09.08.2023 13:11:56
ZENTRALASIEN
Von Gunter Deuber & David Kunz
Die himmelblauen Kuppeln über der berühmten Grabmoschee Turkistans sind ein weithin sichtbarer Blickfang. |
napp 750 Kilometer südwestlich des kasachischen Regierungssitzes Almaty liegt Schimkent. In dieser südlichsten Stadt Kasachstans mit ihren 350.000 Einwohnern sind die ethnischen Kasachen eindeutig in der Mehrheit. Das geschäftige Treiben auf dem Basar führt einem deutlich vor Augen und Nase: Taschkent ist gleich um die Ecke, Buchara und Samarkand sind nicht weit. Im zentralasiatischen Schimkent sind einige Schilder und Ortstafeln zwar ausschließlich auf Kasachisch geschrieben, aber trotzdem erinnern abbröckelnde Plattenbauten und ein leidlich erhaltenes Leninmosaik an die Sowjetzeiten.
Nasarbajew und die Kinder – der Präsident des Landes ist allgegenwärtig. |
Die Region Schimkent wurde zu Hochzeiten der sowjetischen Planwirtschaft in der Mitte des letzten Jahrhunderts zu einem bedeutenden Industriezentrum ausgebaut. Die Schwerpunkte waren Bleiverarbeitung und chemisch-pharmazeutische Produktion. Heute sind die meisten Industriebetriebe pleite oder kurz davor. Teils können sie ihre Arbeiter nicht oder nur mit Verzögerung bezahlen. Auch deswegen brach in Schimkent 1997 eine große Streikwelle los.
Die Armut ist auch heute noch groß in Südkasachstan. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt unter dem national festgelegten Existenzminimum. Und noch wirkt das industrielle Erbe der Sowjetzeiten nach: Die Region gilt als einer der ungesündesten Orte im Land. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist niedrig, hoch dafür die Unfruchtbarkeitsrate.
Aussicht auf eine heile Welt und auf „Zentralasien pur“ verspricht das unweit von Schimkent gelegene Turkistan. Für die gläubigen Moslems Zentralasiens ist es als Wallfahrtsort von großer Bedeutung. Ein Spruch besagt, daß drei Pilgerfahrten nach Turkistan einer Wallfahrt nach Medina und Mekka gleichkommen.
Das gewaltige Mausoleum des Hodscha Sufi Ahmad Jassawi ist eines der bedeutendsten Bauwerke der timuridischen Architektur Zentralasiens. |
Die mehrstündige Fahrt über vor Hitze flimmernden Asphalt in die verschlafene 80.000 Einwohnerstadt Turkistan führt durch größtenteils öde und vertrocknete Steppenlandschaften. Während der Busfahrer in waghalsigen Überholmanövern Lada um Lada frißt, fliegen draußen Baumwollfelder, Pferdereiter, Eselskarren, Schafherden und Kamelfarmen vorbei. Wer Pech hat, sitzt neben einem der wenigen funktionierenden Lautsprecher im Bus und wird während der ganzen Fahrt von türkisch anmutenden Klängen zu orientalischen Rhythmen und Gesang verfolgt. Doch auf diese Weise wird einem plötzlich bewußt, daß man die Prägungen der Sowjetunion irgendwo kurz nach Schimkent hinter sich gelassen hat.
Die Fahrt kostet umgerechnet weniger als zwei Dollar – für über 150 Kilometer kein schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis. Für die gleiche Summe kann man in einer Pilgerherberge in der Nähe der großen Grabmoschee in Turkistan nächtigen, und für 20 Dollar im Monat kriegt man sogar ein Zimmer in der Stadt. Mehr kann hier sowieso niemand bezahlen, liegt doch das durchschnittliche Monatsseinkommen in der Region unter 80 Dollar.
An der Straße zum Wallfahrtsort Turkistan |
Im Wallfahrtsort angekommen, ist die Promenade und Flaniermeile des „kleinen Mekka“ mit ihren zahlreichen Souvenirläden nicht zu verfehlen. Sie liegt direkt vor der Grabmoschee des Hodscha Sufi Ahmad Jassawi. Ihre Grundmauern wurden bereits im 14. Jahrhundert gelegt. Wer für den „Hadsch“, die traditionelle muslimische Wallfahrt, den Pilgerhut vergessen hat, kann hier zwischen Gebetstüchern, Perlenketten und anderem Souvenir-Schnickschnack noch schnell einen erwerben. Überhaupt bewegen sich hier normale Touristen, religiös motivierte Pilgergruppen und streng muslimisch gekleidete Frauen ungezwungen nebeneinander. Vereinzelt kommen auch Usbeken oder gar muslimische Tschetschenen hierher. Das Ziel aller Pilger ist die monumentale Grabmoschee. Sie wird auf der einen Seite von einer erdfarbenen Schutzmauer umgeben, auf der anderen versprühen großzügig angelegte Rosenfelder einen süßen Duft.
Aber nicht nur zur Hadsch lohnt sich die Reise nach Turkistan. Kulturhistorisch gesehen ist das Mausoleum mit 60 Metern Länge und 50 Metern Breite eines der bedeutendsten Bauwerke der timuridischen Architektur Zentralasiens. Sie ist benannt nach dem tatarisch-türkischen Herrscher Timur (Tamerlan) (Vergl. dazu EM 11-03 DIE OSMANEN). In den letzten Jahren wurde es renoviert und ist heute in einwandfreiem Zustand. Finanziert wurden die Bauarbeiten unter anderem durch Gelder aus der Türkei. Die Kuppeln des vermutlich nie ganz fertig gestellten Bauwerks sind prunkvoll im legendären Himmelblau gehalten – teils mit aufwendigen Mustern bemalt. Drei der vier Außenfassaden sind mit fein gearbeiteter muselmanischer Ornament- und Mosaikkunst in Blau, Grün und Türkis verziert. Die Frontseite ist überdimensional, aber in schlichten Erdfarben gehalten und zieht den Besucher förmlich zur Eingangstüre hin. Das Innere des Gotteshauses enttäuscht jedoch den Eintretenden, der entzückt von der äußeren Schönheit des Gebäudes eine Fortsetzung erwartet. Im Innenraum gibt es nichts außer weiß getünchten Wänden, einigen Informationstafeln und einem Schaukasten. Darin ein Koran, den der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew herbrachte und angeblich persönlich gelesen haben soll. Dies wird verbreitet, obwohl er sich in den ersten Jahren der kasachischen Unabhängigkeit gerne noch als Atheist pries.
Freundschaft der Turkvölker
Überbleibsel aus Sowjetzeiten – ein Mosaik mit Lenin. |
Nicht nur die Kuppeln von Moschee und Mausoleum zeugen vom islamischen Einfluß in Turkistan. Unweit des Zentrums steht die Türkisch-Kasachische Universität. Das Bauwerk der Postmoderne befindet sich teils noch im Bau und wird ebenso von einer himmelblauen Kuppel geschmückt. Den Eingang zum Gelände zieren die Fahnen der Herkunftsländer der Studierenden. Im Wind wehen Flaggen der Republiken Zentralasiens, der Türkei, Rußlands, der Ukraine, Ungarns, Bulgariens, Moldawiens und der Slowakei. Die spanische ist auch darunter.
Auf Anfrage präsentiert das Wachpersonal stolz den Museumssaal, das Prunkstück der Universität. Rechts und links vom Eingang stehen die Büsten Kemal Atatürks und Nursultan Nasarbajews in Gold gegossen. Ins Auge stechen vor allem die Orden, die um Nasarbajews Hals hängen und die blanke Brust von Atatürk umso schlichter aussehen lassen. Die bunt bemalte Innenwand des Museums illustriert die glorreiche Geschichte Kasachstans. Hier reiht sich der aktuelle Herrscher Kasachstans direkt zwischen die großen kasachischen Dichter und Denker ein. Ein weiteres Gemälde symbolisiert die Freundschaft der Turkvölker: Atatürk und Nasarbajew flankieren die Flaggen aller turksprachigen Länder. Nicht zu verkennen ist, daß der Schöpfer des Gemäldes den kasachischen Vertreter sichtlich über seinem historischen Amtskollegen schweben läßt.
Personenkult wie zu alten Zeiten
Neubau der Universität von Turkistan – die alte Architektur steht auch hier Pate. |
Die Darstellungen im Museum runden bisherige Impressionen in Schimkent und Turkistan ab. Viele Aufschriften sind nur in Kasachisch gehalten. Ein Türke kann sich hier ganz einfach verständigen und wird schon mal für einen usbekischen „Bruder“ gehalten. Auf dem Basar tut man sich trotz sowjetischer Vergangenheit mit Russisch bereits schwer. Man ist eben eindeutig im kasachischen Kasachstan und im von Turkeinflüssen dominierten Zentralasien angekommen.
Allgegenwärtig ist der immer mehr autokratisch und selbstbewußt-patriotisch regierende kasachische Präsident. Er kontrolliert das Land schon seit 1989 und lacht heute überlebensgroß von unzähligen Plakaten. Mal präsentiert sich Nasarbajew mit seiner Verfassung aus dem Jahre 1995, die ihm fast unbeschränkte Macht zugesteht, mal als Vaterfigur, umgeben von kasachischen Kindern. Er ist zu sehen neben der muslimischen Grabmoschee als Förderer der Bildung vor der Universität oder als Modernisierer mit seinem enormen Zukunftsprogramm „Kasachstan 2030“.
Stolz sind die Menschen im südlichen Landesteil auf ihre neue Präsidialrepublik - und doch scheint man dem propagandistischen Erbe aus der Ära vor Gorbatschow nirgendwo in Kasachstan entfliehen zu können. Die Verkündung einer fernen verheißungvollen Zukunft hinterläßt den Beigeschmack von altem sowjetisch-kolonialem Wein - nur eben in neuen kasachifizierten Schläuchen.
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