Rentner bringen Putin ins SchwitzenRUßLAND

Rentner bringen Putin ins Schwitzen

Wegen der schlecht durchdachten Sozialreform sinkt die Popularität des Kreml-Chefs in ungeahnte Tiefen.

Von Ulrich Heyden

  Rußland hat genug Geld
  Daß die Rentner trotz Eis und Schnee seit Wochen auf den Straßen demonstrieren, liegt nicht nur an der Abschaffung gewohnter Vergünstigungen. Bei den niedrigen russischen Renten – sie liegen zwischen 1.000 und 3.000 Rubel (83 Euro) - macht sich für die Pensionäre jede gestrichene Vergünstigung sofort bemerkbar.

Den alten Menschen ist auch nicht verborgen geblieben, daß der Staat infolge des hohen Ölpreises seit fünf Jahren mehr Geld einnimmt als ausgibt und auf einem dicken Polster von Gold- und Währungsreserven sitzt. Insgesamt handelt es sich um 100 Mrd. Euro. Allein im vergangenen Jahr lag das Haushalts-„Profizit“ bei sagenhaften 18,7 Mrd. Dollar. Die Schulden an den Internationalen Währungsfond sind alle zurückgezahlt.

Die Regierung will das Geld lieber für Rüstung und Sicherheit ausgeben. Rußland will sich eine neue Generation von Nuklearwaffen zulegen. Im Haushalt 2005 sind beim Militär und der inneren Sicherheit Zuwächse von 28 und 26 Prozent vorgesehen. Die Ausgaben für Soziales, Bildung, Landwirtschaft und Umweltschutz wurden dagegen um 1,5 bis 15 Prozent gekürzt. Selten klafften Großmachtanspruch und Lebensqualität, Festtagsreden und Alltag so sehr auseinander.

Gennadij Schmitow ist offenbar zum Äußersten bereit. In einem Telegramm an den russischen Präsidenten drohte sich der im Gebiet Kaliningrad lebende Schwerbehinderte, öffentlich zu verbrennen, wenn ihm die Gebietsverwaltung nicht schwarz auf weiß nachweise, daß er durch die Streichung der bargeldlosen Vergünstigungen (den sogenannten „Lgoty“) und der Einführung von Barzahlungen „nichts verliere, sondern nur gewinne“. Der Kreml-Chef hatte zuvor erklärt, keinem Rentner und Invaliden dürfe es nach der Einführung der Sozialreform schlechter gehen. Schmitow, der sich als Mann mit „klarem Verstand und gutem Gedächtnis“ bezeichnet, will den russischen Präsidenten beim Wort nehmen.

Bis zur Einführung des berüchtigten „Gesetzes Nr. 122“, mit dem die „Lgoty“ durch Barzahlungen ersetzt werden, bekam die Familie Schmitow Vergünstigungen im öffentlichen Nahverkehr, beim Telefonieren und den Wohnungsnebenkosten. Insgesamt sparte das Ehepaar so 2.500 Rubel (70 Euro). All die Vergünstigungen wurden nun durch die Barzahlung von 950 Rubeln ersetzt. Der krebskranke Schmitow weiß keinen Ausweg mehr. Allein für Medikamente gab er bisher 1.000 Rubel im Monat aus.

Landesweite Proteste

Von der Streichung der Lgoty sind nicht nur Invaliden, sondern fast jeder dritte Russe betroffen – Rentner und Kriegsveteranen, Tschernobyl-Aufräumarbeiter und sogar Polizisten und Soldaten. Die landesweiten Proteste, welche Anfang Januar begannen, wollen nicht enden. Mitte Februar demonstrierten in Moskau 3.000 Menschen, in Nischni Nowgorod waren es 12.000 und im sibirischen Tomsk 7.000. In Putins Heimatstadt St. Petersburg, die sich zu einer Hochburg der Proteste entwickelt hat, gingen 5.000 Menschen auf die Straße. Das politische Spektrum der Demonstranten reicht von Sozialdemokraten und Kommunisten bis hin zu Liberalen. Letztere begrüßen die Abschaffung der noch aus Sowjetzeiten stammenden Privilegien im Prinzip, kritisieren aber die schlechte Ausarbeitung des Gesetzes.

Am 16. Februar machte Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow 1.000 Demonstranten vor der Stadtversammlung in St. Petersburg Mut. „Bei 1.000 Demonstranten zittert die Macht, bei 10.000 Demonstranten muß sie Entscheidungen treffen, mit 50.000 Demonstranten kann man die Macht zum Rücktritt zwingen.“ Kasparow leitet das „Komitee 2008“, welches die Kandidatur eines „demokratischen Kandidaten“ bei den nächsten Präsidentschaftswahlen vorbereiten will.

Der Kreml reagierte auf die Proteste bisher mit kleinen Zugeständnissen. So wurde eine Rentenerhöhung vorgezogen, die Auslieferung von verbilligten Medikamenten versprochen. In einigen Regionen führte man die kostenlose Benutzung des Nahverkehrs für Rentner wieder ein. In anderen Gebieten wurde eine verbilligte Rentner-Monatskarte ausgegeben. Doch trotz der Zugeständnisse gehen die Proteste weiter. Nun fordern die Demonstranten auch die Erhöhung der „Hunger-Renten“ und den Rücktritt der Regierung. Ein von den Kommunisten und Nationalisten in die Duma eingebrachtes Mißtrauensvotum scheiterte. Gegen die Regierung stimmten nur 112 Abgeordnete, 281 Abgeordnete der Kreml-treuen Fraktion „Einiges Rußland“ blieben dem Parlamentssaal während der Abstimmung fern.

Die Partei „Einiges Rußland“, deren Abgeordnete die Sozialreform im Parlament durchgebracht hatten, bevorzugte zunächst die Vogel-Strauß-Politik, entschied sich schließlich aber doch, in der Öffentlichkeit Profil zu zeigen. Die Partei mobilisierte ihre Anhänger in Moskau und anderen Städten zu Demonstrationen für die Reform. Hauptargument der Reformbefürworter ist, daß die Landbevölkerung von einer kostenlosen Benutzung des Nahverkehrs eh nie Gebrauch machte und von Geldzahlungen profitiere. Wie schon bei früheren Demonstrationen der Kreml-nahen Partei „mobilisierten“ Abteilungsleiter in Betrieben und staatlichen Einrichtungen ihre Untergebenen. Die Nichtteilnahme an den verordneten Demonstrationen, über die das Fernsehen breit berichtete, kann für die Arbeitnehmer Unannehmlichkeiten nach sich ziehen.

Gorbatschow und Luschkow gehen auf Distanz

An den Protesten in Rußland beteiligen sich bisher weniger als ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Doch unbedeutend seien die Proteste damit nicht, meint der bekannte Soziologe Juri Lewada. Denn nach den Umfragen seines Meinungsforschungsinstituts würden die Proteste von 41 Prozent der Befragten unterstützt, weitere 41 Prozent der Bürger hätten Verständnis für die Demonstrationen. Die Zugeständnisse der Regierung führten nicht zu einer Beruhigung, meint Lewada. „Die Leute spüren, daß man mit Plakaten, Aufrufen und dem Verbrennen von Strohpuppen etwas erreichen kann“, erklärte der Meinungsforscher gegen gegenüber dem Polit-Magazin „Kommersant Wlast“.

Für den russischen Präsidenten wird es allmählich ungemütlich. Michail Gorbatschow, der Putin bisher immer gegen Kritik aus dem Westen in Schutz genommen hatte, erklärte, dem Staatspräsidenten sei es gelungen, Stabilität herzustellen, aber nun werfe er „alles um“. Die Sozialreform sei unter Ausschluß von Öffentlichkeit und Wissenschaft von „hochmütigen“ Experten beschlossen worden. Bedrohlich empfindet Gorbatschow auch die Regierungspläne, die medizinische Versorgung und die Ausbildung kostenpflichtig zu machen. Auch der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow – selbst ein führendes Mitglied von „Einiges Rußland“ – erklärte jetzt, er werde gegen einzelne Artikel der Sozialreform vor das Verfassungsgericht ziehen. Moskau sei nicht in der Lage, alle gestrichenen Vergünstigungen durch Barzahlungen auszugleichen.

Das regierungsnahe Meinungsforschungsinstitut FOM meldete einen dramatischen Popularitätsverlust Wladimir Putins. Für den Kreml-Chef würden heute nur 43 Prozent der Wähler stimmen. Es ist der niedrigste Wert seit dem Amtsantritt Putins. Während des Präsidentschaftswahlkampfes im März vergangenen Jahres lag die Bereitschaft, für Wladimir Putin zu stimmen, noch bei 65 Prozent.

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