13.01.2023 14:10:35
GELESEN
Von Birger Schütz
Rezension zu „Mein Chef Gorbatschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs“ von Nikolai Ryschkow |
un liegen seine Erinnerungen unter dem Titel „Mein Chef Gorbatschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs“ auf Deutsch vor. Wie er im ersten Abschnitt seines Buches darlegt, sah der als konservativ geltende Politiker durchaus die Probleme des sozialistischen Riesenreiches: Die veraltete Kommandowirtschaft, die in Bürokratie erstarrte Kommunistische Partei, und die zunehmenden zentrifugalen Kräfte in den einzelnen Republiken machten eine Reformierung der sowjetischen Gesellschaft unvermeidlich. Ryschkow begrüßte den Schwenk zu Glasnost und Perestroika daher zunächst. Dabei hielt er die Sowjetunion als „einheitlichen starken Staat“ grundsätzlich für bewahrenswert.
Eine tiefgreifende Analyse „auf Basis seiner dezidierten Kenntnisse“, wie der Klappentext vollmundig verspricht, bleibt Ryschkow aber dennoch schuldig. Über eine bloße Nennung der Probleme geht seine Schilderung nicht hinaus. So werden beispielsweise die wirtschaftlichen Probleme in erster Linie durch die veraltete Planwirtschaft erklärt. Einen etwas differenzierteren Einblick hätte man sich von dem studierten Ingenieur da schon erwartet. Neben den ökonomischen Problemen schreibt Ryschkow vor allem dem seit den 80er Jahren zunehmenden Nationalismus in den nichtrussischen Unionsrepubliken die Hauptschuld am Zusammenbruch des Sowjetstaates zu.
Interessant ist dabei das Weltbild des Funktionärs, das hier zutage tritt. So versteigt sich der Autor bei der Schilderung der paradiesischen Zustände im Lande der Sowjets beispielsweise zu der Behauptung: „Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts schaute die Welt mit Staunen und Begeisterung zu, wie in der UdSSR das Problem des Zusammenlebens der Nationen gelöst wurde“. Man wüsste gern, ob die unter Stalin deportierten Völkerschaften wie Krimtataren, Wolgadeutsche, Westukrainer, Tschetschenen und die annektierten baltischen Republiken dieser Analyse vorbehaltlos zustimmen würden. Folgt man Ryschkows Analyse, fällt das Problem des Nationalismus mehr oder weniger plötzlich vom Himmel: „Aber plötzlich zeigte sich hier […] sei es im Baltikum, sei es in der Ukraine, in Grusinien, Aserbaidschan oder in einigen anderen Unionsrepubliken Mittelasiens […] wieder die grausame Fratze des Nationalismus.“
Die Frage warum das Phänomen des Nationalismus aber vor allem in den eroberten nichtrussischen Gebieten auftrat, stellt sich für Ryschkow erst gar nicht. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch Ryschkows Verständnis der Russen im sowjetischen Imperium. Diese hätten die Hauptlast „bei Aufbau und Festigung“ des Staates getragen, hätten aber keinerlei Privilegien genossen. Dass die Balten oder andere nationale Gruppen die Russen um diesen heroischen Akt keineswegs gebeten haben, lässt der Autor denn auch im Dunkeln.
Auch die gerade unter Breschnew aggressiv betriebene Russifizierung in den nichtrussischen Unionsrepubliken hat es Ryschkow zufolge nicht gegeben. Stattdessen gab es das Recht auf nationale Selbstentfaltung für alle. „Ich meine, kein vernünftig denkender Mensch kann behaupten, dass diese Postulate in der UdSSR nicht verwirklicht wurden.“ Das Streben nach Unabhängigkeit der nationalen Gruppen hält Ryschkow denn auch für eine Sache von Chauvinisten und Extremisten. Auch das Aufkommen russischer faschistischer Gruppen ist somit leicht erklärbar: „Vielfach war das darauf zurückzuführen, dass die an die Macht Drängenden und sie Ergreifenden entweder direkte Helfershelfer des Westens waren, entschlossen, Russland dem Westen zu überlassen.“
Im Dunkeln bleibt damit, wie Ryschkow die Probleme der siechen Supermacht eigentlich lösen will. Ein eigenes Konzept bietet er nicht an. Konkret wird er nur in einem Punkt, der Wirtschaft. Statt des radikalen Programms der 500 Tage von Grigorij Jawlinski, welches einen Übergang zur Marktwirtschaft in 500 Tagen vorsah, trat Ryschkow für einen evolutionären Übergang zur Marktwirtschaft ein. In einem Zeitraum zwischen sechs und acht Jahren sollten ca. 40 – 50 Prozent des Staatseigentums in Privat- oder Aktionärsbesitz übergehen. Die Kernbereiche der Volkswirtschaft, die Rüstungsindustrie, und der Besitz an Grund und Boden sollten dabei in Staatsbesitz bleiben. Ob dieses Konzept die sowjetische Wirtschaft hätten reformieren können, muss dahingestellt bleiben. Besser als die Massenverelendung infolge Jawlinskis Programm wäre es aber wohl allemal gewesen.
Bizarr wird es, wenn Ryschkow über die Folgen des Untergangs der Sowjetunion referiert. Mit deren Verschwinden sei nämlich die letzte Barriere gegen die aggressive Politik des Westens gefallen. So behauptet der Autor allen Ernstes, die Situation in Europa sei mit der Situation vor dem Münchener Abkommen von 1938 vergleichbar. Westeuropa mache durch seine Unterstützung für die aggressive Politik der USA dieser den Weg zu Weltherrschaft frei.
Überhaupt ist es das Ziel des Westens, und damit meint Ryschkow eigentlich die USA, die „geistigen Werte“ und die „gesellschaftliche Moral“ Russlands zu zerstören und so „die russische Zivilisation als alten strategischen Konkurrenten der westlichen Welt zu liquidieren“. Und das obwohl der Westen aufgrund seiner protestantische Kultur selbst in „Geist und Seelenlosigkeit“ versinke. Ein bisher wenig bekanntes Ergebnis dieses Angriffes kommt dann doch überraschend. Ryschkow zufolge bestimmen im Russland Putins nämlich „die Amerikaner über ihre Günstlinge faktisch die Sendepolitik im russischen Fernsehen“. Und dies ist nur ein kleiner Einblick in die Geisteswelt des ehemaligen Spitzenfunktionärs, die dem Leser Rückschlüsse erlauben, wer da eigentlich an den Schalthebeln der kommunistischen Supermacht gestanden hat.
Falsche Erwartungen weckt auch der Titel der deutschen Ausgabe. Im ganzen Buch findet sich keine speziell Gorbatschow gewidmete Passage. Dass Ryschkow ihn und seine Mitstreiter aber für die Hauptschuldigen am Untergang der Sowjetunion hält, zieht sich durch das ganze Buch. Immer wieder ist von Käuflichkeit, Prinzipienlosigkeit und fehlender Anständigkeit des Generalsekretärs die Rede. Tatsächlich legt der russische Originaltitel „Der Kronzeuge. Über den Zerfall der UdSSR“ auch weniger den Fokus auf Gorbatschow als vielmehr den Prozess des Zerfalls an sich. Warum der Verlag Neues Berlin den ehemaligen Generalsekretär hier gleich im Titel zum Hauptschuldigen machen will, bleibt nur zu vermuten, scheint aber durchaus ins Programm zu passen. So hatte der Verlag bereits 2012 Jegor Ligatschows „Wer verriet die Sowjetunion?“ herausgebracht. Auch für den konservativen Hardliner war Gorbatschow der Hauptschuldige am Untergang der UdSSR.
Am Ende der Lektüre bleibt ein komisches Gefühl: Zu vieles in diesem Buch ist in sich widersprüchlich, tragikomisch und verschwörungstheoretisch. Allerdings ist es durchaus erhellend, um einen Einblick in das Geistesuniversum der ehemaligen Politbüroapparatschiks zu bekommen.
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Rezension zu „Mein Chef Gorbatschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs“ von Nikolai Ryschkow, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2013,256 Seiten, 16,99 Euro, ISBN-13: 978-3360021687.
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