Schwarze Schwäne in RusslandIMPERIEN

Schwarze Schwäne in Russland

Warum unvorhergesehene Ereignisse das Putin-System stärker gefährden können als die oppositionelle Bewegung selbst.

Von Jakob Kullik

Jakob Kullik  
Jakob Kullik  

I mperien entstehen nicht nach einem luziden Masterplan. Genauso wenig zerfallen sie nur durch Einwirken einiger weniger Druck-Faktoren. Es ist immer ein komplexes und über weite Teile nur schwer durchschaubares Zusammenspiel aus treibenden Akteuren, Langzeittrends, gezieltem Ressourceneinsatz und vor allen Dingen unvorhersehbaren Ereignissen. Letztere haben die Möglichkeit, Entwicklungen ganz plötzlich in die eine oder andere Richtung zu lenken, zu verstärken oder abzuschwächen.

„Schwarze Schwäne“ kündigen sich nie an

Der libanesische Finanzmathematiker und Statistiker Nassim Taleb nannte solche Ereignisse „schwarze Schwäne“ und referierte damit auf die eurozentrische Vorstellung des 16. Jahrhunderts, dass es nur weiße Schwäne geben könne und andersartige Farbabstufungen komplett abwegig und unnatürlich seien. Diese Auffassung hatte so lange bestand bis man Ende des 17. Jahrhunderts in Australien unerwartet schwarze Schwäne entdeckte. Die Folge war, dass man alle bisherigen regulären Grund- und Zukunftsannahmen sprichwörtlich über Bord schmeißen musste. Vom tierischen Exemplar zur realen Politik tauchen immer wieder mal unerwartet „schwarze Schwäne“ auf, die unsere Denk- und Vorstellungsmuster fundamental in Frage stellen. „Schwarze Schwäne“ kündigen sich nie an. Sie lassen sich auch nicht aus zu beobachtenden Entwicklungen oder Megatrends ableiten. Sie sind die verdichtete unerwartete Anti-Ordnung. Ihre Flügelschläge sind mächtig und zertrümmern Gewissheiten und Ordnungen.

Zur Person: Jakob Kullik

Jakob Kullik (B.A.), geboren 1988 in Werdau bei Zwickau ist Masterstudent im Studiengang „Politik in Europa“ an der Technischen Universität Chemnitz. Er ist wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Internationale Politik. Von August bis Dezember 2011 verbrachte er ein Forschungssemester an der Polytechnischen Universität Tomsk in Russland. Seine Forschungsfelder: Transformations- und Modernisierungsprozesse in Russland/GUS, Zentralasien und China, BRICS, regionale hot spots (Arktis), Globale Megatrends.

Schusseligkeit, die Weltgeschichte schreibt

Der elfte September 2001 war solch ein „schwarzer Schwan“. Niemand innerhalb der transatlantischen Sicherheits-Community hätte auch nur in Erwägung gezogen, dass eine kleine Gruppe arabisch-stämmiger und mit Teppichmessern bewaffneter Flugzeugentführer das mächtigste Imperium der Weltgeschichte im Inneren so empfindlich hätte treffen können. Die mentale Reaktion der geschockten Supermacht war ein radikales Hinterfragen ihrer bisherigen außen- und sicherheitspolitischen Denkparameter. Dem Hinterfragen folgten unmittelbar die militärische Großmobilmachung und das unverhältnismäßige Aktivieren der geopolitischen Selbstverteidigungsmechanismen, die allen Imperien zu eigen sind. Die deutsche Variante eines „schwarzen Schwans“ ereignete sich nur zwölf Jahre vor 9/11. Günter Schabowskis spontane, ungeplante und von niemandem vermutete Grenzöffnungsmitteilung am neunten November 1989 hatte eine solche Wucht inne, dass sie die deutsch-deutsche Annäherung in ihrer finalen Phase erheblich beschleunigte. Schusseligkeit, die Weltgeschichte schreibt.

Versuche, die empirischen Boden verlassen

Einen „schwarzen Schwan“ vorab bestimmen und sein Erscheinen aufzeigen zu wollen, ist nicht möglich. Alle Versuche dieser Art verlassen den empirischen Boden gesicherter Tatsachenanalyse. Lineare Extrapolationen aus der Gegenwart als Behelfswerkzeuge sind ebenso unzuverlässig und verleiten zur mechanisch-berechneten Zukunftsspinnerei. Die aktuelle Großdebatte um den relativen Niedergang der USA, in der stets die Frage mitschwingt, wann China in allen Bereichen alleinige Weltmacht werden wird, exemplifiziert ein solch echauffiertes Prognosefieber. Heerscharen von Analysten und zeitgeschichtlichen Beobachtern verdienen damit ihr tägliches Brot.

Ein ganz anderer, ebenso aktueller Fall ist das gegenwärtige Russland. Einen kleinen „schwarzen Schwan“ hat es hier schon im letzten Dezember gegeben als niemand aus der westlichen Beobachterszene das Protestpotential der aufbegehrenden russischen Mittelschicht vorhergesehen, geschweige denn auch nur angedeutet hatte. Das aus diesem zivilen Ungehorsam bisher (noch) kein fundamentaler Wandel in Richtung Demokratisierung folgte, liegt an den reaktionären Beharrungskräften des vertikalen Machtsystems und den akkumulierten Machtressourcen einer kleinen Elite aus Politik, Wirtschaft und Sicherheitsapparatur. Es ist zu erwarten, dass die Antriebskräfte der heterogenen Opposition in nächster Zeit erlahmen werden.

Nester der „schwarzen Schwäne“ Russlands

Sie könnten aber revitalisiert und gestärkt werden, wenn sich ein weiteres unvorhergesehenes Ereignis einstellt. Derer gibt es theoretisch viele, jedoch sind sie augenblicklich unaufzeigbar. Dabei sind die Nester der „schwarzen Schwäne“ Russlands größtenteils bekannt: Die überbordende systemische Korruption, die maroden hochgefährlichen Atommeiler, der „weiche Bauch“ im Nordkaukasus und der klandestine militärisch-geheimdienstliche Komplex. Wagen wir das Gedankenspiel. Was würde beispielsweise passieren, wenn plötzlich und unerwartet ein zweites Tschernobyl auf russischem Boden eintreten würde? Zu erst einmal könnte solch ein Ereignis nicht mehr geheim gehalten werden. Die sozialen Medien des Internets würden über die offensichtliche Unfähigkeit der Behörden berichten, die Bevölkerung vor den Auswirkungen der Katastrophe zu schützen. Der Kreml würde massiv unter Druck geraten und in seiner Verzweiflung nur noch mehr zur Zielscheibe für die Vielzahl großer und kleiner Unerträglichkeiten im Lande werden. Rücktritte könnten erfolgen. Wütende Großdemonstrationen würden direkt vor den Kreml-Mauern stattfinden. Diesmal mit größerer Durchschlagskraft der nun stärker vereinigten Opposition, gestützt durch Überläufer und Systemopportunisten. Nur ein möglicher „schwarzer Schwan“ unter Vielen.

Mit Dekabristen muss man immer rechnen

Ein zweites Schwarzschwan-Ereignis, das auf dem Ersten aufbauen könnte, wäre ein Putsch innerhalb des militärisch-geheimdienstlichen Komplexes gegen das Putin-Regime. Getrieben von Macht- und Besitzwahrung ist dies nicht komplett auszuschließen. Alle bisherigen Erkenntnisse lassen gegenwärtig nichts Dergleichen erahnen.

Aktuell steht die Armee hinter Putin und die Geheimdienste tragen ihre Schattenfehden weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit aus. Aber man sollte nie das Krisenmoment und die daraus entspringenden Affekthandlungen, die zu allem Möglichen führen können, verkennen. Mit Dekabristen muss man immer rechnen. Und danach kommt meist eine Phase wilder Abrechnung a la Robespierre. Libysche Zustände in Russland könnten ausbrechen, da der korrupte und träge „Mittelbau“ des Systems (FSB, Administration, Prokuratur, regionale Polizei und lokale Mafia) sich durch Existenzängste bedroht fühlen könnte. Diese Gruppen sind potenzielle Risikofaktoren und faktische Vetospieler. Da sie keine realen Einkommens- und Aufstiegsoptionen außerhalb der Machtpyramide haben, werden sie ihren status quo auch noch während der neuen Übergangsordnung mit allen Mitteln zu verteidigen wissen. Sie sind der antidemokratische Verteidigungsperimeter gegen jegliche Systemöffnung. Wenn die Kreml-Oligarchie und Politikelite schon längst die Seiten gewechselt oder sich sonst wie arrangiert hat, werden diese weißen „System-Schwäne“ weiterkämpfen. Irak, Ägypten und Libyen stehen hier Pate für Post-Regimeverteilungskämpfe auf allen Ebenen – ausgelöst durch den arabischen Frühlings-Schwan von 2011.

Die Zukunft hält ein breites Spektrum möglicher und unerwarteter Entwicklungen bereit. Ob Schabowksis Schusseligkeit von 1989, Amerikas Schock an 9/11 oder der arabische Frühling seit 2011. „Schwarze Schwäne“ können immer und überall auftreten und zuschlagen. In Russland sind bereits Schwanen-Nester vorhanden. Ob daraus ein neuer schicksalhafter Flügelschlag für das Land schlägt, bleibt abzuwarten.

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