09.08.2023 13:11:56
GELESEN
Von Eberhart Wagenknecht
er Mann kann erzählen. Wenn Norman Davies von den alten Reichen berichtet, glaubt man als Leser irgendwann, man befände sich im Märchen. „Borussia“, das ist doch ein erfolgreicher deutscher Fußballverein, und doch steht er im 6. Nachruf als Reichsname. Borussia konnte also auch anders. Es war nicht immer eine kickende Aktiengesellschaft der NRW-Metropole Dortmund. Der Name hatte einst ehernen Klang, und der lebt in den Erzählungen des Autors über Land und Reich der „Prussen“ wieder auf. Es sind die Preußen, die hier lebendig werden. Borussia – Land der Prusai, so gingen sie in die Geschichte ein, ehe in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs nach gut 700 Jahren ihr Glanz und ihr Gloria untergingen.
Deutsche Kreuzritter waren die Gründer. Sie schufen 1230 die Provinz Preußen und nutzten sie als Basis für weitere Vorstöße nach Osten, zur Düna, zur Memel und hatten damit einen Ostseezugang.
Russen und Preußen verband eine wechselvolle Geschichte:1773 fädelten Friedrich II. von Preußen und Zarin Katharina die Große von Russland - eine Fürstentochter aus dem damals preußischen Stettin - die erste Teilung Polens ein. 1813 waren es vor allem Preußen und Russen, die in der Völkerschlacht bei Leipzig dem französischen Eroberungsdrang unter Napoleon ein Ende machten. Bis in die allerjüngste Geschichte wirken diese Taten fort. Und selbst im 21. Jahrhundert ist noch von „preußischen Tugenden“ die Rede, wenn es um Fleiß, Pünktlichkeit, Treue, Redlichkeit, Pflichtgefühl, Mut, Tapferkeit und Anstand geht.
„Der Pomp sowjetischer Militärparaden – vergangen. - Die Eroberungen stolzer westgotischer Könige – längst vergessen. - Die Wappen deutscher Herzöge – im Strudel der Geschichte verschwunden“, so schreibt mit großem Atem der Theiss-Verlag über das Werk des britischen Historikers Davies.
„Zusammengebrochen, verloren, für alle Zeiten von der politischen Landkarte Europas radiert. Die Geschichte Europas ist auch eine Geschichte verschwundener Reiche. Das stolze Alt Clud, heute ein heruntergekommener Landstrich in Schottland, das sagenumwobene Burgund oder das preußische Kernland der Prussen, im 12. Jahrhundert eine terra incognita, aber im Verlauf der Geschichte einer der einflussreichsten Staaten Europas: Norman Davies spürte 15 solcher Reiche vor Ort und in bisher vernachlässigten Quellen nach.“
Viele Zeitgenossen haben selbst miterlebt, wie jüngst der Tod eines Reiches in Europa über die Bühne ging, als der Koloss Sowjetunion vor ihren Augen zusammenstürzte, implodierte und sich auflöste. Gut zwanzig Jahre ist das her. Viele der Protagonisten leben und agieren auch heute noch. Michail Gorbatschow, der letzte Herrscher der Sowjetunion und letztlich ihr „Totengräber“, ist abgetreten. Aber Wladimir Putin, einst Kundschafter des mächtigen sowjetischen Geheimdienstes in Deutschland, heute Präsident Russlands, versucht immer noch etwas von dieser einstigen kolossalen Größe wiederherzustellen. Doch das ist nicht möglich. 1924 bis 1991 hatte das Rote Rom, wie Moskau oft genannt wurde, europäische und Weltgeschichte geschrieben - am Ende auch Preußen vernichtet - ehe seine Herrschaft selbst unterging.
Heute gehen die einstigen Länder, Republiken und Provinzen des kommunistischen Imperiums längst entschlossen eigene Wege. „UdSSR - Ein Staat verschwindet – endgültig“, heißt das Kapitel folgerichtig bei Norman Davies.
Und was der Verlag am Ende generell anmerkt, gilt für alle Reiche, denen Davies einen Nachruf widmet, für Goten und Burgunder, Litauer, Galizier und Sowjets: „In diesem politisch wie historisch aufrüttelnden und sprachlich virtuosen Standardwerk erzählt er ihre Geschichte von der Entstehung bis zum Untergang – und wie wenig von ihrer großen Vergangenheit heute in Erinnerung geblieben ist. Denn das kollektive Gedächtnis ist wichtig, um das heutige Europa zu verstehen.“
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Rezension zu „Verschwundene Reiche: Die Geschichte des vergessenen Europa“ von Norman Davies, Theiss Verlag 2013, 958 Seiten, 39,95 Euro, ISBN-13: 978-3806227581.
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