Straße ohne SchlaglöcherRUSSLAND

Straße ohne Schlaglöcher

Straße ohne Schlaglöcher

Mit dem Schiff zwischen Moskau und St. Petersburg dahinzuschippern wird auf dem gutmütigen alten Kahn aus DDR-Zeiten zum gemächlichen Trip. Völlig entspannt genießen die Touristen, die bis aus Oberbayern kommen, die Fahrt, die für sie dennoch ein Abenteuer ist.

Von Jan Balster

D ie Route wird dir gefallen“, sagte Michael, als er mich vor zwei Monaten zu einer Kreuzfahrt einlud. „Kreuzfahrten sind unproblematisch. Du kannst dich richtig entspannen, auch wenn sie in so manchem Reiseprospekt als Abenteuer verkauft werden. Und schließlich“, fügte er hinzu, „sind Russlands Flüsse die einzigen Straßen ohne Schlaglöcher.“

Die „Eventlustigen“ gehen an Bord

Es herrscht betriebsame Geschäftigkeit als ich das Schiff besteige. Noch einmal dreht Michael, der zweite Offizier des „Vergnügungsdampfers“, wie er die Kreuzfahrtschiffe scherzhaft bezeichnet, seine Runde. „Schließlich wollen die Gäste, den größtmöglichen Luxus für möglichst wenig Geld“, sagt er.

Seit einer Woche ankert das, vor zwei Jahren generalüberholte, 1985 in Magdeburg in der verblichenen Deutschen Demokratischen Republik gebaute Schiff, im Flusshafen der Weltmetropole Moskau. Fünf arbeitsfreie Tage liegen hinter der Mannschaft. „Jetzt heißt es wieder zupacken. Optische Reinheit wünscht der Kapitän“, erklärt Michael. Am Souvenirstand lächelt die Kunststudentin Tatjana. Michael zwinkert ihr zu. Noch ein Blick in die Küche, es blitzt. „Alles sauber Kapitän“, ruft Valentina, die Chefköchin. Im Vorbeigehen öffnet der Offizier noch ein paar Türen zu den Kajüten. „Alles in Ordnung“, murmelt er: „gehen wir an Deck.“

Dort hat sich das Empfangspersonal bereits versammelt. „Da kommen sie schon“, meldet ein Matrose. Träge bewegt sich die Meute aus dem Zubringerbus, der sie zur Anlegestelle gebracht hat. Es herrscht Orientierungslosigkeit, zusammengetrieben wie eine Herde Schafe. Die Reiseleiterinnen haben alle Hände voll zu tun. Einfangen, diejenigen, welche sich nur einen Meter vom Pulk entfernen und dabei halten sie das Schild der Reisegruppe immer schön dem Himmel entgegen. Jeder der Truppe, dessen Durchschnittsalter 57 Jahre beträgt, kann den Werbespruch „Entdecken Sie Russland“ erkennen, welcher sie auf dieser Tour begleiten wird. Jeden Morgen werden sie ihn hören und der Vergesslichkeit vorbeugend, wurde auch das Schiff rundherum damit beflaggt. Keine Frage, jeder Reisende soll sich hier wie zu Hause fühlen.

„Wo ist mein Weib?“

  Zur Person: Jan Balster
  Der Dresdner Globetrotter, Bild- und Reisejournalist  Jan Balster arbeitet für in- und ausländische Zeitungen, Zeitschriften und Buchverlage.

Von ihm ist unter anderem erschienen: Zu Fuß von Dresden nach Dublin (edition ost Verlag, Berlin ISBN-13: 978-3-89793-124-4, 14,90 Euro). 3.100 Kilometer legte Jan Balster zurück – auf Schusters Rappen, wie man so sagt. Vom Ufer der Elbe bis an den Atlantik, quer durch Westeuropa via Schweiz, Frankreich, Großbritannien und Irland. – Und das ohne einen Euro in der Tasche.

Neu von Jan Balster: Kalender „Russland -  Der Goldene Ring 2009“, „Seidenstraße 2009“, "Mongolei 2009, "Kirgisien 2009" und "Russland - Entlang der Transsibirischen Eisenbahn 2009". Umfang: Je 26 Seiten, 12 Fotografien, Preis: 15,90 Euro.

Kontakt zum Autor: www.auf-weltreise.de.

In einer Linie stehen sie, lang gezogen wie am Monatsanfang an den Schaltern der Banken, wenn die Rente winkt. Auch Adolf ist da, der 84-jährige vom Starnberger See: „Hinten anstellen“, ruft er und: „Wo ist mein Weib?“ Lena hat alles im Griff, ruhig drängt sie ihn in die Schlange zurück und hält dabei nach seiner Frau Ausschau, welche mit ihrem Hüftleiden nicht so schnell Meter machen kann: „Unser Gepäck, Adolf. Wo ist unser Geld, wo die Papiere?“ Mürrisch schaut er drein. Lena lächelt gezwungen und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

Träge schieben sich die Wartenden über den Steg auf das dreiundzwanzig Jahre alte Schiff. „Hscht Magda“, ruft Adolf: „hier steht alles in deutsch drauf.“

„Das möchte auch sein bei dem Preis“, lautet die Antwort. Und noch im selben Augenblick warnt der Matrose in beinah akzentfreiem Deutsch: „Vorsicht, es ist rutschig.“ Und Magda mit ihrem künstlichen Hüftgelenk und den Hochhackigen an den Füßen gleitet vor die Eingangstür.

Flugs erlebt sie die Begrüßung Michaels, welcher gleichzeitig als Bordfotograf fungiert. Adolf und Magda tun es ihren Vorgängern gleich, langen nach dem leicht feuchten Brot, dann mit ihm in den Salzpott auf dem Tisch. „Aber Adolf“, warnt Magda ihren Mann: „bei deinem hohen Blutdruck, solltest du nicht so viel Salz essen.“ Alles wird in großer Lautstärke abgehalten, damit gleich jeder etwas davon hat. Und Lena lächelt und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sie beordert jedem Gast zu dessen gebuchter Kabine, teilt die Blätter mit dem Tagesablauf aus und weist darauf hin, am Abend findet das Eröffnungsmeeting im Cafe an Bord statt.

Das Kommando hat der zweite Offizier

Längst ist Ruhe. Die Gänge sind verwaist, alles schläft, lediglich an Steuerbord auf Deck eins befehligt der zweite Offizier seine Mannen. Es herrscht Hochbetrieb. Die Matrosen haben sich versammelt. „Leinen los“, kommandiert Michael. Motorengeräusch schwillt an, die Jungs wissen, was zu tun ist. Da sitzt jeder Handgriff. Auf der Kommandobrücke zeigt sich Anspannung. „Langsam, langsam“, meint Michael: „Bei mehr als zwei Duzend Schiffen, die hier vor Anker liegen, Schiff an Schiff gedrückt, kommt es auf jeden Meter an.“ Die Auslaufschneise ist eng, keine anderthalb Schiffsbreiten.

Vor uns liegt der Moskau-Wolga-Kanal, ein Bau, 1937 in nur fünf Jahren fertig gestellt, eine gigantische technische Leistung darstellt. Insgesamt neun Schleusen, fünf Pumpwerke, acht Wasserkraftwerke und drei Flusshäfen wurden am Kanalbett errichtet, dazu kamen im Laufe der folgenden Jahre mehr als 200 andere Anlagen wie Brücken, Tunnel und Staudämme. Michael kontrolliert die Instrumente, seine Augen springen von einem zum anderen Ufer: „Auf zur fünften Fahrt in diesem Jahr.“

Irgendwann hat er frei. „Dann lass uns zum Oberdeck gehen“, schlage ich vor. Und während unter den Matrosen Ruhe einkehrt, erwacht das Publikum zu neuer Aktivität. „Mama, Mama, wir fahren schon“, ruft eine Kinderstimme über Deck zwei. Noch eine Treppe steigen wir hinauf, das Morgenrot hat sich in einen strahlend, blauen Himmel verwandelt. Wir setzten uns in zwei, der zahlreich bereitstehenden Liegestühle. „So mag ich das“, gesteht Michael, der 42-jährige. Der etwas zu kurz, dennoch kräftig geratene Mann ist ausgestattet mit einem nautischen und technischen Patent. „Die Prise Wind auf freier See. Das Aufheulen der Schiffsmotoren. Da weiß ich, es geht los. Das ist Freiheit.“

In einem Schlauchboot auf der Wolga begann der Traum

Als Junge fuhr er mit seinem Vater in einem Schlauchboot über die Wolga zum Angeln. Manchmal haben sie auch gezeltet, auf einer kleinen Insel. „Damals wuchs dieser Traum“, erzählt er.
„War das eher Neugier zur See zu fahren oder zu wissen was hinter dem Horizont für Geheimnisse liegen?“ frage ich.

„Auch. Ich bin aus Überzeugung und Begeisterung zur See gefahren.“ Mit seinen Eltern und seiner Schwester lebte er in Saratow. So wuchs er an der Wolga Ufer auf. Dort spielte er als Kind, baute Flöße und sang Abends am Lagerfeuer mit den Jungpionieren, kaum anders schien die Welt als jene bei Tom Sawyer. „Ich hatte immer nasse Füße, wenn ich nach Hause kam“, scherzt er. Seine Augen funkeln bei den Gedanken an seine Kindheit. „Bis vor zwei Jahren bin ich noch die Südroute gefahren, von Moskau nach Astrachan am Kaspischen Meer“, erzählt Michael: „Jedes Mal, wenn sich unser Schiff Saratow näherte, stieg in mir der süße Duft der Sorglosigkeit jener Jahre auf.“
Aber auf der Brücke musste Michael seinen Mann stehen. Alles sehen. Da waren der Baum am Ufer, die kleine Insel zwischen den Wellen der Wolga und der Sandstrand. Da war die Heimat, Liebe und der erste Kuss.

„Und wie wird man Kapitän“, frage ich.
„Mit 16 habe ich angefangen als Deckjunge in Leningrad. Dort war dann auch die Berufsschule. Später ging ich erst als Jungmann, danach als Leichtmatrose auf große Fahrt. Bald darauf hatte ich meine Matrosenprüfung bestanden.“

Matrosenprüfung und Kapitänspatent

„Matrosenprüfung? Was stelle ich mir darunter vor? Segel einholen, Leinen los usw.“ - Er lacht: „Nicht ganz. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert. Mit der Matrosenprüfung ist der Abschluss als Schiffsmechaniker gemeint. Das ist zum Teil harte, körperliche Arbeit. Leinen los, gehört schon noch dazu. Als Matrose war ich dann eine ganze Weile auf verschiedenen Frachtern im Norden Russlands unterwegs, bis ich mich nochmals an die Schulbank gesetzt habe. Erst Abitur, dann Steuermannspatent und danach Kapitänspatent.“

„Wie lange hat das gedauert?“ Lange!  „Acht Semester Nautik und Schiffsbetriebstechnik im Vollzeitstudium. Während dieser Zeit hat mir das Schaukeln eines Schiffes auf See verdammt gefehlt. Danach ging es richtig los. Zwei Jahre ausfahren.“

„Warst Du dann schon ein richtiger Kapitän?“ „Njet, nein. Das Kapitänspatent ist so eine Art Führerschein, nur wesentlich komplizierter. Es ist die Befähigung ein Schiff, unter Anleitung eines Kapitäns zu führen. Ein eigenes Schiff hat man da noch nicht. Von der Reederei wird man zum Kapitän ernannt, sofern man genügend Beurteilungen von Kapitänen gesammelt hat. Die Anzahl ist von Reederei zu Reederei unterschiedlich. Doch bis es soweit ist, muss man alle anderen Grade durchlaufen. Erst Dritter Offizier, der ist für die Navigation verantwortlich, dann Zweiter Offizier...“

Verantwortlich für die Ladung und das Befinden der Gäste

Zweiter Offizier - das bist du jetzt?“ Michael lacht: „Da ist man für die Ladung und das Befinden der Leute zuständig. Auf der Nekrassow kann die Ladung sprechen. Das heißt etwa, den Passagieren ein gefahrenfreies Be- und Entsteigen des Schiffes zu ermöglichen.“

„Und wann wirst du nun Kapitän?“ „Erst einmal muss ich noch zum Ersten Offizier ernannt werden. Da fungiert man als Stellvertreter des Kapitäns. Und dann ist man vielleicht in ein, zwei Jahren Kapitän eines eigenen Schiffes.“

Dubna – die letzte Schleuse vor der Wolga

Ein lauer Wind streicht über die Decks an diesem Sommerabend. Der dritte Tag an Bord, der erste Tag in Fahrt neigt sich dem Ende zu, 123 km nördlich und fünf Schleusen entfernt von Moskau. Am Bug drängeln sich die Passagiere um die besten Plätze. Etwa die Hälfte der 200 Reisegäste haben sich eingefunden, gleichmäßig verteilt auf den oberen offenen Decks. Adolf und seine Frau Magda sind da, Lena, die Dolmetscherin und Reiseleiterin ebenso. Magda umkrallt ihre Krücken, versucht das Schaukeln des Schiffes auszugleichen und fragt mich, ob ich ihr nicht eine Sitzgelegenheit besorgen kann: „Das hätte die Reiseleitung doch mal organisieren können, junger Mann oder?“ Ich bringe ihr einen Stuhl. „Zumal“, bekräftigt sie lautstark: „mein Mann auch nicht gut zu Fuß ist.“

Lena überhört diese Anspielung geflissentlich und wirft ihr Dauerlächeln in die Runde. „Vor uns befindet sich die Schiffsschleuse Nummer eins“, beginnt sie ihre Ausführungen: „Elf Höhenmeter, von insgesamt 49 seit Moskau, trennen uns noch von der Wolga, die auf der anderen Seite beginnt.“ Die Blicke der Zuhörer sind geradewegs nach vorn gerichtet. Und Lena berichtet von 150 Millionen Kubikmetern Erdreich, welche bewegt und mehr als 35.000 Tonnen Stahlbeton, die verarbeitet wurden. Sie erklärt den Verlauf der Schleusen, von der Sechsten, nahe Moskau gelegen, bis zur Ersten, eben diese vor uns liegende, so exakt als sei sie beim Bau dabei gewesen. „Durch den Bau stieg auch der Wasserpegel der Moskwa“, weiß sie: „so konnten dort auch wieder Schiffe fahren. Gleichzeitig wird aber auch die Wasserversorgung Moskaus gesichert.“

Genaue Fahrpläne gewährleisten eine reibungslose Durchfahrt an jeder Schleuse. Hat sich der Kapitän für eine bestimmte Stunde angemeldet und wurde ihm diese bestätigt, so kann sein Schiff nur zu dieser Zeit auf das Niveau der nächsten Ebene gesenkt oder gehoben werden. „Andernfalls heißt es warten“, erklärt Lena, wobei sie die Gelegenheit gleich nutzt, um die Passagiere darauf hinzuweisen: „Wer bei Landgängen nicht 20 Minuten vor Abfahrtszeit an Bord ist, der muss selbst sehen, wie er zur nächsten Anlegestelle kommt.“ Gemurmel schwingt durch die Zuhörer. „Sie schauen so junge Frau“, spricht Lena die ältere Dame ihr gegenüber an. Lena lächelt: „Das hatten wir alles schon, besonders wenn es auf Kishi passiert.“ Verlegen blickt die Dame zu Boden. „Kishi ist eine Insel“, ergänzt die Reiseleiterin und hat den Lacher auf ihrer Seite. Dann öffnen sich die Schleusenklappen, langsam senkt sich das Schiff, feucht, mit Algen bewachsene Stahlwände werden sichtbar. Und kurz darauf schwimmt die „Nekrassow“ auf der Wolga in die Nacht hinaus.

Lena – Dolmetscherin und Reiseleiterin

Europas längster, Europas wasserreichster, Europas mächtigster Fluss, die Wolga. Sie entspringt nahe der europäischen Wasserscheide im Nordwesten Russlands, fließt durch die Taiga, bewässert Steppengebiete, um schließlich nach 3.680 Kilometern in den größten Salzsee der Erde, das Kaspische Meer zu münden.

Zunächst gleiten wir stromabwärts in nördliche Richtung. Die Wolga macht sich mächtig breit. Immerhin, der Reisende sieht noch beide Ufer, bewaldete Plateaus mit breiten Böschungen und ab und an Sandstrände, die zum Baden einladen.

Lena hat gerade ihre Touristenstunde beendet. Zwei Decks tiefer im Lesezimmer empfängt sie täglich um 9 und 19 Uhr für eine Stunde lang Meinungen und Fragen der Passagiere. „Touristen haben immer etwas zu meckern“, beginnt Lena zaghaft: „einigen kann man es nie recht machen.“
„Wie auch bei knapp 200 Gästen“, gebe ich zu bedenken.

„Obgleich ich innerlich koche, muss ich immer freundlich bleiben“, sagt sie. Unsere Blicke streifen über die Wolga, Mütterchen Russland, wie die Russen ihren Strom zärtlich nennen. Sie verlieren sich an den Ufern, den kleinen Hügeln und Datschen, die auf ihnen thronen. Lena ist kaum 25 Jahre alt. Sie studierte Kunstgeschichte und russische Literatur in Moskau, fand danach keine Arbeit. „Für Geisteswissenschaftler gibt es kaum eine Perspektive“, meint sie: „da hilft der beste Abschluss nichts.“ So hat sie kurz danach noch zwei Semester Tourismuswirtschaft angehängt. „Ganz umsonst war dein Studium nun doch nicht“, frage ich.

„Umsonst ist Wissen nie. Sagen wir, ich habe einen guten Kompromiss geschlossen. Ich kann den Gästen viel vermitteln und besser auf ihre Fragen reagieren, als wenn ich mir alles selbst autodidaktisch angeeignet hätte.“

 „Touristen wollen beschäftigt werden. Sie wollen etwas erleben, ein Highlight mit nach Hause bringen. Sie wollen spannende Geschichten hören.“

Bordvergnügen und Geschäfte

Während jeden Abend im Bordrestaurant eine russische Kappelle bayrische Volksmusik aufspielt, die Gäste schunkeln und jodeln, ist das Bordpersonal damit beschäftigt, russischen Kaviar und Wodka an den Mann oder die Frau zu bringen. Dabei loben sie ausgiebig die ausgelassene Stimmung und mitreißende Musik, um gleichzeitig die Qualität ihrer Waren zu preisen. Kaum ein Gespräch verläuft ohne den Hinweis, dass es außerhalb des Schiffes oft nur minderwertigen Kaviar und selbst gebrannten Wodka gibt. „Die Qualität meine Dame“, schnappe ich eines Abends auf: „die echte russische Qualität bekommen sie nur bei uns an Bord.“ Dass dies zu doppelten Preisen erfolgt, im Vergleich mit denen eines Supermarktes im europäischen Russland, bleibt unerwähnt.

Bald schon haben wir die Wolga verlassen. Sie zieht weiter nach Süden, uns hingegen treibt es nach Norden. Mächtige Flüsse münden in Kanäle, verbinden den Rybinsker Stausee mit dem Beloe-See und diesen wiederum mit dem Onega-See. Wie gewaltig muss ein Land sein, das solche Ströme hervorbringt, dessen Menschen derartige Wasserstraßen und Stauseen schaffen.

Wald taucht mal zu linken, mal zur rechten oder zu beiden Seiten des Ufers auf. Manchmal öffnen sich Lichtungen, worauf Vieh weidet oder Heuhaufen stehen. Eine Almlandschaft mag der flüchtige Betrachter meinen. Nahe dem Ufer erheben sich kleine Holzhäuser, breiten sich Gärten aus, die sich weit ins Land hineinschieben. Wege führen von Haus zu Haus. Stege ragen ins Wasser hinein. Und wenn es in den Städten selbstverständlich ist, ein Fahrrad oder Auto vor den Gartentoren zu sehen, so wiegen in diesen Landstrichen Boote in den Wellen vor den Stegen.

Für die meisten Passagiere ist Müßiggang nicht der Sinn dieser Reise. Sie haben die Wahl zwischen Weiterbildungen, Filmvorführungen oder Vorträgen zur Landeskunde. Und dass in den landeskundlichen Vorträgen meist die religiösen Themen vorherrschen, liegt weniger an der russischen Geschichte selbst, als vielmehr am veranstaltenden Reiseunternehmen, welches von der Russisch-Orthodoxen-Kirche unterstützt wird.

Plötzlich krächzen die Lautsprecher, ein paar Akkorde eines bayrischen Volksliedes erklingen. Dann hallt Lenas Stimme durch das Schiff. In jede Ecke, jede Kajüte wird ihre Ansprache getragen: „Liebe Freunde der russischen Sprache. Unser Russischkurs ‚Mein Name ist Gertrud’ beginnt in 30 Minuten.“

Jeder Tag ist durchorganisiert. Jeder Landgang genau programmiert, ob der Besuch im Kloster Uglitsch oder jener in Kirillow. Sogar die Souvenirstände vor den Anlegestellen der Schiffe oder der Klöster scheinen extra, unserer Anwesenheit wegen, aufgebaut worden zu sein. Und Michael ist immer dabei, ein Foto hier, ein Bildchen dort. Zwei Gäste vor der Kirche, drei Gäste neben ihr.  Mal marschieren alle Reih und Glied, mal schauen sie skeptisch in die Gesichter der Andenkensverkäufer. Kauft einer, mögen die anderen dasselbe auch, lehnt ein Passagier ab, findet ebenso die Gruppe das angepriesene Produkt unbrauchbar. Michael kennt dieses Spiel. „Hier entstehen meine besten Bilder“, meint er, während der Film zurückspult: „das brauchen die Leute.“

„Was machst du mit den Bildern, die du nicht verkaufst“, frage ich. Zuerst einmal zieren sie die Gänge unseres Vergnügungsdampfers. Jeder kann bestellen, der sich vielleicht darauf entdeckt. Nach der Reise archiviere ich sie, und ein Jahr später gebe ich 90 Prozent in den Müll. Dann meldet sich niemand mehr.“

Die Gäste kehren vom Ausflug zurück. Langsam füllt sich der Bus. Lena bittet zur Eile, das Schiff warte nicht auf verloren gegangene Gäste. Adolf scheint dies nicht zu beunruhigen. Gemütlich verlangt er am Obststand nach zehn Äpfeln. Und als er nach einer Tüte fragt, nickt die Russin, kassiert ihre Rubel und Kopeken. Dann reicht sie ihm die losen Äpfel über den Tisch. „Tasche“, fragt Adolf. Die Verkäuferin zuckt mit ihren Schultern. Sie lächelt. Wohin nun mit den losen Früchten? Er murmelt zu seiner Frau etwas von Service und so etwas gebe es in Deutschland nicht. Was soll es. „Sie verstehen mich nicht“, sagt er mürrisch. Na ja, im im Hochglanzprospekt stand schließlich auch etwas von Abenteuerurlaub.

 Auf der Brücke

Schleusen, Kanäle, Stauseen und ihre Dämme begleiten unseren Weg. Mysteriös ragen Kirchtürme versunkener Dörfer ebenso aus dem Wasser, wie Richtungszeiger auf den kleinen Inseln, welche durch die Flutung jener Landstriche entstanden waren. Der Fluss fächert sich auf, ein See entsteht, bis rundherum kein Ufer mehr zu erkennen ist. Vorerst bleibt das Fahrwasser eng und seicht, so dass wir im Zickzack Richtung Norden kreuzen. Auch wenn es detaillierte Karten gibt, auch wenn der Kurs komplett einprogrammiert ist und die Offiziere die Strecke auswendig kennen, herrscht auf der Brücke immer Konzentration. Nie lässt Michael den See aus den Augen. „Treibsand oder kleine Fischerboote könnten in die Quere kommen“, meint er.

„Das Schiff mit seiner Länge von 129,2 Metern und einer Breite von 16,7 Metern ist sehr träge“, sagt er: „wenn ich jetzt das Ruder bewege, so merkt man erst nach 20 bis 25 Metern, ob sich das Schiff nach links oder rechts bewegt. Da muss ich das Kommando schon 50 Meter vor der Biegung eines Flusses geben.“

„Und warum lenken wir jetzt? Wir haben doch freie Fahrt, weit und breit keine Hindernis zu sehen?“ „Das täuscht. Dies sieht man an diesen zwei Messinstrumenten für das Echolot. Zusätzlich haben wir hier drüben noch einen kleinen Monitor, welcher den Boden der Wasserstrasse nachbildet.“

„Mehr als Punkte und grüne Striche kann ich da nicht erkennen.“ Er erklärt: „Grob gesagt, sieht man darauf wie tief das Fahrwasser ist. Unser Schiff hat etwa einen Tiefgang von drei Metern. Das heißt, wenn die Tiefe der Fahrrinne vier Meter unterschreitet, müssen wir der Kurs korrigieren, sonst laufen wir auf Grund.“

Das Schiff ist wie eine kleine Stadt

Die Aufgaben eines Verantwortlichen wie die des zweiten Offiziers Michael sind vielfältig. „Das Schiff musst du dir wie eine kleine Stadt vorstellen“ erklärt er. Wir haben eine eigene Kläranlage, ein Elektrizitätswerk, eine Krankenstation.“

Und es gibt einen Salon, eine Panorama-Bar, eine Sauna und ein Bügelzimmer“, füge ich scherzhaft hinzu. „Ja, einfach alles. Zuladen müssen wir lediglich Brennstoffe und Lebensmittel.“

Michael erläutert seinen Tagesablauf: „Normal ist fünf Uhr dreißig die Nacht zu Ende. Um Sechs Uhr ist Tagesbesprechung beim Kapitän. Da treffen sich die Offiziere, außer dem Diensthabenden. Wir besprechen dort, was ansteht. Danach frühstücken wir gemeinsam. Dann beginne ich mit meiner eigentlichen Arbeit, Besprechung der Landgänge, Warenzulauf, Dienst auf der Brücke und Kontrolle im Maschinenraum. Abends bin ich noch für zwei Stunden auf der Brücke. Während dieser Zeit ist dann die zweite Besprechung mit dem Kapitän für die anderen Offiziere. Danach habe ich frei.“

Und der Kapitän, was macht er? Ist er nie auf der Brücke?“

„Hier“, sagt die kräftige Stimme aus dem Hintergrund. Plötzlich stand er neben uns, der Kapitän: „Ja, ich bin ganz selten auf der Brücke. Ab und an schaue ich vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Ob wir dort sind, wo wir hinwollen.“

Sonst sitzt er im Büro am Schreibtisch und arbeitet, telefoniert mit den Behörden, vergleicht Anlegezeiten und Schleusendurchfahrten. Er kümmert sich um die Belange der Mannschaft und darum, wann eine Reparatur am Schiff notwendig ist, welche nicht von der Schiffsmannschaft behoben werden kann. Er spricht langsam, beschreibt jede Einzelheit präzise und beantwortet geduldig meine Fragen. In seinen Worten schwingt die Erfahrung aus fünf Jahrzehnten.

Abschied vor grandioser russischer Geschichte

Vor uns erstreckt sich die Museumsinsel Kishi. Noch einmal spazieren die Touristen vorbei an grandioser russischer Geschichte, Holzbauarchitektur und Ikonen. Noch einmal mischt sich Michael unter den Pulk der Gäste und macht Aufnahmen. Und während die Touristen noch gestern über den unmöglichen Service auf und um das Schiff schimpften, preisen sie heute mit demselben Enthusiasmus die Reise. „Man kann sie nur empfehlen“, höre ich immer wieder, als Michael die gebrannte Video-DVD und seine Bilder verkauft. Sie gehen reißend weg.

Über die Swir gelangen wir zur Stadt an der Newa, das Venedig des Ostens, wie man in Europa sagt: nach Sankt Petersburg. Noch einmal tauchen wir ein in Zarenpaläste, Kathedralen und Ikonen.
„Und nun?“ sagt Michael: „Was ist nun.“ Die Reise ist zu Ende. Noch einmal werfe ich einen letzten Blick zur „Nekrassow.“ Da steht er, der alte Herr, schick in Uniform gehüllt, der Kapitän. Flüchtig sah ich ihn, wenn ich auf der Brücke gewesen bin. Ohne Worte löffelte er seine Suppe im Speiseraum der Mannschaft. Immer ein Lächeln, ein freundliches Wort auf den Lippen, wenn er vorüber ging. Er kennt seine Mannschaft, schätzt den Plausch mit jedem Matrosen, gibt Hinweise ohne arrogant zu wirken, so als ob sein Gegenüber selbst auf des Rätsels Lösung oder Idee gekommen sei. Da steht er an der Reling, rückt seine Kapitänsmütze zurecht, dass sein rundliches, von einem grauen Bart gerahmtes Gesicht eine Einheit bildet. Ein Mann mit Erfahrung, der Kapitän. Er hebt die Hand zum Gruß, als wolle er salutieren und ruft herüber: „Willkommen in Russland. Willkommen!“

Fotoausstellung Reise Russland

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