„Wir sind nur Weiber“RUSSLAND

„Wir sind nur Weiber“

„Wir sind nur Weiber“

Auf den Märkten in Sankt Petersburg stehen auffallend viele Frauen ihren Mann. Sie schlagen sich als Marktpendlerinnen zwischen Stadt und Provinz durch. Nachdem die Betriebe nach der Wende viele ihrer Arbeitskräfte einfach auf die Strasse gesetzt haben, zählen weder Hochschuldiplom noch Fachausbildung. Ehemalige Kindergärtnerinnen verkaufen an ihren Ständen Billigklamotten, Betriebsärztinnen heiße Piroggen auf den Bahnhöfen. Mitleid gibt es nicht.

Von Jan Balster

V or 20 Jahren schien die Welt für viele Russen noch in Ordnung. „Veränderungen hatten sich zwar schon angedeutet“, räumt Ludmilla ein, „doch dachten wir, es wird sich schon richten.“ Damals arbeitete die heute 50jährige in einem großen Heizwerk in Sankt Petersburg. Dort hatte es die Mutter zweier Kinder zur Technischen Leiterin gebracht. „Manchmal bin ich schon damals angeeckt, mit meinem Vorgesetzten und so“, gibt sie zu, „doch damals herrschten andere Gegebenheiten. Man konnte sich mit seinem Chef zusammen setzen und über beinah alles reden.“

Das Leben zu sowjetischen Zeiten war ruhiger. Damals hätte es sich Ludmilla nicht träumen lassen, einmal zwischen Sankt Petersburg und der Provinz pendeln zu müssen. Mit der politischen Wende wurde sie entlassen, gigantisch waren die Einsparungen bei den größten Arbeitgebern der Stadt. Es traf vor allem Frauen. Die „neuen“ alten Führungskräfte waren der Ansicht, die Männer als die Haupternährer der Familie sollten wenigstens ihre Arbeit behalten. Den neuen Führungskräften ist dies gleichgültig.

Kleine Geschäfte

„Mein Mann hat sich auch davon gestohlen, sobald die Schaufenster in der Innenstadt bunter wurden“, erzählt Ludmilla. So bestreitet sie heute allein den Unterhalt ihrer Kinder. Zeit hat sie nur noch wenig für sie. Sie arbeitet als Marktpendlerin, wie viele ihrer ehemaligen Kolleginnen und wie viele andere Frauen auch. Sie kaufen ihre Waren in der Großstadt und verkaufen diese in der Provinz. Somit decken die fahrenden Händlerinnen 30 Prozent des Bedarfs an Konsumgütern ab, sagt man. „Ob das stimmt“, bemerkt Ludmilla, „weiß ich nicht.“ Bis heute drängen sich jedenfalls die Kunden um ihren Stand. Doch wenn die ersten Festkaufhäuser auf dem Land Einzug halten, wird es vorbei sein mit den kleinen Geschäften.

Ludmilla handelt vorwiegend mit billiger Kleidung oder Souvenirs. „Mein Hochschuldiplom“, sagt sie und zuckt die Schultern, „ist dafür ungeeignet.“ Auch ihre Urkunden, Medaillen für heldenhafte Arbeit und Auszeichnungen für den sozialistischen Aufbau hat sie längst in einen Pappkarton zu unterst in einer Schublade verstaut. Die jetzigen Verhältnisse, die Notwendigkeit Geld zu verdienen, haben sie zu diesem Leben gezwungen. „Meine Vergangenheit habe ich hinter mir gelassen. Da schweigt man besser. Ich denke an Morgen. Und vielleicht kann ich mir bald einen festen Stand auf einem der großen Märke der Stadt leisten“ -  so ihre Hoffnung. Nun steht sie Tag für Tag vor den Haupteingängen der Märkte oder versucht, ihr Angebot auf den Bahnsteigen größerer Provinzbahnhöfe an die Reisenden loszuwerden.

Die Betriebsärztin verkauft Piroggen am Finnischen Bahnhof

Ludmillas beste Freundin Elena hat es etwas besser. Sie ist in der Lebensmittelbranche tätig. Auch lebt sie noch mit ihrem Mann, dem Vater ihrer drei Kinder zusammen. Elena wurde im selben Monat arbeitslos wie Ludmilla. Bis dahin leistete sich jeder Großbetrieb in der ehemaligen Sowjetunion einen Kindergarten. Und Elena war die Leiterin des selbigen im Heizwerk. „Wir, meine Kolleginnen und ich, hatten im Schnitt 200 Kinder zu betreuen. Die Zahl nahm jedoch mit den Arbeitsplatzverlusten der Eltern rasch ab“, bedauert sie.

Als Elena sich damals einen neuen Lebensunterhalt suchen musste, traf sie viele ehemalige Betriebsangehörige, die ausgestattet mit Fachstudium und Ehrendiplom auf den Bahnhöfen heiße Piroggen (gefüllte Teigtaschen) verkauften. „Sie haben beinah die gesamte mittlere Führungsriege entlassen“, erzählt Elena. „Sogar die Betriebsärztin habe ich am Finnischen Bahnhof entdeckt.“

Alle haben sich nach ihrer Entlassung aus den Augen verloren, auch Elena und Ludmilla. „Wir hatten mit uns selbst zu tun“, gibt Elena zu. „Jeder braucht Geld. Nur woher?“ Seitdem bringt Elena frisches Fleisch unter die Leute. Hier im Kuznetschkij-Rynok in der Kuznetschkij pereulok hat sie einen Stand gekauft. „Da habe ich wenigstens ein Dach über dem Kopf“, scherzt sie.

Zehn Jahre haben ihr Mann und sie gespart. Nun teilen sie sich die Arbeit und die Freizeit. Wenn sich ihr Mann um die Kinder kümmert, zerhackt sie das Fleisch. Schleppt er  die Vorräte vom Großhandel auf den Markt, rechnet sie die Kasse ab. Und wenn Elena zu Hause schläft, ist ihr Mann noch eifrig dabei, den Stand zu reinigen und die alten Kühlgeräte zu warten. „Zum Glück sind die Kinder schon weitgehend selbständig“, freut sich Elena, „so hat mein Mann tagsüber Zeit zum Schlafen.“

Von niemand abhängig sein – weder von den Männern, noch vom Staat

Noch bevor die Stadt zum Leben erwacht, sind Ludmilla und Elena auf dem Weg zum Großmarkt. „Vor fünf Jahren haben wir uns dort wieder getroffen“, erzählt Ludmilla. „Und heute fahren wir nur noch gemeinsam hinaus“, fügt ihr Freundin hinzu: „Manchmal genehmigen wir uns noch einen Kaffee bei Vladimir an der Imbissbude.“

Vladimir kennt sie alle, die ihren Handel allein betreiben. Sie kommen zu ihm, um die Zeit tot zu schlagen, bis der Markt öffnet. Da erzählen sie ihm ihre Sorgen, die Nöte des Lebens, bevor sie sich ins Tagesgeschäft stürzen. „Hier liegt unser Ruhepool“, gibt Elena zu verstehen, „und Vladimir hört zu.“ Vor allem ist er verschwiegen. Die, welche hierher kommen, haben alle auf die Dienste der Banken verzichtet. Mühsam sparten sie sich von ihren Tageseinnahmen das nötige Geld für einen kleinen Stand ab. „Ich wollte schon zu Sowjetzeiten von niemandem abhängig sein“, sagt Ludmilla, „weder von den Männern, noch vom Staat.“ - „Den Popen und den Gott nicht zu vergessen“, fällt ihr Elena ins Wort, „die machen sich hier breit, wie die Ameisen am Waldboden.“

Vladimir bringt den Kaffee und die beiden schlürfen aus Pappbechern, an denen sie sich die Hände wärmen. „Sollen wir uns schämen, dass wir einen Handel machen“, fragt Ludmilla. Die Frauen verdienen zwischen 2000 und 3000 Rubel (60 bis 100 Euro) am Tag. „Das ist alles ehrlich verdient, bei der Korruption, die hier überall herrscht“, betonen beide und werfen immer wieder abwechselnd einen Blick auf ihre Rollkoffer, die unter dem Tisch stehen.

„Hier an der Imbissbude sind wir noch Frauen“, erklärt Ludmilla, „dort drüben in der Markthalle nur noch Weiber, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen und den anderen die Möglichkeiten geben, sich an uns zu bereichern.“ Sie berichtet, dass die Händlerinnen mit Übergepäck nicht in die Metro dürfen, sich schließlich zu zweit oder zu dritt zusammenschließen und ein Taxi teilen. Sie zahlen überhöhte Preise. „Die Fahrer kennen kein Mitleid mit den Schwächeren“, seufzt Elena.

Die Schutzgelderpresser haben inzwischen eigene Angestellte

Die Petersburger Märkte sind so etwas wie eine kleine Stadt. Hier herrschen eigene Gesetze. Während die einen betrügen, stehlen die anderen und wiederum andere werden erpresst. „Egal, wo du dich hinstellst“, beteuert Ludmilla. „Da gibt es Virtuosen, die dir den Geldbeutel abschneiden, ohne dass du es merkst. Eine besondere Plage sind die Schutzgelderpresser. Am Anfang, das ist jetzt fünfzehn Jahre her, kamen die Männer noch selbst, um zu kassieren. Heute stecken immer noch die gleichen Typen dahinter, doch diese haben jetzt ihre Angestellten, die regelmäßig ausgetauscht werden. - Einmal trifft Ludmilla sie im Norden, eine Woche später dann im Süden. „Da gehört eine Menge Menschenkenntnis dazu, sie vom Ansehen zu identifizieren“, sagt sie.

Trotz aller Erfahrung wurde Ludmilla auch schon betrogen, damals, als sie einen warmen Wintermantel kaufen wollte. Der Verkäufer fragte sie, warum sie ihm nur 100 Rubel gegeben habe. Dabei war es ein Tausender, den er ihr aus der Hand genommen hatte. Er beharrte ganz einfach darauf, dass es nur einhundert waren - und Zeugen waren nicht in Sicht. „Da habe ich drauf gezahlt“, ärgert sie sich. „Später habe ich mich dann mit einigen anderen kleinen Händlerinnen unterhalten. Da stellte sich heraus, dass nicht nur ich auf diesen Trick hereingefallen bin.“ Heute passiert ihr so etwas nicht mehr. Mit den Jahren sammelten die Frauen ihre Erfahrungen. Sie lernten das Geld dubioser Kreditanbieter abzuwehren, die Schutzgelder so niedrig wie möglich auszuhandeln, eifrig ihre unmittelbare Konkurrenz zu beobachten und diese, wenn sie die gleichen Waren anboten, in Schach zu halten. Sie lernten,  ihre Ware nach den Bedingungen der Saison anzukaufen und den Ausschuss von der guten Ware zu unterscheiden.

Mit einigen Großhändlern haben sie sogar ein Rücknahmerecht vereinbart. „Da bin ich richtig stolz“, sagt Ludmilla. „Vor allem mit den chinesischen Händlern kann ich gut.“ Da kommt es vor, dass sie zum Essen eingeladen wird. Unangenehm ist ihr das nicht, auch wenn es ihr manchmal ungelegen kommt, es ihr ein wenig auf die Nerven geht. „Viele Männer denken, wir Pendlerinnen sind leichte Beute“, erklärt sie. Damit hat sie als Frau zu kämpfen. „Aber da ich oft schwere Sachen schleppe, bin ich stark wie ein Mann.“ Elena lacht: „Wenn mich einer anmacht, dem zeige ich mein Fleischerbeil.“

Vladimir räumt ohne eine Gesichtsregung die Pappbecher von den Tischen vor seinem Imbiss ab. „Los geht’s“, treibt Elena ihre Freundin an. „Morgen ist Sonntag, der beste Tag auf dem Markt.“ Und da wollen sie gleich in aller Frühe mit neuer Ware gut ins Geschäft kommen.

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