an Ableitungsgrundlagen an, die wir zum größten Teil aus dem Deutschen und Germanischen erklären können, jedoch auch an Elementen, zu dessen Deutung wir in anderen Sprachen suchen müssen. Hinzu kommt, daß einige Wortelemente enthalten, die in die frühgermanische Zeit hineinweisen, so etwa das Wirken des Vernerschen Gesetzes, das einen alten akzentbedingten Wechsel beschreibt zwischen –r- und –s-, noch zu erkennen in frieren – Frost – engl. freeze.

In diesen Toponymen steckt niemals ein Personenname, sondern sie nehmen Bezug auf die Bodenbeschaffenheit, auf Gewässer, das Klima, die Farbe oder Beleuchtung, auf Geländeformen, Wald- und Baumarten, Pflanzen oder Tiere. Etwa ein Drittel der -ithi-Namen ist noch ohne ansprechende Erklärung.

Weitere altgermanische Wortbildungen runden das Bild ab

Horst: Horst, bezeugt in mhd. hurst, hürste, ahd. hurst, asä. hurst, mnd., mndl. hurst, horst, aeng. hyrst, bedeutet „Gebüsch, Gestrüpp“, jünger auch „Vogelnest“. Als Grundwort bezeichnet -horst zumeist „Buschwald, Gebüsch, Gehölz, Gesträuch, Gestrüpp, Niederholz“, auch „bewachsene kleine Erhöhung in Sumpf und Moor“.

Ich habe diesen Typus an anderer Stelle ausführlich behandelt[24]. Deutlich ist dabei die Verbindung zwischen Norddeutschland und England. Sie spricht für sich.

Sethen: Vor allem im Osnabrücker Raum findet man Bildungen mit einem zweiten Element -set-. Hierzu gehören aber auch z.B. der bekannte Name Holsten, Holstein von Holtsaten „bei den Holz-, d.h. den Waldbewohnern“, Wursten, von Wurtsate „der auf der Wurt Ansässige“[25], Waldsassen u.a.m.[26]. Diese Ortsnamenbildung ist bis nach England gelangt[27].

Hierher gehören u.a. Fleeste südlich von Bremerhaven, Geestenseth östlich von Bremerhaven, Middelseten bei Harsewinkel, Varensetten bei Bad Iburg, Woltzeten bei Emden.

Ufer/over: Dieses Ortsnamenelement weist ebenfalls eine Verbindung nach England auf: deutsch Ufer, englisch over. Die hannoversche Lage-Bezeichnung „Am hohen Ufer“ enthält mit dem deutschen Wort Ufer ein sehr altes Wort: Deutsch Ufer, ist altfriesisch ovira, mittelniederdeutsch over, niederländisch oever, altwestfälisch dey oyvere.

In England lauten entsprechende Ortsnamen Benover, auch Hanover  in Worcestershire, alt heánover, Hannover Point auf der Isle of Wight.

Warum heißt Halle eigentlich Halle?

Jeder weiß, daß die Entwicklung der Stadt mit dem Salz verbunden ist; frühe Salzfunde in der Nähe der Stadt haben zu früher Blüte der Siedlung geführt. Da lag es nicht fern, auch den Ortsnamen Halle mit einem Wort für „Salz“ zu verbinden. Und sprechen nicht Ortsnamen wie Hallstadt, Hallein, Reichenhall für eine Verbindung mit einem Salzwort? In Göttingen gibt es die Saline Luisenhall. Auch Wintershall fällt einem ein.

So weit, so gut. Aber wo ist das Wort für „Salz“, das ja wohl im Deutschen hall oder so ähnlich gelautet haben müßte? In Lexika liest man: „hal oder halle deutet stets auf Salzvorkommen hin“. Und wo ist das Wort? Bekanntlich führt von hochdeutsch Salz oder niederdeutsch salt, solt (etwa im Ortsnamen Soltau) kein Weg zu einer Form Hall.

Gibt es ein anderes Wort? Man hat danach gesucht. Man glaubte es zu finden in: mittelhochdeutsch hal = Salzquelle, das nirgends bezeugt ist. Oder in griechisch Sëò  „Salz“, aber was hätte das mit Halle zu tun? In einem indogermanischen Wort hal für „Salz“, das aber nirgends zu fassen ist. In keltischem Ursprung, vor allem wegen walisisch halen gleich „Salz“, aber nur im Inselkeltischen entwickelte sich altes –s- zu –h. Man bemühte das Dakische, Thrakische, Lydische, Illyrische, ja sogar ein unbekanntes Volk, um das in indogermanischen Sprachen bezeugte s- des Salzwortes (in lateinisch sal, slavisch solü usw.) zu einem h- zu entwickeln.

Man kann es kurz machen: nichts gelingt, nichts überzeugt. Auch die angeblich keltisch-slavischen Halloren in Halle können nicht weiterhelfen; es handelt sich wahrscheinlich um eine verderbte Latinisierung für „Halleute“ und erinnert an Ausdrücke der Studentensprache wie summa summarum, in puncto punctorum, in saecula saeculorum u.a.m.

Nichts hilft für den Ortsnamen Halle. Sollte etwa der 1869 in Halle August Friedrich Pott Recht haben, wenn er unterstrichen hat[28], daß „die Halle geheißenen Örter keineswegs [nach dem Salz] benannt wurden“?

Ich denke, er hat.

Besonders deutlich zeigt dieses eine Verbreitungskarte derjenigen Orte, deren Namen mit dem von Halle identisch sind, oder damit verwandt sein dürften. Kartiert wurden u.a.: Hahlen bei Menslage (Kreis Osnabrück), Hahlen bei Minden, Halen bei Emstek in Oldenburg, Halen bei Hasselt (Limburg), Halen in Hoch-, Niederhalen bei Düsseldorf, Halle bei Xanten, Halle (Saale), Halle in Westfalen, Halle-Booienhoven bei Leuven (Brabant), Halle bei Antwerpen, Halle bei Brüssel. Dazu die Hopfenbau-Landschaft Holledau in Bayern, Halloh bei Bad Segeberg, Halverde westlich von Bramsche, Halingen bei Menden, Hehlen bei Bodenwerder, Helle bei Wiedenbrück.

Der Schwerpunkt der Hall(e)-Namen liegt also nicht im Alpenbereich, sondern im südlichen und westlichen Niedersachsen, in Westfalen und in Belgien. Diese norddeutschen Namen haben weder mit einem Salzwort Hal- noch mit der deutschen Halle als „Aufbewahrungsplatz“ zu tun.

Viele Argumente sprechen aber dafür, daß den meisten Hal(l)-Namen eine germanische . Weiterentwicklung aus einer indogermanischen. Wurzel mit Bedeutung „neigen, Schräge, Abhang“ zugrunde liegt. Sie wird u.a. auch sichtbar in dem deutschen Wort. Halde, mittelhochdeutsch helden „neigen“, norddeutsch Helling, auch Helge, was „geneigte Holzfläche beim Schiffbau“ bedeutet. Auch das nordgermanische hald, hall  für „abschüssig, schräg“ hat eine ähnlich Bedeutung

Der Alpenraum bildet ein zweites Zentrum. Dort scheint ein – allerdings kaum in die voralthochdeutsche. Zeit reichendes – Wort hal für „Saline, Salzbergwerk“ zu stehen. Es ist jedoch zur Vorsicht zu raten, so etwa im Fall des viel zitierten Hallein, das 1198 als Mühlbach bezeugt ist und erst seit dem 14.Jh. als Hallein. Oder auch im Fall von Hallstadt, dessen Name erst seit dem 14. Jh. bezeugt ist!. Hier ist wahrscheinlich eine Variante von Hal gleich Hang gleich „(Salz)bergwerk“ produktiv geworden und hat sich – vor allem durch die große Bedeutung von Reichenhall – in jüngerer Zeit verbreiten können.

Für den Ortsnamen Halle an der Saale kam dieses allerdings zu spät. Halle trug diesen Namen schon lange vorher und – da bin ich sicher – enthält kein Salzwort, sondern eines für „Schräge, Neigung, Gefälle“.

Und damit bin ich nun wirklich am Ende angelangt, oder vielleicht doch erst am Anfang, denn die knappe Passage über den Ortsnamen Hallehat uns nach Sachsen-Anhalt geführt, und die Toponymie gerade dieses Landes wartet – trotz wichtiger Vorabeiten, die gerade hier in Leipzig geleistet worden sind - dringend auf Bearbeitung. Ebenso die Namenlandschaft Thüringens und auch die Niedersachsens. Alle drei Länder sind wahrscheinlich Kernbereiche frühgermanischer Namengebung und werden daher wichtige Auskünfte zum Inhalt dieser Vorlesung geben können: Ortsnamen als Geschichtsquelle.



[1] H. Krahe, Ortsnamen als Geschichtsquelle, Heidelberg 1949, S. 9.

[2] Krahe, Ortsnamen als Geschichtsquelle, S. 9f.

[3] Krahe, Ortsnamen als Geschichtsquelle, S. 14.

[4] H. Krahe, Die alten balkanillyrischen geographischen Namen, Heidelberg 1925; H. Krahe, Lexikon altillyrischer Personennamen, Heidelberg 1929.

[5] H. Krahe, Vom Illyrischen zum Alteuropäischen, Indogermanische Forschungen 69(1964)201-212.

[6] Krahe, Ortsnamen als Geschichtsquelle, S. 30.

[7] E. Förstemann, Die deutschen Ortsnamen, Nordhausen 1863, S. 31.

[8] W.P. Schmid, Baltische Gewässernamen und das vorgeschichtliche Europa, Indogermanische Forschungen 77(1972)1-18, hier: S. 10.

[9] In: Beiträge zur Namenforschung 1(1949/50)44.

[10]M. Vasmer, Schriften zur slavischen Altertumskunde und Namenkunde, hrsg. v. H. Bräuer, Bd. 1, Berlin-Wiesbaden 1971, S. 86f.

[11]Vasmer, Schriften I, S. 86; zu Bagva ders., Russisches etymologisches Wörterbuch I 36.

[12] Vgl. O.N. Trubačev, Nazvanija rek pravoberežnoj Ukrainy, Moskva 1968, passim; J. Domański, Nazwy rzeczne na –y, -ew, -wa, -wia, Onomastica 40(1995)15-41; J. Rieger, O niektórych polskich i ukraiñskich hydronimach na -*û-, Hydronimia S³owiañska II, Kraków 1996, S. 149-153; zuvor auch schon P. Arumaa, Zur Geschichte der u-stämmigen Gewässernamen im Baltischen und Slavischen. Aus dem Namengut Mitteleuropas, Festgabe f. E. Kranzmayer, Klagenfurt 1972, S. 1-12.

[13]J. Rieger, a.a.O., S. 150.

[14]Vasmer, Schriften II, S. 774.

[15]Vgl. W.P. Schmid, Zur Geschichte des Formans *-âton-, -âto, -â, Indogermanische Forschungen 74(1969)126-138.

[16]Udolph, Studien, S. 63ff.; zum Material vgl. auch A. Bañkowski, in: Nazwy w³asne a wyrazy pospolite w jêzyku i tekœcie, Opole 1986, S. 47f. (mit allerdings kaum richtiger Etymologie).

[17] Die Germania des Tacitus, 3. Aufl., Heidelberg 1967.

[18] Ebda., S. 45.

[19] Dissertatio de origine germanorum, seu Brevis Disquisitio, utros incolarum Germaniae citerioris, aut Scandicae ex alteris initio profectos, verosimilius sit judicandum (in: Opera omnia, Bd. 4, Teil 2, Genevae 1768, S. 198-205).

[20] Ebda., S. 198.

[21] Ebda., S. 205.

[22] S.v.d. Schulenburg, Leibniz als Sprachforscher, Frankfurt/Main 1973, S. 107,108.

[23] S. Feist, Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache, 3. Aufl., Leiden 1939, S. 70.

[24] Udolph, Germanenproblem S. 776.

[25]Bach 1953,237.

[26]Weitere Belege s. Förstemann 1916, Sp. 702.

[27]Siehe Smith 1956/2,94; Schram 1927,200ff.

[28] Neue etymologische Forschungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen, Lemgo 1869, S. 662.

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