09.08.2023 13:11:56
BERLIN-KRIM-BERLIN
Von Juliane Inozemtsev
Wenn man in Sewastopol spazieren geht, zum Beispiel am „Primorskij Bulward“ – „Meeresboulevard“, dann macht man sich schick. Foto: Inozemtsev |
ie kalte Jahreszeit hat begonnen - hier in Berlin, aber auch auf der Krim. Höchste Zeit also, die warme Kleidung wieder hervorzuholen! Wenn man kleine Kinder hat, so wie auch wir, muss man vieles neu besorgen, denn die Sachen vom vergangenen Jahr sind meist schon zu klein geworden. Zwar bekommen wir ab und zu Kindersachen von Freunden, dennoch habe ich in diesem Herbst für unseren fünfjährigen Sohn und unsere zweijährige Tochter insgesamt etwas mehr als 400 Euro ausgegeben. Und eine kleine Umfrage im Freundeskreis ergab: Damit liege ich noch im unteren Mittel. Schließlich sollen die Kleinen ja gute Stiefel haben, auch ein Paar zum Wechseln, falls das andere nass wird. Und zwei warme Jacken, falls eine mal schmutzig ist. Das summiert sich schnell.
Wie um alles in der Welt, habe ich mich gefragt, machen das Familien mit Kindern in Sewastopol? Besonders die Frauen und Kinder sind oft auffallend gut gekleidet: nicht nur sauber und adrett, sondern auch nach der neuesten Mode. Dabei beträgt das monatliche Familieneinkommen oft nicht mehr als 400-500 Euro netto, wenn man einmal von den Seefahrerfamilien absieht, die bei ausländischen Reedereien besser verdienen. Davon müssen, wie in Deutschland auch, viele Dinge des täglichen Lebens bezahlt werden. Doch wer meint, in der Ukraine wäre ja alles deutlich billiger, der irrt. Der Liter Benzin kostet auch schon mehr als einen Dollar, die Preise für Lebensmittel im Supermarkt liegen nur unwesentlich unter denen in Deutschland und Kleidung ist oft sogar teurer als hier. Und das nicht nur in den Einkaufszentren, sondern auch auf den Märkten am Rande der Stadt, zumindest wenn man eine gewisse Qualität erwartet.
Im vergangenen Winter fragte meine Schwiegermutter bei einem Bummel im Einkaufszentrum Musson: „Soll ich den Kindern nicht eine hübsche warme Jacke kaufen? Mir würde es Freude machen.“ Zuerst war ich einverstanden, doch als ich in dem Kinderladen sah, dass eine Winterjacke zwischen 800 und 1200 Griven, also 80 bis 120 Euro kosten sollte, habe ich das Angebot schnell abgelehnt und ihr erklärt, dass wir eine vergleichbare Jacke in Berlin für 50 Euro kaufen können. Warum sich also hier in Unkosten stürzen? Viel lieber haben wir uns dankend von ihr in eine gute Pizzeria einladen lassen.
Die Läden für Spielzeug und Kinderbekleidung in Sewastopol sind in der Regel an den Vormittagen leer, aber an den Nachmittagen und vor allem an den Wochenenden gut besucht. Mein Eindruck ist, dass dort trotz der hohen Preise viele Leute einkaufen gehen. Das bestätigt auch meine Freundin Marina, 32 Jahre alt, verheiratet und Mutter eines fünfjährigen Sohnes. „Wir kaufen auch in diesen Geschäften ein, obwohl es für uns sehr teuer ist“, sagt sie. „Weil dort die Qualität stimmt, und die Sachen nicht nach dreimal waschen auseinanderfallen. Aber unser Sohn hat auch nur zwei gute Pullover, zwei gute Jeans, eine gute Winterjacke und ein paar gute Winterstiefel.“ Ein zweites Paar zum Wechseln oder eine zweite Jacke gebe es nicht. Das könnten sie sich einfach nicht leisten. Wenn die Schuhe nass seien oder die Jacke schmutzig, bliebe ihr Sohn eben drinnen. Zuhause trage er ganz einfache Jogginghosen und zum Beispiel ein Shirt, bei dem die Ärmel schon etwas zu kurz geworden sind. „Da sieht es ja niemand“, sagt Marina. „Erst wenn wir rausgehen, zieht er seine guten Sachen an.“ Mit ihrer eigenen Kleidung sei es genauso, verrät sie mir. Sie kaufe sich pro Saison meist zwei schöne Outfits, komplett mit Schuhen und Tasche, die sie dann draußen in der Stadt oder auf der Arbeit trage. Zuhause ziehe sie ihre älteren Sachen an. Überhaupt sei es üblich, sich direkt umzuziehen, wenn man nach Hause käme.
Ich unterhalte mich auch mit meiner Freundin Nadja darüber. Sie hatte einmal erzählt, dass sie, abgesehen von Lebensmitteln, nur selten einkaufen gehe, und stattdessen fast alles im Internet bestelle. Nadja ist 33 Jahre alt, alleinerziehende Mutter eines achtjährigen Sohnes und selbstständige Unternehmerin. Sie hat theoretisch mehr Geld zur Verfügung als der Durchschnitt der Bevölkerung, aber sie lebt im Alltag trotzdem sehr sparsam. Jede Grivna, die am Monatsende übrig bleibt, legt sie zurück: für die Ausbildung ihres Sohnes, für das Alter, für möglicherweise kommende schwierige Zeiten. In der Ukraine ist die staatliche soziale Sicherung nur klein, so dass sie privat für die Zukunft vorsorgt.
Nadja weiht mich gleich in eines ihrer Shopping-Geheimnisse ein, das im Grunde genommen unter den Sewastopolern der jüngeren Generation schon keines mehr ist. Es heißt: „sovmestnaja pokupka“ – „gemeinsamer Einkauf“. Man trifft sich in verschiedenen lokalen Internetforen und bespricht online, wer gerade was braucht. Zum Beispiel schreibt Nutzerin Tatjana84 aus Sewastopol, sie würde gern Kinder-Winterstiefel einer bestimmten Marke bestellen. Diese würden normalerweise 40 Dollar pro Paar kosten plus Versand. Sie habe aber schon beim Händler nachgefragt, und wenn sie 20 Bestellungen zusammen bekäme, würde jedes Paar nur noch 30 Dollar kosten und die Versandkosten fielen auch weg. Nun fragt sie im Forum: Wer hat Interesse? Nadja findet das Angebot gut und sagt per E-mail zu. Sie ist sich sicher: „Zwanzig Interessenten finden sich schnell.“
Über das Forum kann man fast alles günstiger erwerben: vom Toaster bis zur Hundeleine, von Autoreifen bis zu goldenen Ohrringen. Und wenn das Gesuchte einmal nicht dabei ist, stellt man selbst eine Anfrage an einen Händler und unterbreitet dessen Angebot dann den anderen Forumsnutzern. „Wenn man darin etwas Übung hat und es häufig macht, rechnet es sich sehr“, sagt Nadja. Während ich noch darüber staune, wie gut die Sewastopoler, und insbesondere die Mütter, im Netz miteinander verbunden sind, erklärt mir Nadja, wie sie sonst noch Geld im Internet spart.
„Immer mehr Leute, und auch ich, gehen mittlerweile direkt auf Online-Plattformen in den USA und in China“, erklärt mir Nadja. „Die chinesischen Webseiten lasse ich mir dann von meinem Internet-Browser ins Englische übersetzen.“ Ich mache große Augen. Auf so eine Idee wäre ich gar nicht gekommen. Wohl auch, weil ich es bisher nicht musste. Ein großer chinesischer Marktplatz sei Taobao, erzählt Nadja. Dort kaufe sie Kleidung, Schuhe und Accessoires, aber man könne auch größere Haushaltsgeräte, wie eine Waschmaschine oder einen Geschirrspüler günstig bestellen. Diese würden dann direkt von China in die Ukraine verschifft. Dabei spare man erheblich gegenüber den Ladenpreisen in Sewastopol.
Wie global die gebildete jüngere Generation mittlerweile denkt und agiert, wird auch deutlich, als mir Nadja erzählt, woher sie ihre neuen schicken Lederstiefel hat. „Aus den USA“, sagt sie, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. Ich bin verblüfft. „Liefern die amerikanischen Händler denn auch in die Ukraine?“, frage ich erstaunt. Nach meiner Erfahrung ist es nämlich kaum möglich, etwas nach Deutschland zu bestellen. „Ganz so einfach geht es auch wieder nicht“, erklärt Nadja und lächelt ein klein wenig stolz. „Um in den USA etwas bestellen zu können, braucht man nicht nur eine Kreditkarte, sondern auch eine amerikanische Postadresse.“ Diese könne man aber ebenfalls problemlos im Internet erwerben. Es gebe zahlreiche Anbieter von US-Postadressen, die sich dann auch gleich um die Weiterleitung der Pakete in das jeweilige Wunschland, zum Beispiel in die Ukraine, kümmerten. Nadja ihrerseits wundert sich, dass ich das alles noch nicht wusste.
Während ich später am Abend vor meinem Laptop sitze - nicht etwa, um global auf Schnäppchenjagd zu gehen, sondern einfach nur um meine E-mails zu lesen, denke ich: Wir Deutschen glauben immer noch oft, die Menschen in Osteuropa würden den modernen Entwicklungen hinterherhinken. Was für ein Irrtum! In Wirklichkeit sind sie uns in so mancher Hinsicht sogar einen großen Schritt voraus.
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Juliane Inozemtsev ist freie Journalistin und Buchautorin aus Berlin. 2012 erschien im Lübbe Verlag ihr Buch „Werft die Gläser an die Wand - meine russische Familie und ich“. Die studierte Slawistin lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern hauptsächlich in Berlin, aber auch einige Monate im Jahr auf der Krim, in Sewastopol, der Heimatstadt ihres Mannes. Im EM schreibt sie darüber, was sie dort alles erfährt und erlebt. Die Namen der handelnden Personen sind zum Schutz der Privatsphäre geändert.
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