Türkisfarbenes Moos als LeckerbissenNORDSIBIRIEN

Türkisfarbenes Moos als Leckerbissen

Türkisfarbenes Moos als Leckerbissen

Rentierzüchter Tichon hat Angst um seine Weideflächen. Die Gaskonzerne im nordsibirischen Jamal-Nenzen-Gebiet, „bohren auf den besten Plätzen.“

Von Ulrich Heyden

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Tichons Lager - inmitten der eisigen Tundra
© by Ulrich Heyden 2004
 

Tichon Popow reibt sich die Augen. Außer einem Schnarchen ist es still im „Tschum“, dem Zelt der Rentierhirten. Er krabbelt aus dem Fell-Schlafsack und schlägt den bunten Sichtschutz des Schlafabteils zur Seite. In dem Zelt aus Holzstangen und Filztüchern ist es kalt. Das Feuer im Ofen ist über Nacht ausgegangen. Mit kleinen Scheiten entzündet Tichons Frau, Maria, ein neues Feuer.

Ein Tag am Polarkreis beginnt. Das Familienoberhaupt schlägt den schweren Fell-Vorhang am Zelteingang zur Seite, tritt in die frostklare Luft hinaus und reckt sich. Erste Sonnenstrahlen fallen auf den Platz. Hunde springen von den Schlitten, bellen und balgen sich eifersüchtig.

Der 48jährige Hirte beaufsichtigt eine Herde von 1.300 Rentieren. Drei Viertel der Tiere gehört dem Unternehmen „Salechard-Agro“, einer ehemaligen Sowchose, ein Viertel gehört dem Hirten selbst. Zusammen mit seiner Frau, seinem 16 jährigen Sohn Alexej und drei weiteren Männern zieht Tichon von Weideplatz zu Weideplatz, im Sommer wie im Winter. Wir treffen die Hirten 50 Kilometer nördlich von Salechard.

„Russkij Brat“

Im halbdunklen Zelt wird das Frühstück eingenommen. Es gibt Tee und gefrorenen Fisch. Tichon genehmigt sich zwei Gläser Wodka, die übliche Dosis für jeden Mann, der in der russischen Kälte lebt. Tichons Sippe gehört zu den Syrjänen. Im 14. Jahrhundert wurde das kleine Volk, deren Sprache mit dem Finnischen verwandt ist, von einem russischen Bischof missioniert. „Russkij Brat“ – „der russische Bruder gab uns Alkohol, Zigaretten und den Glauben.“ Tichon lacht.

Dann machen sich die Männer fertig für die Arbeit. Alles was sie tragen, ist aus Rentierfell, die bunt verzierten Stulpenstiefel und die beiden Fellanoraks, die man übereinander zieht: die „Maliza“ mit dem Fell nach Innen und die „Gus“ mit dem Fell nach Außen. Um den Bauch tragen die Hirten einen Gürtel, an dem ein Dolch, ein Fangseil und ein Knochenstück mit Kerben hängt, der „Taschenrechner“ zum Zählen der Tiere.

Beim Schrei des Hirten – einem langgezogenen kehligen Laut – recken die Tiere ihre Köpfe. Doch sie halten Abstand. Erst als der Chef seine Blase leert, kommt eines der Tiere näher um den gefärbten Schnee zu schlappern. Tichon grinst. „Die Tiere mögen das. Es ist für sie wie Medizin.“ In der Tundra ist fast alles kostbar, auch das Blut der Rentiere, welches es als leicht gesalzenes Getränk zu den Mahlzeiten gibt. „Es enthält viele Vitamine und schützt vor Krankheiten“, erzählt Tichon.

 Aus der Tundra in deutsche Wohnungen
 Erdgas ist in Deutschland – nach dem Mineralöl – die zweitwichtigste Primärenergie. Der Anteil am Verbrauch liegt bei 22 Prozent. Nach Prognosen wird er sich bis 2020 auf 30 Prozent erhöhen.

Das in Deutschland verbrauchte Gas stammt zu 82 Prozent aus Importen. Eine Drittel des Erdgases wird aus Russland eingeführt. Etwa 90 Prozent des russischen Erdgases kommen aus Westsibirien. Die größten russischen Erdgasfelder – Urengoy, Jamburg und das noch unerschlossene Feld auf der Jamal-Halbinsel – liegen im Jamal-Nenzen-Gebiet am Polarkreis, einem Territorium, das doppelt so groß ist wie Deutschland. Hauptort des Jamal-Nenzen-Gebiets ist Salechard am Ob.

Pausen gibt es in der Tundra nicht

Wo die Herde steht, ist die eineinhalb Meter dicke Schneedecke aufgewühlt. Mit ihren zarten Beinen graben sich die Tiere durch den Schnee zum türkisfarbenen „Jagel“, dem Rentiermoos. Sie knabbern nur die Spitzen, die Wurzeln essen sie nicht. Eine beschädigte Wurzel wächst erst nach Jahren wieder nach. „Die Tiere wissen das“, behauptet der Chef.

Auf der Suche nach Nahrung ist die Herde ständig in Bewegung. Hunderte von Kilometern legen die Tiere im Jahr zurück. Selbst bei der Geburt der Jungtiere gibt es keine Pause. Schon eine Stunde nach der Geburt folgt das Kälbchen auf wackeligen Beinen seiner Mutter.

Im Winter treiben die Hirten die Tiere mit Hilfe von Hunden in die Wälder im Südosten. Im Sommer ziehen sie zurück über das Ural-Gebirge Richtung Nordwesten in die baumlose Tundra. „Je weiter im Norden, desto weniger Mücken und Parasiten“, meint Tichon.

Jetzt im November ist Schlachtzeit. Die Jungtiere werden in ein Gatter getrieben. Und dann geht es wie am Fließband. Die Beine werden gefesselt. Mit einem Dolch wird dem Jungtier die Kehle aufgestochen. Das Tier spannt sich mehrmals ruckartig und im Herzrythmus strömt das Blut aus dem Hals in einen Holztrog. Die kostbare Flüssigkeit wird gefroren und dann als Futter an Pelztierfarmen verkauft. Wenn das Tier kein Blut mehr gibt, wird das Fell abgezogen. Dann wird es geschlachtet. Mit dem Stich in die Kehle ist das Tier nach Meinung der Hirten praktisch tot. Daß die Methode brutal ist, davon will Tichon nichts wissen. „Sollen wir den Rentieren etwa Gift geben?“

In drei Wochen werden 300 Jungtiere geschlachtet. Insgesamt produziert das Unternehmen „Salechard-Agro“ mit seinen 8.000 Rentieren 60 Tonnen Fleisch im Jahr. Man hofft bald auf eine Einfuhrgenehmigung der EU, um das Fleisch dort für 17 Euro das Kilo zu verkaufen. In Rußland bringt ein Kilo nur zweieinhalb Euro ein. Doch die Importerlaubnis zu erhalten, wird nicht einfach, denn 500 Kilometer nordwestlich von Salechard auf der Inselkette Nowaja Semlja wurden bis Ende der 80er Jahre unterirdisch Atombomben getestet. „Die ökologische Situation hat sich verschlechtert, die Tiere sind schwächer geworden,“ erzählt Tichon.

„Die ‚Gasowiki’ rauben unser Land“

Wenn man Tichon reden hört, scheint es in der Tundra keine anderen Feinde zu geben, als die „Gasowiki“, die Leute der großen Gaskonzerne. Sie vernichten bei den Bohrarbeiten wertvolles Weideland, streifen in ihrer Freizeit als Wilderer durch die Gegend und schießen nicht nur Hasen, sondern auch Rentiere. Mit Wölfen und Bären kommt Tichon dagegen offenbar gut aus. Zwischen den wilden Tieren und den Menschen gibt es ungeschriebene Verhaltensregeln. „Der Bär sieht den Menschen nur dann als Feind, wenn er angegriffen wird.“ Ein einzelnes Rentier dürfe er sich holen. Nur wenn der Bär sich mehrere Tiere holt, setze er sich „ins Unrecht“. „Dann läßt Gott es zu, daß man ihn tötet. Der Bär weiß das auch.“ Für diesen Fall hält Tichon einen „K 76“-Karabiner im Zelt bereit.

Die „Gasowiki“ bohren auf den besten Stellen, nicht in den Mooren, sondern auf höhergelegenen Flächen, dort wo das Rentiermoos wächst, berichten die Hirten Michail und Kiril. Sie kommen aus dem Dorf Sale. Dort will man im nächsten Jahr mit Bohrarbeiten beginnen. Unter der Erde werden die größten Gasvorkommen der Region vermutet. „Wenn sie in unserem Gebiet zu Bohren anfangen, werden die Weideflächen knapp,“ meint Michail. Um mit den Industriellen besser über Entschädigungen verhandeln zu können, will man zusammen mit anderen Rentierhirten eine Stiftung gründen. Wenn es gar nicht anders geht, werden die Rentierhirten auch direkt aktiv. Anfang der 90er Jahre sperrten die Hirten mit ihren Zelten die Zufahrtswege zu den Bohrplätzen.

„Wir sind nicht gegen die Zivilisation“, meint Michail. Aber die Gasunternehmen sollen Pacht zahlen und Straßen bauen. „Das Gas ist in 40 Jahren alle, aber die Straßen bleiben“, so seine einfache Rechnung.

Als Tichon und Sohn Alexej abends die schwere Felldecke vom Eingang zurückschlagen, empfängt sie das warme Licht der Petroleumlampen. Die Frauen haben den Tisch gedeckt. Es gibt gefrorenes, rohes Rentierfleisch und Fisch. Die Sonne ist untergegangen. Am Horizont bleibt ein Orange-Streifen. Tichon kriecht in den großen Schlafsack. Maria schließt die Vorhänge des Schlafabteils und legt sich neben ihren Mann. Aus dem Ofenrohr treibt der Wind wilde Funken in die Nacht.

Russland Wirtschaft

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