Überall lebt es sich besser als in der HeimatLANDFLUCHT IN RUSSLAND

Überall lebt es sich besser als in der Heimat

Überall lebt es sich besser als in der Heimat

Die boomenden russischen Großstädte Moskau, Sankt Petersburg und Nischnij Nowgorod ziehen junge Leute aus dem ganzen Land ab. In ihren Heimatorten bleiben vorwiegend ältere Menschen in trister Einsamkeit zurück. Besonders hart trifft es die Region Iwanowo, das alte Zentrum der russischen Textilindustrie rund 300 Kilometer östlich von Moskau. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat allein die Stadt ein Fünftel ihrer Einwohner verloren.

Von Florian Willershausen

Textilfabrik in Iwanowo: nur wenige finden hier noch bezahlte Arbeit.  
Textilfabrik in Iwanowo: nur wenige finden hier noch bezahlte Arbeit.
Foto Willershausen
 

W ir sind ein sowjetisches Hotel“, warnt die ältere Frau an der Rezeption, die mit ihrer 80er-Jahre-Frisur hinter einer Panzerglasscheibe sitzt. „Verstehen Sie, ein sowjetisches Hotel.“ Es gebe kein warmes Wasser, schon gar keinen Fernseher und das Bad müsse man mit anderen Leuten auf der Etage teilen: „Ein sowjetisches Hotel eben.“

Auf den ersten Blick ist in Iwanowo nur das Zentralhotel sowjetisch. Ansonsten scheint sich die Stadt des Kommunismus weitgehend entledigt zu haben. Im Zentrum gibt es in jeder Straße ein Handygeschäft, oft auch zwei oder drei. Am Ufer des Flusses Uwod wurde ein  riesiges Einkaufszentrum hochgezogen – dort, wo einst eine große Textilfabrik stand. Die Lenin-Büste ist von den meisten Plätzen verschwunden. Nur auf der frisch gestrichenen Fassade der Textiluniversität prangen noch Hammer und Sichel, die verblassten Symbole der Sowjetunion.

Die Stadtväter von Iwanowo haben die Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit nur aus dem Stadtbild verdammen können, nicht aber aus den Köpfen der Bevölkerung. „Vor allem die älteren Menschen leben in Gedanken noch in der Sowjetunion“, beklagt Bürgermeister Alexandr Fonin (49), wie praktisch alle seine Kollegen Mitglied der Putin-Partei „Einiges Russland“. Er kann es ihnen nicht verdenken. Mit dem Untergang der Sowjetunion ist der Niedergang jener Stadt Iwanowo eng verbunden, die jahrzehntelang der Webstuhl des Sowjetimperiums war und den Beinamen „russisches Manchester“ trug. Fast jedes Stück Stoff stammte damals aus einer der rund 100 Textilfabriken der Gegend. 85 Prozent der Einwohner dieser 300 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Region arbeiteten im Textilgewerbe. Als Anfang der 90er Jahre mit der „Schocktherapie“ der Reformer um Präsident Jelzin die Preise freigegeben wurden, die Fabriken ihre Rohstoffe teuer aus dem Ausland importieren und die eigenen Waren billig verkaufen mussten, brach mit dem Textilgewerbe die ganze Region zusammen. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung standen Mitte der 90er Jahre ohne Arbeit auf der Straße. Sie ernährten sich von Kartoffeln und Gurken aus dem Garten – ebenso wie jene, die noch arbeiteten, aber dafür kein Geld erhielten.

Der heimische Garten hat vor dem Verhungern bewahrt

„Wir hatten praktisch keine Arbeit. Und wenn, dann bekamen wir dafür keinen Lohn“, erinnert sich Nadeschda Simakowa. „Das war wirklich kein Spaß.“ Nur durch den Zusammenhalt in der Familie und mit Hilfe des heimischen Gartens habe man in dieser schwierigen Zeit überleben können. Die 45-jährige Ingenieurin arbeitet seit 20 Jahren für die Textilfabrik „Schuiskie Sitsy“ in der Kleinstadt Schui, östlich von Iwanowo. In ihrem Unternehmen haben die Mitarbeiter noch Glück gehabt: Nach fünf schwierigen Jahren gelang einem neuen Geschäftsführer die Sanierung. „Heute arbeiten wir mehr oder weniger stabil“, sagt Simakowa, deren weiße Stöckelschuhe laut vom Backsteinboden widerhallen.

Die Wände der Fabrikhalle sind steril in Mintgrün gehalten. Auf den Fensterbänken stehen Topfpflanzen, die von der hohen Luftfeuchtigkeit leben. Rohre durchziehen die riesigen Hallen, an manchen Stellen quillt Glaswolle hervor, die mit etwas Klebeband fixiert worden ist. Dutzende Arbeiterinnen stehen in blauen Kitteln mit Blümchenmuster an klobigen Nähmaschinen. Simakowa ist für die Qualitätskontrolle in der Fabrik zuständig, wo vorwiegend Tischdecken und Gardinen hergestellt werden. „Das meiste macht heute ja der Computer“, sagt sie, aber auch dem müsse man ab und zu auf die Finger schauen. Ihr Sohn hat fünf Jahre in der Verwaltung einer Textilfabrik gearbeitet, inzwischen ist er zur Stadt gewechselt. Ein bisschen traurig ist sie schon, dass er die berufliche Familientradition nicht fortführt. Aber: „Wenigstens ist er in Iwanowo geblieben.“

Die Zahl der Arbeitsplätze reicht nicht, um die Schrumpfung aufzuhalten

In der schwülfeuchten Luft arbeiten nur noch wenige schlecht bezahlte Frauen. Foto Willershausen.  
In der schwülfeuchten Luft arbeiten nur noch wenige schlecht bezahlte Frauen. Foto Willershausen.  

Etwa drei Viertel der Textilunternehmen mussten den Betrieb in den 90er Jahren einstellen, weil sie nicht wettbewerbsfähig produzieren konnten. Die Fabriken, die heute in Betrieb sind, steuern noch 23 Prozent des Wirtschaftseinkommens bei, beschäftigen aber deutlich weniger Arbeiter.

Neben dem Textilgewerbe hat die Wirtschaftsregion Iwanowo eine relativ starke Maschinenbauindustrie zu bieten. Die meisten arbeiten aber in Dienstleistungsberufen. Doch die Zahl der Arbeitsplätze vor Ort reicht nicht aus, um den Schrumpfungsprozess aufzuhalten. Seit dem Ende der Sowjetunion hat die Stadt ein Fünftel ihrer einst knapp 500.000 Einwohner verloren. Die Bevölkerung im Gebiet ist von 1,3 Millionen im Jahr 1990 auf etwas über eine Million im Jahr 2007 zurückgegangen.

Im Stadtbild sind noch viele junge Leute zu sehen, die an einer der sieben Universitäten studieren. Doch die Kleinstädte in der Umgebung veraltern zunehmend. Und zukunftsfähige Arbeit mit guter Bezahlung findet sich auch in der Stadt nicht, obwohl es mit der Wirtschaft in der Region wieder aufwärts geht. Im Jahr 2007 haben drei neue Textilfabriken eröffnet. Manche der Textilarbeiter verdienen kaum mehr als 100 Euro, der Durchschnittslohn in der Region liegt bei knapp 200 Euro. Wem das zu wenig ist, der sucht und findet Arbeit im boomenden Moskau, wo die Gehälter bei 500 Euro liegen.

Der Neffe lebt recht gut in München – aber das ist doch nicht seine Heimat

„Moskau ist keine Stadt zum Leben, sondern eine zum Geldverdienen“, sagt Anatolij Joffe verächtlich. Sein Sohn ist zum Glück nicht in die Hauptstadt abgewandert, aber alle seiner fünf Kumpels, mit denen der Junge zur Schule gegangen ist. Der 62-Jährige hofft, dass viele wegen der zuletzt guten Wirtschaftsentwicklung zurückkehren werden. Doch die Zahlen geben ihm bislang nicht Recht. Auch sein Neffe ist fort. Er hat früher als Elektriker in einer Textilfabrik gearbeitet, so wie viele junge Männer. Dort verdiente er 3.000 Rubel (85 Euro) im Monat. Dann ging er nach München, wo sie Elektriker brauchten und ihm 3.000 Euro pro Monat zahlten. Davon konnte er sich eine Wohnung kaufen, inzwischen hat er sogar die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Anatolij Joffe versteht das nicht: „Das ist doch nicht seine Heimat!“

Der pensionierte Wissenschaftler ist Geschäftsführer der Stiftung „Vaterstadt“. Er kümmert sich darum, dass Geschäftsleute – „Bisnesmeni“, wie sie im Russischen genannt werden – einen Teil ihres Reichtums für wohltätige Zwecke spenden. In den fünf Jahren ihres Bestehens hat die Stiftung viele Millionen Rubel gesammelt, mit denen Medikamente für Krankenhäuser gekauft, Kindergärten renoviert und die Ausstattung von Seniorenheimen verbessert wurden. Trotzdem: „Wir haben viele arme Leute hier“, sagt Joffe. Besonders die Senioren machen ihm Sorgen, denn mit deren Renten von weniger als 100 Euro könne man immer weniger leben.

Im Billardcafé „Revolution“ ist die Zentrale der Kommunistischen Partei

Viele Senioren treffen sich im Raum über dem Billardcafé „Revolution“. Dort ist die Zentrale der Kommunistischen Partei (KPRF) untergebracht. Iwanowo war eine ihrer Hochburgen; bis vor zwei Jahren durfte die Partei sogar den Gouverneur der Region stellen. Inzwischen ist auch diese Industrieregion in die „Machtvertikale“ des Kremls eingegliedert. Der größte Teil der KPRF-Anhänger sind Rentner, die der sowjetischen Vergangenheit nachtrauern. Einer von ihnen ist Wadim Salmanson, ein Ingenieur und ehemaliger Hochschuldozent. Der 76-jährige sitzt schweigend an einem 4/86er-Computer und tippt langsam auf die Tastatur. An dem blauen Hemd unter seiner Krawatte stehen zwei Knöpfe offen, aus der Hemdtasche ragen ein pinkfarbener Kamm und ein angespitzter Bleistift heraus.

Der Pensionär tippt eine Petition an den Gouverneur. Darin wirft er einem Dumaabgeordneten der Partei „Einiges Russland“ vor, ein altes Textilwerk in der Innenstadt absichtlich heruntergewirtschaftet zu haben, um nach der Insolvenz auf dessen Gelände ein Einkaufszentrum bauen zu können. Der alte Mann redet sehr langsam und kaum verständlich, mehrere Goldzähne blitzen bei jedem Wort aus den Mundwinkeln hervor. Doch sein Verstand scheint voll da zu sein. Deswegen macht er sich auch keine Hoffnungen, dass er mit seiner Petition irgendetwas bewirken kann.

„Der Staat beachtet uns nicht“, sagt er und tippt weiter. Hinter seinem PC sitzt ein großer Lenin in einem Bilderrahmen und schaut zu. Seine Senioren halten die kommunistische Vergangenheit lebendig. Ein bisschen jedenfalls.

*

Der Autor ist Korrespondent von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern.

Sein Beitrag ist Teil einer Reportage-Reihe. Hintergrund ist das Renovabis-Jahresmotto zum Thema „Alt. Arm. Allein?“.  Mehr zur Kooperation zwischen n-ost und Renovabis unter www.n-ost.de/renovabis-reportagereihe. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.

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