Vietnam ist in der Wirtschaftskrise und unzufrieden mit den KommunistenVIETNAM

Krisenstimmung in Hanoi

Im Streit um Erdölvorkommen im West-Pazifik spitzen sich die krisengeschüttelten Beziehungen zwischen China und Vietnam zu. Hinter den gewaltsamen Übergriffen wütender Demonstranten auf chinesische Fabriken verbirgt sich mehr: Vietnams Wirtschaftskrise, Unzufriedenheit mit der KP-Herrschaft in Hanoi und Forderungen nach politischen Reformen. 

Von Wilfried Arz

Flagge von Vietnam: In Hanoi herrscht derzeit Krisenstimmung
Flagge von Vietnam: In Hanoi herrscht derzeit Krisenstimmung

Chinas Verlegung einer Erdöl-Plattform im Südchinesischen Meer in ein auch von Hanoi beanspruchtes Meeresgebiet hat im Mai 2014 in Vietnam schwere Unruhen ausgelöst. Zielscheibe wütender Demonstranten waren chinesische Industriebetriebe - aber auch Fabriken Taiwans, Südkoreas und Singapurs. Plünderungen und Verwüstungen durch vietnamesische Protestgruppen lösten eine Flucht tausender chinesischer Fachkräfte in ihr Heimatland aus. Vietnams historisch ohnehin stark belasteten Beziehungen zu China bewegen sich damit wieder einmal auf einem Tiefpunkt.   

Augenfällige Untätigkeit staatlicher Sicherheitskräfte deutet auf eine Steuerung der Demonstrationen durch Vietnams kommunistische Staatsführung in Hanoi. Latente nationalistische Stimmungslagen lassen sich leicht außenpolitisch instrumentalisieren. Die Tolerierung anti-chinesischer Demonstrationen dürfte auch innenpolitisch motiviert gewesen sein: Unzufriedenheit in der eigenen Bevölkerung ein Ventil zu schaffen. Aufgestaute Wut geriet in Industriezonen Süd-Vietnams jedoch schnell außer Kontrolle. Jenseits der aktuellen Konflikteskalation mit China geht es um mehr: Vietnam drückt ein Bündel von Problemen: systemdestabilisierende Wirtschaftskrise und Flügelkämpfe innerhalb der kommunistischen Partei, Unzufriedenheit mit dem Herrschaftsmonopol der KP und zunehmende Forderungen nach politischen Reformen.

China stellt Industrieprojekte ein

In Hanoi stehen seit Mai die Baukräne still. China sollte in Vietnams Hauptstadt eine 16,5 Kilometer lange Schnellbahntrasse bauen, um chronische Verkehrsprobleme der 6,5 Millionen-Metropole zu entlasten. Die für Ende 2014 geplante Inbetriebnahme wird sich auf unbestimmte Zeit verzögern: im Zuge jüngster gewaltsamer Übergriffe auf Chinas Fabriken wurden die Bauarbeiten in Hanoi eingestellt. Stillstand auch bei anderen Milliardenprojekten Chinas. Hanoi bekommt die wirtschaftlichen Konsequenzen anti-chinesischer Proteste zu spüren - in Zeiten makroökonomischer Strukturprobleme keine gute Nachricht für Vietnams KP-Führung, die ihren Herrschaftsanspruch heute durch wirtschaftliche Erfolge sicherstellen muss. Und diese bleiben zunehmend aus.  

Entwicklungsmodell in Schieflage

Seit Jahren schon steckt Vietnam in der Krise. Hohe Inflation und steigende Lebenshaltungskosten, unkontrollierte Immobilienspekulation und systemische Korruption bis in höchste Regierungskreise, faule Bankenkredite und marode Staatsunternehmen belasten Vietnams Wirtschaft. Zweifel an der wirtschaftlichen Steuerungskompetenz der Regierung unter Nguyen Tan Dung regen sich in der Bevölkerung und auch innerhalb der KP-Spitze Vietnams. Dort sollen (hinter den Kulissen) Auseinandersetzungen zwischen  Reformern und Konservativen an Schärfe deutlich zugenommen haben.

Spagat von Marxismus und Kapitalismus

Vietnams wirtschaftliche Schieflage ist eine fatale Mischung aus Weltmarktkrise(n) und Strukturproblemen des von Hanoi verfolgten Entwicklungsmodells - einem Spagat aus marxistischer Ideologie und kapitalistischer Wirtschaft. Neben privaten Betrieben und Auslandskapital tummelt sich in Vietnam eine Vielzahl staatseigener Unternehmen. Diese erbringen zwar vierzig Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung, sollen inzwischen jedoch einen Schuldenberg von rund 150 Milliarden US-Dollar akkumuliert haben - dies entspricht einem Drittel des Bruttoinlandproduktes (BIP). Eine Sanierung staatskapitalistischer Unternehmen kommt der sprichwörtlichen “Herkules-Aufgabe” gleich. Vietnams Staatsbetriebe dominieren Wirtschaftssektoren (Banken, Energie, Telekom, Schiffbau, Schwerindustrie), deren Zugang ausländischen Investoren bislang weitgehend verschlossen bleibt. Druck aus dem Ausland (USA, Japan, EU) nach einer weiteren Öffnung der Wirtschaft Vietnams nimmt deshalb zu.

Wirtschaftliche Abhängigkeit von China

Weltfinanzkrise (2008/2009) und Eurokrise (2010) haben Vietnam Einbrüche seiner Absatzmärkte in USA, Japan und EU beschert. Einseitige Abhängigkeiten durch enge wirtschaftliche Verflechtung bestehen auch zu China - mit 50 Milliarden US-Dollar (2013) Hanois größter Handelspartner. Eine asymmetrische Wirtschaftsbeziehung. Vietnam verzeichnet seit Jahren ein chronisches Handelsbilanzdefizit: 2013 rund 16 Milliarden US-Dollar. China liefert insbesondere einen Großteil jener Komponenten, die in Vietnams ausländischen Industriebetrieben montiert und als Fertigprodukte reexportiert werden. Erfolg und Konkurrenzfähigkeit des Produktionsstandortes Vietnam beruhen nicht unwesentlich auf kostengünstigen Importen aus China. In Zeiten politischer Beziehungskrisen für Hanoi Grund über alternative Optionen nachzudenken.

Wirtschaftspolitischer Zick-Zack-Kurs

Flexibles Anpassungsvermögen in der Wirtschaftspolitik hat die KP-Führung Vietnams mehrfach unter Beweis gestellt: nach 1954 eine radikale Bodenreform (Kollektivierung) und Förderung der Schwerindustrie - Vorbild: China. Nach 1975 (Ende des Vietnam-Krieges) die Orientierung am sowjetischen Entwicklungsmodell - Ergebnis: wirtschaftlicher Bankrott, bedingt durch Implosion der Sowjetunion, dem kräftezehrenden Krieg Vietnams in Kambodscha (1979-1989) und dem Boykott des Westens. 1986 dann die schrittweise Neuausrichtung an Chinas neuem Entwicklungsmodell Deng Xiaopings: wirtschaftliche Liberalisierung. Vietnams Weltmarktöffnung als letzten Schritt eines wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels vollzog Hanoi unter den Regierungschefs Vo Van Kiet (1991-1997) und Phan Van Khai (1997-2006). Heute steckt Vietnam wieder einmal in der Krise - in der Wirtschaft und auch in der Politik.

Politische Debatten im Internet

Während antichinesische Proteste Vietnam im Mai 2014 lautstark erschütterten, gewinnen pro-demokratische Stimmen in Vietnam seit Jahren leise an Aufwind. Staatliche Zensur verhindert eine öffentliche Austragung politischer Debatten. Regimekritik hat  sich deshalb in einen Bereich verlagert, der vom KP-Sicherheitsapparat nicht einfach unter Kontrolle gehalten werden kann: das Internet. Seit 1997 ist Vietnam online. Den Internetzugang kontrollieren drei Staatsunternehmen: VNPT (Telekom-Ministerium), FPT (Wissenschaftsministerium) und Viettel (Verteidigungsministeriums). Vietnams Polizei soll erst kürzlich die moderne Überwachungstechnologie FinFisher der britischen Firma Gamma International installiert haben.

Trotz selektiver Netzsperren wird das Internet zur Verbreitung regierungkritischer Informationen intensiv genutzt. Zu den bekanntesten blogs zählen: Quanlambao, Danlambao, Cau Nhat Tan und Xuandienhannom. Soziale Medien erfreuen sich in Vietnam ebenfalls großer Beliebtheit: so soll die Zahl der Facebook-Nutzer von 10 Millionen (2010) auf 24 Millionen (April 2014) gestiegen sein. Regierungskritische Blogger leben allerdings gefährlich: ihnen drohen langjährige Gefängnisstrafen und Hausarreste. Hanois Staatsapparat reagiert auf regierungsfeindliche Kritik zunehmend mit Repression. Forderungen nach politischer Partizipation bedrohen das KP-Herrschaftsmonopol.

Forderungen nach politischem Systemwandel

Umfragen über die politische Stimmungslage in Vietnam existieren nicht. Gleichwohl hat das Interesse an politischen Themen und die Bereitschaft, diese offen zu artikulieren  zugenommen. Die Erkenntnis einer Verbindung zwischen wirtschaftlichen Problemen und dem politischen System ist in den Mittelpunkt der Diskussionen gerückt. Forderungen nach einer politischen Liberalisierung haben ihren Niederschlag in der Gründung von Oppositionsgruppen gefunden: Bloc-8406 und die Vietnam Progressive Party (VNPP) - gegründet 2006 vor dem Hintergrund der Beitrittsverhandlungen Vietnams zur Welthandelsorganisation WTO und der APEC-Konferenz in Hanoi. 

2013 legte die “Gruppe 72” - ein Zusammenschluss ehemaliger hochrangiger KP-Mitglieder, Intellektueller und pensionierter Militärs, einen Verfassungsentwurf für ein demokratisches Mehrparteiensystem vor. Hanois kommunistische Regierung selbst hatte die Bevölkerung im letzten Jahr aufgerufen, Vorschläge für eine geplante Verfassungsänderung einzureichen. Vietnams neue Verfassung (Anfang 2014 in Kraft getreten) sichert hingegen der KPV in Artikel 4 weiterhin das Herrschaftsmonopol. Schritte zu einer politischen Liberalisierung sind in Vietnam nicht erkennbar.

„Vietnamesischer Frühling“ nicht in Sicht

Bauern protestieren gegen Landenteignungen für Industrieparks und Golfplätze, Christen beklagen Hanois repressive Religionspolitik, Studenten kritisieren hohe Studiengebühren, Minderheiten sehen sich durch Zuzug vietnamesischer Siedler ihrer Lebensgrundlagen in  Bergregionen von Nordwest- und Zentral-Vietnam beraubt. Weitverbreitete Korruption und brutale Übergriffe von Polizeieinheiten bei Konflikten sind weitere Auslöser zunehmender Kritik an Hanois autoritärer Herrschaft.

Droht Vietnams KP durch wachsende Unzufriedenheit Gefahr? Spontane soziale Proteste weisen ein durchweg heterogenes Profil auf, bleiben bislang lokal und thematisch begrenzt. Auch politische Forderungen von Internet-Bloggern nach einem Mehrparteien-System lassen nicht den Schluss zu, eine allgemeine Stimmungslage zu repräsentieren. Vietnams wachsende Mittelschicht neigt (ebenso wie in China) eher zu konservativen Einstellungen - das Interesse der Absicherung wirtschaftlicher Errungenschaften durch politische Stabilität. Enge Vernetzungen in digitalen Medien finden auf der Ebene sozialer und politischer Proteste bislang keine Entsprechung - ein „vietnamesischer Frühling“ ist nicht in Sicht.

Flügelkämpfe im Politbüro

Politische Stabilität steht auch im engsten Führungszirkel der Kommunistischen Partei in Hanoi im Mittelpunkt kontroverser Auseinandersetzungen. Im Politbüro (16 Mitglieder) spitzen sich seit Jahren offenbar Konflikte zwischen dem konservativen Flügel um den Parteichef Ngyuen Phu Trong und den Reformern um Regierungschef Ngyuen Tan Dung zu. Dung wurde 2013 um Haaresbreite durch ein Misstrauensvotum entmachtet. Korruption bis in höchste Regierungskreise, Milliardenschulden von Staatsunternehmen und makroökonomische Schieflage der Wirtschaft werden in Politbüro und Zentralkomitee als Gefahr der politischen Systemstabilität und damit der KP-Herrschaft gesehen. Streitpunkt auch: Hanois Verhältnis zu Beijing und die außenpolitische Annäherung an Washington als geopolitisches Gegengewicht zu Chinas Durchsetzung eigener Interessen im ressourcenreichen  Südchinesischen Meer.

Neupositionierung in Krisenzeiten

Mit dem Beitritt zur ASEAN-Staatengemeinschaft (1997), dem Handelsabkommen mit den USA (2001) und dem Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO (2007) ist Vietnam wirtschaftlich eng mit der Weltwirtschaft verflochten. Seit 2010 besteht eine Freihandelszone ASEAN-China. 2015 sollen alle Zollschranken zwischen den ASEAN-Staaten fallen. Die anti-chinesischen Ausschreitungen im Mai dürfte Hanoi nun instrumentalisieren, um das Verhältnis zu Beijing selbstbewusst auf eine neue Grundlage zu stellen und neue Akzente in Außenwirtschaft und Außenpolitik zu setzen.

So steht Vietnam derzeit in Verhandlungen über diverse Handelsabkommen (EU, Südkorea, USA). Besondere Relevanz kommt dem gegen China gerichteten US-Projekt eines Transpazifischen Handelsabkommen (TPP) zu. Mit einem Beitritt könnte Vietnam seine Position im Ringen um Standortkonkurrenz im bevorstehenden Freihandelsraum West-Pazifik (zu Lasten Chinas!) stärken. Auch sicherheitspolitische Konstellationen sind in Südostasien in Bewegung geraten. Neben  Aufrüstung seiner Streitkräfte (Marine, Luftwaffe) unterhält Hanoi bilaterale Verteidigungsabkommen mit 65 Staaten. Vietnams schwieriger Nachbar China bekommt seit Jahren geopolitischen Gegenwind zu spüren.
 
In Bewegung gekommen sind auch Neupositionierungen in der Machtbalance zwischen Regierung und KP-Apparat. Konflikte in Politbüro (16 Mitglieder) und Zentralkomitee (175 Mitglieder) haben zu Verschiebungen bei der politischen Kompetenzverteilung geführt. Die neue Verfassung (2013) stärkt die Stellung des Staatspräsidenten. Korruptionsbekämpfung wurde dem Zuständigkeitsbereich der Regierung entzogen und der Partei übertragen. Die Regierung soll künftig der KP-Spitze gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Flügelkämpfe zwischen Konservativen und Reformern um politischen Machteinfluss werden Vietnams Staatsapparat auch in den kommenden zwei Jahren  bestimmen. Der 2016 anstehende 12. KP-Parteitag wirft bereits seine Schatten voraus.

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Wilfried Arz ist Politikwissenschaftler und berichtet regelmäßig aus Südostasien.

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