Russlands Olympia-Pleite in Vancouver und was noch folgtLEISTUNGSSPORT

Russlands Olympia-Pleite in Vancouver und was noch folgt

Alles sah so einfach aus: Russische Sportler würden bei den XXI. Olympischen Winterspielen im kanadischen Vancouver von Sieg zu Sieg eilen und das dankbare Mütterchen Russland würde sich großzügig zeigen wie nie zuvor. Unmittelbar nach den Siegen könnte das Füllhorn reicher Gaben über den glücklichen Gewinnern ausgeschüttet werden – nicht erst nach langen, langen Monaten, wie es nach den Pekinger Sommerspielen von 2008 geschehen war. Sogar Patriarch Kyrill, Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche, erflehte noch Ende Januar 2010 den himmlischen Segen für das russische Olympiateam, das - wie die Presse phantasierte - „für viele, viele Siege bereitsteht“.

Von Wolf Oschlies

Details sollten noch geheim bleiben, aber sie wurden bereits im Januar 2010 bekannt: Mit insgesamt 178 Athleten wollte Russland in 75 (von 86) Disziplinen antreten, wobei Sportminister Vitalij Mutko mit über 30 Medaillen rechnete, davon bis zu elf goldene, „und mit etwas Glück können es auch mehr werden“.

Jede Medaille sollte generös „versilbert“ werden: Eine goldene würde der Staat mit 100.000 Euro belohnen, eine silberne mit 60.000 und eine bronzene mit 40.000. Daneben hatten Organisationen wie der „Unterstützungsfonds für die Olympioniken Russlands“ nochmals dieselben Prämien ausgesetzt, dazu Luxus-Autos der deutschen Marke „Audi“  und weitere schöne Dinge. Nebenher bemerkt: Die dreißig deutschen Medaillen und weitere Platzierungen kosteten das Sozialwerk des deutschen Sports nur 555.000 Euro, wobei die Prämierungen von Goldmedaillen (15.000 Euro) bis zu achten Plätzen (1.500 Euro) reichten.

Illusionen und Realitäten 

Der reiche russische Gabentisch konnte fast zur Gänze eingespart werden. Wie ertappte Sünder kehrten die russischen Olympioniken in der späten Nacht zum 2. März aus Vancouver heim, wo sie „das schlechteste Resultat in der Geschichte russischer Teilnahmen an Winter-Olympiaden“ eingefahren hatten. Mit nur drei Goldmedaillen lagen sie weit unter dem bisherigen „goldenen Minimum“, den acht Medaillen von Turin 2006. Auch die fünf Silber- und sieben Bronzemedaillen waren eine so blamabel geringe Ausbeute, dass Sportminister Mutko der unverblümten Aufforderung von Präsident Medwedjew zu folgen bereit war, nämlich von seinem Posten zurückzutreten.

Mutko gilt als Versager vom Dienst, nachdem er als langjähriger Präsident des Russischen Fußballverbands diesen Sport in Grund und Boden gewirtschaftet hatte. So wenigstens wird es ihm von russischen Sportfans vorgeworfen, was unfair ist. Mutko hat sich vielmehr bemüht, die Unsitte aus Sowjetzeiten zu beheben, dass das Verteidigungsministerium Spitzensportler zum Wehrdienst einzieht, um ihnen so eine Karriere im Profisport, dem russischen oder ausländischen, zu verbauen. Wenn es also gegen Mutko geht, dann könnten hier auch Rechnungen altsowjetischer Betonköpfe zur Begleichung anstehen.
Auch Leonid Tjagatschow, Chef des Olympischen Komitees Russlands (OKR) und ein besonders unbedarftes Großmaul („das OKR rechnet mit 50 Medaillen“), bot seinen Rücktritt an, davon überzeugt, dass er ohnehin sakrosankt sei: Nationale Olympische Komitees unterstehen allein dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), das fuchsteufelswild werden kann, wenn sich irgendein Politiker in olympische Angelegenheiten einmischt.

Russlands Sportuhren gehen anders

Aber Russlands Uhren gehen anders, momentan besonders sportliche Stoppuhren. Tjagatschows Rücktrittsangebot wurde in Rekordtempo angenommen, denn diesem Erbstück aus Putins KGB-Vergangenheit trauerte niemand nach. In Russland wurden nach der Vancouver-Pleite genüsslich seine verqueren Prognosen zitiert: „Russland wird unter den drei besten Olympianationen landen“; „die russischen Eishockeyspieler haben das Zeug, die Goldmedaillie zu gewinnen“ und ähnliche Tiraden mehr. Alles fragte sich, wie dieser Mann so weit aufsteigen konnte, nachdem in Russland eine brisante Veröffentlichung bekannt geworden war. Im Februar 2009 publizierte der US-Historiker Yuri Felshtinsky, 1956 in Moskau geboren, sein Enthüllungsbuch „The Corporation: Russia and the KGB in the Age of President Putin“, in dem über KGB-Mann Tjagatschow der Stab gebrochen wurde – so radikal, dass ihn selbst Putin nicht mehr halten konnte.

Anders lief es mit Sportminister Mutko, der eine Gnadenfrist bis zum 7. April eingeräumt bekam, damit er vor dem Parlament, der „Duma“, einen Vortrag über die Pleite von Vancouver und ihre Ursachen halten könne. Auch danach wird ihm nichts passieren: Sein Ministerium existiert erst seit anderthalb Jahren, was nun wirklich keine ausreichende Frist ist, in dem überbürokratisierten russischen Sport einen Wandel zum Besseren einzuleiten. Mehr noch: Am 5. März hat ihm Premier Putin einen Sündenbock oder Blitzableiter  zur Seite gestellt: Jurij Nagornych. Der Moskauer Sportfunktionär, wurde Vize-Minister mit der alleinigen Aufgabe, Organisation, Finanzierung und personelle Vorbereitung der Winterspiele von 2014, die im russischen Sotschi stattfinden, zu leiten.
 
Details sollten Anfang April 2010 bekannt sein, wenn die reguläre Sitzung des 2002 gegründeten „Rats für die Entwicklung von Körperkultur und Sport“ stattgefunden hat. Dieses geheimnisumwitterte Gremium – Vorsitzender Präsident Dmitrij Medwedjew, Stellvertreter Premier Wladimir Putin – ist sozusagen das allmächtige Politbüro des russischen Sports, in dem alle Grundfragen beraten und beschlossen werden – mit „Erfolgen“, wie sie zuletzt in Vancouver zu bewundern waren. 

Wenige Sieger, viele Versager     

Der neue Sotschi-Manager Nagornych hat keine Erfolgschance, aber davon redet noch niemand. Einstweilen steht ganz Russland unter dem Schock des „Pechs“, der „Schande“, des „Zusammenbruchs“ von Vancouver. Iwan Skobrew, Eisschnelläufer und Silbermedaillengewinner über 10.000 Meter, übernahm die undankbare Aufgabe, sich bei der Heimat für das russische Team zu entschuldigen: „Verzeiht uns, wir haben getan, was wir konnten. So ist der Sport, jeder, der an den Start ging, hat sich alle Mühe gegeben, aber nicht bei jedem hat es geklappt“.

So redete ein echter Sportsmann, der offenkundig Seltenheitswert im russischen Team hat. Im Internet waren russische Videos zu sehen, die zeigten, wie sehr sich russische Sportler freuten, wenn Konkurrenten aus anderen Ländern stürzten, und die im anderen Fall Journalisten und Fans die Kameras aus den Händen schlugen.

Das „Russische Haus“, eine mit großem Aufwand in Vancouver eingerichtete Public-Relations-Zentrale, hatte drei Aufgaben: „die Moral der Olympioniken zu heben“, Kontakte zur russischsprachigen Diaspora in Kanada zu knüpfen und Werbung für Sotschi 2014 zu machen. In Moskau war man überzeugt, ein Erfolgsmodell geschaffen zu haben, und plante schon, dieses bei allen künftigen Olympiaden, „Jugend-Olympiaden“, Weltmeisterschaften etc. einzusetzen. Vermutlich aber wird man die Finger davon lassen: Sportliche Versager sollen nicht mit Repräsentation angeben, zumal sich das „Russische Haus“ nicht etwa dadurch einen Namen machte, dass es Kontakte zu Sportlern stöpselte, vielmehr durch „kruglosutotschnye pjanki“, was man mit „24-Stunden-Saufereien“ übersetzen muss.

Richtig glücklich war im Team der Russen nur Skitrainer Jurij Kaminskij, dessen Schützlinge Nikita Krjukow und Aleksandr Panshinskij das erste olympische Gold und Silber holten. Miliz-Leutnant Krjukow bekam einen telefonischen Glückwunsch seines obersten Chefs, des russischen Innenministers General Raschid Nurgaliew, aber keinen Sonderurlaub. Nur drei Tage durfte er nach der Rückkehr aus Vancouver ausruhen, dann rief wieder der Dienst. Krjukow war eine Ausnahme unter vielen Versagern und Verlierern, die die Russen daheim in Harnisch brachten.

Ein veraltetes Sportsystem

Wie eine Repräsentativumfrage des bekannten Meinungsforschungsinstituts „Levada-Zentrum“ ergab, sehen über 60 Prozent der Russen in einem veralteten Sportsystem und in schlechter Vorbereitung der Sportler die Ursachen für den „Zusammenbruch“ von Vancouver. 14 Prozent glaubten, russische Sportler seien in Vancouver „die Opfer voreingenommener Wettkampfrichter“ gewesen und 63 Prozent gaben sich überzeugt, dass man bei den XXII. Olympischen Winterspielen, die 2014 im russischen Sotschi stattfinden, „bessere Resultate als in Vancouver“ aufweisen werde.

Fünf Prozent waren der gegenteiligen Meinung, und sie werden wohl Recht behalten. Der zurückgetretene Sportminister Mutko war u.a. für ein „Föderalprogramm zur Entwicklung des Sports in Russland“ verantwortlich, das bis 2010 laufen soll und frühestens 2018 erste Resultate erbringen könnte. Nach menschlichem Ermessen wird sich der Niedergang des russischen Wintersports fortsetzen, der schon seit langen Jahren zu verzeichnen ist: Bei den Spielen im norwegischen Lillehammer war Russland 1994 die beste der teilnehmenden Nationen, im japanischen Nagano reichte es 1998 nur noch zum dritten Platz, in Salt Lake City (USA) zum fünften (mit immerhin fünf Goldmedaillen). In Turin gab es 2006 ein kleines Zwischenhoch, da 22 Medaillen, darunter acht goldene, für den vierten Platz reichten. In Vancouver folgte dann der Absturz – 15 Medaillen (dreimal Gold) und gerade mal elfter Platz.

Sotschi 2014 – die nächste Pleite? 

Jetzt hofft alles auf Sotschi 2014 – das noch so schön weit weg ist, weswegen man  sich keine detaillierten Sorgen machen muss und in Träumen schwelgen kann. Zum Glück gibt es ein paar kreative Ruhestörer wie Iwan Isajew, Chefredakteur der Fachzeitschrift „Skisport“, der den gesamten russischen Wintersport auf dem Weg ins „tupik“ sieht, in die Sackgasse.

Russisches Sportgeschehen, so Isajew, wird von unfähigen Funktionärs-„Oligarchen“ manipuliert, die Riesensummen für pseudosportliche Shows ausgeben, dafür aber Sportschulen für Kinder und Jugendliche schließen. In Russland stirbt der Breitensport aus: Während die benachbarten Länder Finnland und Schweden allwinterliche Skiwettbewerbe für jedermann ausrichten, an den nehmen Zehntausende teilnehmen, gibt es in Russland davon weit und breit nichts.

Weil das symptomatisch für russische erzwungene Sportabstinenz ist, wird es in Sotschi auch nicht mehr Medaillen als in Vancouver geben, eher deutlich weniger. Nicht einmal der diplomatische Jacques Rogge, seit 2001 Präsident des IOC, traut den Russen für Sotschi viel mehr als große Worte zu, zumal auch ein politisch so wichtiges Ereignis wie Olympische Spiele im eigenen Land sie nicht zu überragenden Leistungen motivieren kann.  

Auf diese Perspektive werden noch Wetten angenommen, da sich in Russland als herrschende Meinung durchsetzt, was Premier Putin als Erklärung des russischen Versagens in Vancouver ausbreitet und dabei ganz nebenher als Machtkampf mit Präsident Medwedjew ausficht. Medwedjew forderte Minister Mutko und weitere „Verantwortliche“ zu „mutigen Schritten“ auf, also zum Rücktritt. Dazu war Mutko bereit, wurde von Putin aber im Regierungsboot gehalten. Seine sportliche Schadensbegrenzung referierte Putin am 5. März in einer 50-minütigen Ansprache vor versammelten Sportfunktionären: Es ist das böse Ausland, dass Russland dessen Sporterfolge neidet und seit knapp 20 Jahren bemüht ist, den russischen Sport zu sabotieren.

Putins Ursachenforschung

Als „in den 90-er Jahren Russland sich der Welt gegenüber öffnete“, so Putin, begannen Abwerbung von Trainern und Werksspionage von Trainingsmethoden. Hinzu kamen speziell in Vancouver ungewohnte Wetter- und Klimabedingungen, antirussisch eingestellte Wettkampfrichter, übertriebene und vor allem gegen Russen praktizierte Dopingkontrollen etc. Natürlich habe Russland seinem Premier zufolge, zu lange zu wenig in sportliche Infrastruktur investiert, aber Geld allein mache nicht siegreich: „Bei den Winterspielen von Turin haben wir dreimal weniger Mittel als für Vancouver aufgewendet, aber das Resultat von Vancouver war dreimal schlechter als das von Turin“. Wenn man zu den staatlichen Aufwendungen weitere hinzurechnete, über deren Art und Herkunft sich Putin nicht äußerte, dann war die Finanzierung von Vancouver sogar fünfmal höher als die Von Turin, aber genützt hat es nichts.
   
Ganz am Rande sagte Putin etwas Vernünftiges, z.B. als er konstatierte, „Vancouver hat gezeigt, uns fehlt Konkurrenz innerhalb einzelner Sportarten“, was ja wohl heißen soll, dass Sportfunktionäre zu rasch auch mit mittelmäßigen Leistungen zufrieden sind, weil sie das internationale Leistungsniveau nicht ausreichend kennen. Als er das sagte, dachte er wohl an seinen Landsmann Aleksandr Choroschilow, der als Skilauf-Größe gilt und 2006, 2007 und 2008 russischer Meister im Slalom war. In Vancouver startete er fünfmal. Seine beste Platzierung war ein 21., seine schlechteste ein 45. Rang: Und Choroschilow ist beileibe kein Einzelfall, wie Dmitrij Lojew, Pressesprecher des Russischen Biathlon-Verbands,  vorrechnete: In Vancouver wurden in 86 „Sportkomplexen“ Medaillen vergeben, aber in 50 bis 60 Disziplinen hatten wir keine Athleten, die eine reale Chance besaßen, sich unter den ersten Zehn zu platzieren“.
 
Angesichts solcher Umstände sind Putins Andeutungen oder Anklagen von Abwerbungen und Ausspionieren des russischen Sports infantiler Unsinn. Wenn Russen dem Ausland sportliche „Entwicklungshilfe“ zukommen lassen, dann ist das die unfreiwillige Folge der Engstirnigkeit von Russen. Sie haben z.B. 2010 die Athletin Jelena Chrustaljowa aus ihrem Biathlonteam geworfen und waren dann sehr böse, als sie für Kasachstan startete und eine Silbermedaille erkämpfte. Es war die einzige Medaille, die Kasachstan errang. Gar nicht zu reden von Israel, wo der ganze Sport größtenteils ein russisches Heimspiel ist. Der russische Antisemitismus hat viele Juden aus Russland vertrieben, die sich in Israel rasch zurecht fanden.

Integrationsministerin Sofa Landver wurde 1949 in Sankt Petersburg, damals noch Leningrad, geboren, ihre Partei „Yisrael Beiteinu“ (Unsere Heimat Israel) ist eine einflussreiche Vereinigung ehemaliger russischer Staatsbürger, und bei der Olympiade in Peking (2008) bestand die israelische Mannschaft fast ausschließlich aus „Russen“, Trainer und Mannschaftsärzte mitgezählt.

Russische Sieger, gedopte Sieger?

Putin forderte höchstes Niveau in der „wissenschaftlichen und medizinischen Vorbereitung der Sportler“, wobei „streng das Gesetz zu befolgen ist: Ehrlicher Sport und Doping sind unvereinbar“. Genau das glauben in Russland nur wenige und der Journalist Andrej Kolesnikow, Chefredakteur der rotzfrech-genialischen Jugendzeitschrift „Russischer Pionier“ (www.Ruspioner.ru) sprach es höhnisch aus: In Vancouver wurde erstmals ernst gemacht mit dem uralten Versprechen, das Doping zu bekämpfen. Russische Trainer und Athleten konnten nicht wie früher nach Herzenslust betrügen, Regeln verletzen, dopen. Gewiss wurden sie auch früher hin und wieder erwischt, aber was machte das schon – man hatte ausreichend Sportler zur Hand, Trainer und Athleten griffen in vollem Risikobewusstsein gern und häufig zu Drogen, und „wenn einer oder zwei durch die Dopingproben kamen, dann war das für uns gleichbedeutend mit noch einem ersten und einem zweiten Platz“.
 
So war es immer, und das einzig Verwunderliche am russischen Doping war, dass Russen während der Winterspiele von Vancouver nicht dopten. Mehr noch: Gerade ihre Misserfolge waren der Beweis, dass sie wirklich „clean“ waren und nicht ihr Doping nur besser getarnt und kunstvoller dosiert hatten. Nein, sie nahmen keine verbotenen Substanzen und gingen folglich leer aus, wie sie früher mit Dopingmitteln die Medaillenränge gestürmt hatten.

Details hatte noch Ende 2009 der deutsche Sportwissenschaftler Michael Kalinski mitgeteilt, als er eine geheime Studie zum Einsatz von Anabolika im sowjetischen Sport auswertete.

1987 hatte Gorbatschows Glasnost auch den Sport erreicht und unglaublich Tatsachen aufgedeckt: Namenslisten von gedopten Olympiasiegern und Weltmeistern, Preislisten von „Muskelpillen“ russischer Sportler, Todeslisten von Dutzenden Sportlern, die die Einnahme leistungsfördernder Mittel nicht lange überlebt hatten, Geständnisse mutiger Einzelner und vieles mehr.

Dopingkontrollen wie nie

Das war bemerkenswerte Ehrlichkeit, die aber keinerlei positive Folgen hatten. Noch zwei Jahrzehnte später, das ganze Jahr 2009 über, wurde der russische Sport von so vielen Dopingaffären geschüttelt, dass in den internationalen Medien nur gefragt wurde, ob man einzelne russische Sportverbände von den Spielen in Vancouver ausschließen solle, oder gleich das ganze Team aus Russland. Die russische Sportführung unter Ressortminister Mutko geriet im August 2009 in Panik und ordnete an, dass alle 220 (!) Vancouver-Kanidaten bis zu den Spielen drei oder vier Mal auf Doping geprüft werden sollten, und „mehr ist nicht nötig“ (Mutko). Offenkundig hatten die Tests reiche „Beute“ erbracht, denn nach Vancouver wurden nur 178 Athleten geschickt, mehr als 40 wurden also ausgesondert. Warum?

Noch Ende Januar 2010, also knapp zwei Wochen vor Beginn der Spiele, wurde die russische Skiläuferin Aljona Sidko des Dopings überführt. Sie war kein Einzelfall: Nach Ansicht von Sandro Donati, Italiens angesehenstem Dopingverfolger, ist die „Russen-Mafia“ an 20 Prozent des globalen Dopingumsatzes aktiv beteiligt. Und Nikolai Durmanow, Direktor der Antidoping-Kommission des russischen NOK, hält den Kampf gegen Doping in Russland längst für verloren: „Tausende arbeitslose Chemiker, ein unregulierter Arzneimittel-Markt und unzählige Talente, die mit dem Sport ihrem elenden Leben entfliehen möchten – bei uns sind alle Voraussetzungen gegeben, um alles nur noch schlimmer zu machen. Russland könnte in Sachen Doping für Europa das werden, was Kolumbien in Sachen Kokain für die USA ist“.

Mitleid mit den Russen?

Es war unverkennbar, dass Medwedjew, Putin und andere die Pleite von Vancouver mit kolossaler Verärgerung aufnahmen: Als patriotische Russen verletzte es sie, dass die einst erfolgverwöhnten Sportler ihres Landes nun nichts mehr taugten. Als Repräsentanten einer (vermeintlichen oder realen) Großmacht musste es ihnen peinlich sein, ein sportliches Entwicklungsland zu vertreten. Und am schlimmsten war, dass das postkommunistische Russland nicht einmal den Erfolgstrick der kommunistischen Sowjetunion wiederholen konnte: Die konnte, wie das gegenwärtige Russland, ihre Bürger auch nicht mit elementaren Lebenserfordernissen versorgen, bot als nationalistische Kompensation aber sportliche Rekorde und Medaillen in Massen. Ähnlich hielten es die DDR und andere „sozialistische Bruderländer“: Was brauchen die Bürger ausreichende Nahrung und gute Kleidung, wenn ihr „sozialistisches Heimatland“ ein weltweiter Begriff für sportliche Höchstleistungen ist? Dass diese zumeist durch Doping erschlichen worden waren, wusste kaum jemand, weil niemand es so genau wissen wollte.

Wie es heute aussieht, kommentierte am 8. März 2010 ein Russe reichlich bitter im Internet: „Wir stecken in Elend und Trunksucht, verlangen aber alles“. So geht’s eben nicht, da es sportliche Glanzleistungen nach Menschenermessen von Russen so bald nicht wieder geben kann. Deshalb war es geradezu rührend, wie Medwedjew im Kreml Orden und Medaillen an die in Vancouver erfolgreichen Sportler verteilte. Sogar diejenigen, die nur undankbare vierte Plätze errungen hatten, wurden daheim geehrt – als „pooschtschrenie“ (Ermutigung). Ein bisschen wenig für ein Land, in dem früher bereits zweite Plätze schief angeguckt wurden, aber verdient für eine Sportführung, die vormals nach dem Prinzip verfuhr: SOS – Sieg oder Sibirien! 

Russland

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