Stillgestanden in der SchuleRUSSLAND

Stillgestanden in der Schule

Stillgestanden in der Schule

Über den Schulalltag russischer Kinder erfährt man außerhalb Russlands nur wenig. Unser Autor berichtet vom „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ der ehemals „Tag der Sowjetischen Armee und Seestreitkräfte“ hieß und wie die Kinder einer Murmansker Schule für diesen Feiertag üben. Er selbst nannte seinen Beitrag „Vorbereitung des Kanonenfutters“.

Von Alexandre Sladkevich

 „Gramvolles Fleisch der lautlosen Zeiten“
Jegor Letow

Feierlich betreten die Schüler die Aula ihres Gymnasiums Nr. 9 in Murmansk. Hier, in der größten Hafenstadt der ehemaligen UdSSR, dem Heimathafen der „Eismeerflotte“, wird fleißig geübt. Vier Schulklassen mit zwölf- und dreizehnjährigen  Schülerinnen und Schülern treten an. Sie haben sich ausstaffiert mit echten und selbstgemachten Uniformteilen: Schiffchen, Baretts und Schulterstücken.

Die Kinder bilden Reihen, marschieren, stehen still und rühren sich. Sie machen Meldung beim Hauptmann, der - in der Mitte stehend – die Gruppen und deren Bewegungsabläufe aufmerksam verfolgt und kontrolliert. Er trägt eine Uniform und sogar eine Pistole. Hinter ihm sitzt eine vierköpfige Jury, Vorsitzender ist ein Major. Einige Eltern mit ernsten Gesichtern wohnen dem Ereignis bei.

Auf dem roten geblümten Vorhang im Hintergrund ist schief die russische Flagge befestigt. Auf die  Leinwand werden Schiffsmanöver projiziert. Propaganda und Militarisierung liegen in der Luft.

Es ist noch eine Woche bis zum Fest, und so wird fleißig geübt. Die Proben gelten einem Feiertag, der eine eigenartige Geschichte hat. Fremde sind hier im Übrigen unerwünscht. Sie werden schief angeschaut, es ist ihnen so gut wie unmöglich in die Aula zu gelangen.

Ein Feiertag, von der Bürokratie terminiert

Der Feiertag, um den es geht, hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Er war einer der wichtigsten Feiertage der Sowjetunion und hieß zuletzt „Tag der Sowjetischen Armee und Seestreitkräfte“. 1922 wurde er als der „Tag der Roten Armee und Flotte“ eingeführt. Diesen Namen hatte er bis 1949 getragen 

Begangen wurde der „Tag der Sowjetischen Armee und Seestreitkräfte“ mit Konzerten. In den Betrieben wurden Tische gedeckt, die Kriegsveteranen erhielten Danksagungen. Gefeiert wurde am 23. Februar, obwohl die Rote Arbeiter- und Bauernarmee nicht im Februar, sondern am 28. Januar ins Leben gerufen wurde. Das geschah, als die Truppen des Deutschen Reichs bei Pskow und Narwa standen. Also auch nicht 1922, sondern 1918.

Die Idee, einen patriotischen Feiertag zu schaffen, kam  dann1919 auf, und es sollte ursprünglich auch tatsächlich am 28. Januar gefeiert werden. Wegen  bürokratischer Verzögerungen wurde es aber Februar. Und schließlich war der 23. Februar 1919 der erste Sonntag, der nach dem ganzen Hin und Her in Frage kam. Also wurde dieser Termin festgelegt.

Der Feiertag geriet jedoch gleich wieder in Vergessenheit, und erst 1922 beschloss das Präsidium des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees ihn zu feiern.

Schnell wurde der Feiertag populär und wurde überall begangen, auch in den Schulen. Kliment Woroschilow, Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets und Marschall der Sowjetunion merkte an, dass „das Datum ziemlich zufällig ist und sein Ursprung schwer zu erklären, denn es stimmt mit den historischen Ereignissen nicht überein“. Diese Manipulationen hielt man vor dem Volk allerdings geheim.

Die künftigen Soldaten genossen es, von ihren Klassenkameradinnen  beschenkt zu werden. Und dass Lehrer und Eltern ihnen gratulierten, freute sie verständlicherweise ebenso. Es wurde eben gefeiert, und die Schulklassen marschierten und sangen mit Begeisterung.

Außer der militärischen Grundausbildung konnte man die schulische Armeevorbereitung auch bei der beliebten Sornitsa sehen. Sie war ein patriotisches Militär-Sport-Spiel für Pioniere, eine Nachahmung des Kampfes, ähnlich einer Militärübung. Diese militärische Ausbildung hatte die Form eines spielerischen Wettbewerbs und einer Feier. Die Kinder machten gerne mit.

Neuauflage unter anderem Namen

Nach dem Zerfall der Sowjetunion begann man die sowjetische Geschichte auszuradieren. Städte, Straßen, Institutionen wurden unbenannt. Das gleiche Schicksal erlitt der „Tag der Sowjetischen Armee und Seestreitkräfte“. Er  wurde in „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ umgetauft, obwohl viele Bürger dagegen waren.

Jedenfalls wird er auch heute wieder gefeiert, wenn auch unter neuem Namen. Im Murmansker Gymnasium stellt sich jede Klasse nach einigen Runden um den Hauptmann einzeln vor. Sie trägt ein eigens eingeübtes Lied vor. Die drei anderen Klassen dürfen derweil sitzen. Es ist verboten zu sprechen, die meisten Kinder wirken müde und verschreckt.

Ein Schüler will etwas flüstern. Zwei seiner Mitschüler gucken mit großen Augen, zeigen ihm aufgeregt mit den Händen „Ruhe!“ zu halten und schauen sich ängstlich um. Einige schließen die Augen und  nicken beinahe ein, versuchen sich trotzdem zusammenzureißen und gerade zu sitzen. Viele halten dabei die Hände demütig auf den Schenkeln mit der Handfläche nach unten.

Das Konzentrationsvermögen lässt unaufhaltsam nach, ein Mädchen kaut nervös an den Fingernägeln, ein anderes lächelt verwirrt, ein Junge verdreht seinen Kopf. Die Kinder langweilen sich offensichtlich, aber versuchen es mit allen Kräften zu verbergen. Eine Lehrerin kontrolliert sie und ruft sie leise zur Ordnung. Ihre Stimme klingt bedrohlich. Sie hat wohl auch Angst in einer Schule, wo in vielen Klassenräumen mal Putin, mal Medwedjew von den Wänden auf die Anwesenden herabblicken. Das Hauptprogramm wird zur Qual, viele können die sitzende Haltung nicht mehr ertragen.

Ritterschlacht, U-Boot und Marineinfanterie

Schließlich befiehlt der Hauptmann: „In Reih und Glied!“. Alle Kinder stellen sich auf. Er hört aufmerksam ihren Meldungen zu. Dann ertönt das Kommando „Marsch“ und die Gruppen rücken ab. Schließlich folgt der sportliche Wettbewerb. Die Schüler lachen. Sie genießen sichtlich eine altersgemäße Betätigung. Am Ende werden die Plätze verteilt, die jeweiligen Klassenvertreter bekommen Urkunden und Tischspiele: Ritterschlacht, U-Boot und Marineinfanterie. 

Der Feiertag kann kommen. Am Gymnasium Nr. 9 in Murmansk ist man gerüstet. Vom kritischen Bewusstsein, vielleicht einmal als „Kanonenfutter“ zu enden, sind die allermeisten Kinder, Eltern, Lehrer und Ausbilder weit entfernt.

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