Wenn die Herde zieht - zu Pferd zwischen Song-Kul und NarynKIRGISIEN

Wenn die Herde zieht - zu Pferd zwischen Song-Kul und Naryn

Wenn die Herde zieht - zu Pferd zwischen Song-Kul und Naryn

Von der Sommerweide am 2.500 Meter hoch gelegenen Song-Kul-See ziehen die Nomaden im Herbst zu Tal. Jurten und Hausrat werden auf einen alten Lada verladen, der Kurs auf Naryn nimmt. Hier überwintern die Dschigiten, Nachfahren der Goldenen Horde. Nur Tachawi, der Alte, bleibt mit seiner Familie in Tasch-Rabat zurück, einer Karawanserei, die aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt.

Von Jan Balster

N atürlich will ich mit“, bestätigte ich: „Aber ich habe kein Pferd.“ So sind wir, die Deutschen, immer ein „Aber“ auf den Lippen. Und es geht doch. Es dauert nur. Der Begriff Zeit definiert sich in Kirgisien aus der Gelassenheit des Landes. Das muss ich lernen.

Hoch im Gebirge, hinter den mit ewigem Eis bedeckten Spitzen des Tien-Tschan, leben die Nachfahren der Goldenen Horde Dschingis-Khans, die im 13. Jahrhundert Richtung Süden wanderten. Die kirgisischen Nomaden, wie die Mongolen im Sattel geboren, sind talentierte Reiter. Für sie ist auch heute noch das Pferd das wichtigste Transportmittel.

Doch auch sie haben sich verändert. Hier in Tasch-Rabat an der alten Karawanserei aus dem 15. Jahrhundert lebt kaum noch jemand. Nur noch die Familie von Tachawi harrt das ganze Jahr aus. „Unsere Verwandten leben am Song-Kul-See“, sagt Tachawi, während er mir das Pferd vorführt: „Und im Winter ziehen sie in das wärmer gelegene Tal um Naryn. Deshalb werden wir die Herden vom See ins Tal treiben.“

Fotos: Jan Balster

Üppige Weidegründe in einer atemberaubenden Landschaft

Vor der Jurte werden wir mit einer Tasse frischem „Kumys“ verabschiedet, der landestypischen vergorenen Stutenmilch. Die Sonne steigt schnell über die verschneiten Spitzen des Gebirges und schickt ihre Strahlen durch das lang gezogene Tal zur Hauptstraße hin. Bis zum 2.500 Meter hoch gelegenen See Song-Kul sind es 200 Kilometer, fünf bis sechs Tage zu Pferd. „Mit den Schafen zurück nach Naryn“, meint Tachawi „vielleicht nochmals vier Tage.“

Es ist eine atemberaubende und einsame Landschaft, mit Bergen die fast 3.000 Meter in die  Höhe ragen. Die üppigen Weidegründe werden in den Sommermonaten von den Nomaden genutzt. Auf den Feuchtwiesen um den Song-Kul wächst nicht nur Gras für die Schafe, Kühe und Pferde der Koitschumanen, wie Hirten und Viehzüchter in Kirgisien genannt werden. Rosafarbene Blüten und das unter Naturschutz stehende Edelweiß zieren die Hochebene. Hier befinden sich auch die Brutstätten von Streifengans und Schwarzstorch.

Das Tal mit dem See misst 60 mal 30 Kilometer. Wir kommen vom einzigen Abfluss her, vom Koidscharti-Fluss aus Naryn im Südosten. Die Bosaj, wie die Kirgisen ihre Jurten nennen, werden normalerweise auf Anhöhen errichtet, um das Vieh besser beobachten zu können. Sie wirken mit ihren in den Himmel strebenden Kuppeln beim Einritt wie eine natürliche Fortsetzung der den See umgebenden 3.800 m hohen Berge.

Von weitem werden wir begrüßt. Kalamusch und Kumar, zwei Dschigiten kommen entgegen, begleiten uns die letzten hundert Meter zu den Jurten hin. Müde sinken unsere Körper auf den Teppich nieder. Er wurde für uns im Zentrum der Jurte ausgebreitet, um die Kolomto herum, die Feuerstelle, wo sich das Leben der Bewohner abspielt. Alles hat seine Ordnung, rechts vom Eingang ist der Platz für das Geschirr und andere Haushaltsutensilien, während im linken Teil die Zaumzeuge, Kamtschas (Reitpeitschen) und Jagdmesser aufbewahrt werden. Auch die Sitzreihenfolge wagt bis heute niemand anzutasten. Gegenüber dem Jurten-Eingang gelegen befindet sich der Platz für die Ehrengäste. Ist er nicht besetzt, nimmt diesen der Hausherr ein. Zu seiner Rechten sitzen die Söhne, zu seiner Linken nahe dem Eingang, die Frauen und Töchter.

Dschigiten reiten, bevor sie selbst das Pferd besteigen können

Früh am Morgen sind die Kirgisen auf den Beinen, das heißt auf den Pferden. Im Samovar glimmt noch das Holz. Shanel schiebt ein paar Scheite nach. Das Feuer lodert wieder auf, der Tee erwärmt sich. Die Kinder gucken verschlafen unter den Decken hervor. Und die Männer haben die Pferde gesattelt, noch bevor es Tee gibt. Sie werden den gesamten Tag auf dem Rücken ihrer Tiere verbringen. Sie kennen sie von Kindestagen an. Das Reiten lernen sie schon, bevor sie allein in den Sattel steigen können.

Bald sind auch die beiden Mädchen Asselj und Sejde aufgestanden. Sie schleppen die schweren Wassereimer vom schmalen Rinnsal eines nahen Flüsschens hinauf zur Jurte. Im Spätsommer herrscht hier Wassermangel, die Gletscher sind fast abgetaut. Und der Schnee im Winter reicht kaum noch aus, um neue Gletscher entstehen zu lassen. „Früher gab es mehr Wasser“, sagt Tachawi, „da waren die Gletscher in den Bergen noch größer.“ Jetzt gibt es von Jahr zu Jahr weniger Wasser.

Der Badekessel ist aufgefüllt. Alle setzen sich kreisförmig auf eine Decke am Boden und frühstücken. Es gibt Plov, Fleisch in einer Brühe, die Reste des Vortags. Die übliche Mahlzeit der Nomaden. Sie schmatzen. Worte fallen wenig. Alles ist gesagt, meinen die Männer. Zum Schluss kaut lediglich der jüngste Spross der Familie an einem Knochen. Das wird er bis zum Mittag tun, um seinen Kalziumhaushalt zu fördern.

Der alte Tachawai sucht mit dem Fernglas die Herde zusammen

Langsam, aber mit erstaunlicher Ordnung und Akribie wird die Jurte vom Hausrat befreit. „Es ist Zeit“, sagt Shanel, „der Sommer ist vorbei, das Winterlager ruft.“ Und dieses befindet sich unten im Tal von Naryn, vor den Toren dieser alten russischen Garnisonsstadt, die mit Tsagaan Ovoo einen noch älteren mongolischen Namen trägt. Dort steht ihr Winterhaus, befinden sich ihre Stallungen.

Die Männer sind aufgesessen. Mit dem Fernglas hat Tachawi, der Alte, die Herde zusammengesucht. Sie kennt ihren Weg. Wir reiten zum Fluss, Tachawi hält seine Hand in das kalte Nass. „Der Winter kommt“, murmelt er. „Das sagt dir das Wasser?“ frage ich. „Ja, und noch einiges mehr. Wann gibt es Regen? Und wann kommt Wind?“ Das Wasser ist ihr Leben, noch wichtiger als die Herde. Doch die muss auf jeden Fall über den Winter kommen, denn für neues Vieh fehlt Tachawi und seinen Leuten das Geld.

„Was ist so ein Pferd wert?“ frage ich. „Ein gutes ungefähr zehn bis fünfzehn Schafe. Der Preis für ein Schaf ist ungefähr 200 Dollar. Das Männchen ist oft kräftiger. Es ist teurer“, meint Tachawi.

Die Erde bebt vom Getrappel der Herde

„Tschok, tschok“, treiben die Hirten ihre Pferde an. Sie jagen über die Hochebene, die wahren Meister im Sattel. Mit einem dem Nieslaut „U-Tsch“ werden die Schafe und Rinder zusammengetrieben. Die Erde bebt vom Getrappel der Tiere. Keiner möge sich ihnen in den Weg stellen. Hunde bellen, sofern sich ein Schaf von der Herde abwendet. Sie werden belohnt, wenn sie die Herde zusammenhalten.

Dann schwingen sich die Dschigiten in den Sattel. So lange die Männer mit dem Abbau der Jurten beschäftigt sind, übernehmen Kalamusch und Kumar die Bewachung der Herde. Das Filzstück über dem Tündük, wie die Jurtenöffnung heißt, wird entfernt. Es folgen die Filzschichten, zuerst die Außenseiten mit ihren reichlich verzierten Ornamenten. Die Kuppelstangen werden von der Kanate, einem Gitter mit rautenförmigen Durchbrüchen, getrennt. Weit bis in den Nachmittag dauert diese Arbeit. Das gesamte Hab und Gut wird sorgsam verschnürt und gestapelt. Kurz darauf kommt ein naher Verwandter mit Namen Kospan in die Hochebene. Er nennt einen alten Lada sein Eigen. Das ganze Jahr über lebt er in Naryn, wo er als Händler arbeitet. „Es war schön zu Sowjetzeiten, doch jetzt kann ich mehr Geld verdienen“, klagt Kospan.

Binnen einer halben Stunde sind die wenigen privaten Utensilien der Familie aus der Jurte im Fahrzeug verstaut. Die einzige Truhe, welche die Sachwerte der Familie enthält, landet auf dem Dach. Und immer wieder ist die Tasse Tee der Abschluss vor der Verabschiedung. Der Lada braucht Starthilfe, kräftig schieben die Männer. Kospan gibt Gas, hüllt die Helfenden in eine graue Abgaswolke und hupt. Bis bald. Den Winter werden sie gemeinsam im Tal verbringen.

„Von fernen und nahen Hügeln ziehen wie Schiffe auf dem Meer lange Ketten aus Schafen heran. Reiter strömen zum Tal hinunter, wo im blauen Dunst zahlreicher Lagerfeuer die Umrisse von einigen Jurten und Holzhütten erkennbar sind.“

Die Nächte am Song-Kul sind klar und kalt. Selbst im Hochsommer friert es leicht in Bodennähe. Noch eine Nacht werden die Kirgisen in der letzten stehen gebliebenen Jurte verbringen, ehe sie ins Tal hinab ziehen.

Von fernen und nahen Hügeln ziehen wie Schiffe auf dem Meer lange Ketten aus Schafen heran. Reiter strömen zum Tal hinunter, wo im blauen Dunst zahlreicher Lagerfeuer die Umrisse von einigen Jurten und Holzhütten erkennbar sind. Hier warten bereits Freunde - und kühler Kumys. Mit den ersten gleißenden Sonnenstrahlen erwacht das ganze Tal, füllt sich mit dröhnendem Getrappel und dem Blöken der zur Tränke strebenden Schafe zwischen den lauten Rufen der Reiter.

Naryn, unser Ziel ist erreicht. „Stadt der Säufer“ wird sie von den Einheimischen auch genannt – eine recht deutliche Anspielung  auf die hier stationierten Soldaten, die ihren Sold meist dem örtlichen Wodkaladen oder Kumysverkäufer zukommen lassen.

Neben den Jurten knistern die Feuer, belecken mit ihren Flammenzungen riesige schwarze Kasane, gusseiserne Kessel, in die große Stücke schlachtfrisches Schafsfleisch geworfen werden. Kinder halten ihre Lieblingslämmer oder andere Kleintiere fest im Arm. Junge Dschigiten, deren Pferde böse an ihren Zaumzeugen zerren und sich gegenseitig angreifen, schauen zu den Mädchen, die schüchtern zurück lächeln.

Schließlich, als sich alle versammelt haben, die Tiere versorgt und die Pferde angebunden sind, ruft der grauhaarige Tachawi zum Gebet. Er segnet alle für die großen Taten und die Erfüllung der innigsten Träume. Orchestral lässt der Alte die leisen Töne seiner Komus, dem beliebtesten Zupfinstrument der Kirgisien, über die Anwesenden schwingen. Leicht und sensibel schlägt er die drei Saiten. Aus den murmelnden Geräuschen wird ein zartes Summen. Es entlockt der Stimme Tachawis das Volksepos „Manas“. Über 1000 Jahre ist es alt und mehr als eine Million Verse lang. Das längste Heldengedicht der Weltliteratur besingt die Geschichte des kirgisischen Volkes. Und jeder der Versammelten denkt jetzt an ihren einzigartigen Helden Manas, dem großen Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit.

*

Jan Balster arbeitet als Freier Bild- und Reisejournalist für in- und ausländische Zeitungen, Zeitschriften und Buchverlage. Von ihm erscheint im Herbst 2006: Zu Fuß von Dresden nach Dublin (edition ost Verlag, Berlin). 3.100 Kilometer legte Jan Balster zurück – auf Schusters Rappen, wie man so sagt. Vom Ufer der Elbe bis an den Atlantik, quer durch Westeuropa via Schweiz, Frankreich, Großbritannien und Irland. – Und das ohne einen Euro in der Tasche….
Weitere Informationen unter: www.auf-weltreise.de.

Fotoausstellung Reise Zentralasien

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