Wo unsere Nasen froren und unsere Herzen schmolzenRUßLAND-REISE

Wo unsere Nasen froren und unsere Herzen schmolzen

Wo unsere Nasen froren und unsere Herzen schmolzen

Hallenser Studenten reisten als Kulturbotschafter nach Archangelsk, um der deutsch-russischen Universitätspartnerschaft neues Leben einzuhauchen.

Von Juliane Inozemtsev

 
Eisfigur „Kreml“ vor Plattenbaukulisse  

Als in Deutschland bereits der Frühling einzog und die ersten Krokusse in die Märzsonne blinzelten, machte sich eine Gruppe von zehn Hallenser Studenten auf den Weg zurück in den Winter. Ich war eine von ihnen.

Nach Archangelsk sollte unsere Reise gehen, in den noch fest vereisten Norden Rußlands. Wenn man im Atlas nach Archangelsk sucht, findet man zwei Einträge in Rußland. Einmal bezeichnet es ein Gebiet (Oblast), das in etwa der Größe Frankreichs entspricht und zum zweiten eine mittlere Großstadt innerhalb dieses Gebietes. Und genau in diese Stadt, gelegen an der Mündung der nördlichen Dwina ins Weiße Meer, wollten wir.

Hintergrund dieser Idee war es, der seit zwei Jahren existierenden Universitätspartnerschaft zwischen der Martin-Luther-Universität Halle und der staatlichen Pomoren-Universität Archangelsk Leben einzuhauchen. Studenten verschiedener Semester und Fachrichtungen hatten während des vergangenen Wintersemesters die Forschungsgruppe „MediA-H“ gegründet, um jetzt im Frühling als Kulturbotschafter Deutschlands, und ganz besonders als Botschafter der Stadt Halle mit den russischen Studenten in Archangelsk ins Gespräch zu kommen. Im Gepäck hatte jeder Teilnehmer ein selbständig erarbeitetes Seminar, welches er für die dortigen Studenten vorbereitet hatte.

Die erste Reiseetappe von Berlin nach Moskau verging dank Aeroflot, deren Maschinen rein gar nichts gemein hatten mit den Schauermärchen, die man oft hört, sprichwörtlich wie im Fluge. Die Temperatur in der russischen Hauptstadt war mit fünf Grad unter Null erträglich. Als nächstes erwartete uns die Zugfahrt nach Archangelsk, welche eine Nacht und einen Tag dauern sollte. Wir hatten also ausgiebig Zeit, aus dem Fenster zu schauen, um die Landschaft zu bestaunen. Es schien, als läge mit jedem Kilometer mehr Schnee. Tannenwipfel und Holzdächer vereinzelter Dörfer bogen sich im Sonnenschein unter der schönen weißen Last.

Voller Neugier ins größte Land der Erde

  Die Autorin Juliane Schoenherr (li.) mit Gastschwester Tanja
  Die Autorin Juliane Schoenherr (li.) mit Gastschwester Tanja

Natürlich nutzten wir die Zeit im Zug auch, um uns gegenseitig besser kennenzulernen. Dabei stellte sich heraus, daß fast alle der teilnehmenden Studenten der russischen Sprache mehr oder weniger mächtig sind. Die meisten haben es in der Schule oder an der Uni als Fremdsprache gelernt und waren schon mehrmals im größten Land der Erde. Maria, Sophia und Janine aus unserer Gruppe haben eine russische Mutter und einen deutschen Vater, so daß unsere Fahrt für sie so etwas wie ein Besuch in ihrer zweiten Heimat war. Nur für Jana und Enrico sollte es der erste Besuch in Rußland überhaupt sein.

Als wir am Abend ankamen, breitete sich über uns ein tiefblauer, klarer Sternenhimmel aus. Erwartungsgemäß war es sehr kalt – etwa minus 18 Grad, also 42 Grad kälter als im Zugabteil. Unser umfangreiches Gepäck und die neuen Eindrücke ließen uns die Kälte jedoch kaum spüren. Mit einem klapprigen Bus ging es für sechs Rubel, das sind umgerechnet weniger als 20 Cent, ins Stadtzentrum, wo wir dann recht schnell auf unsere Gastfamilien aufgeteilt wurden.

Ich sollte bei Tanja wohnen, einer Germanistikstudentin im zweiten Studienjahr. Sie war mir auf Anhieb sympathisch. Ihre Eltern erwarteten uns bereits in einem der zahlreichen, aus den 70er Jahren stammenden Bauten. Sie stellen einen ungewöhnlichen Kontrast zu den traditionellen alten Holzhäusern dar, von deren bunter Farbe nach jedem Winter etwas weniger übrig bleibt. Wladimir Sergeevitsch und Nadezhda Petrovna sind beide Ingenieure für Schiffsbau. Sie haben sich vor mehr als 30 Jahren beim Studium kennen und lieben gelernt. Nadezhda arbeitet noch, Wladimir ist mit 58 Jahren schon berentet.

Die Wohnung meiner Gastfamilie ist für unsere Verhältnisse bescheiden ausgestattet. Mir überläßt man für die Dauer meines Aufenthaltes das große Wohnzimmer. Den Eltern bleibt das Schlafzimmer und Tanja hat ihr eigenes Zimmer. In Deutschland hätte man angesichts der beengten Räumlichkeiten wohl keinen Fremden aufgenommen. In Rußland rückt man einfach etwas zusammen. Da ist sie – die legendäre russische Gastfreundschaft.

Am nächsten Morgen findet das erste Treffen mit den russischen Studenten statt. Wir erzählen zunächst von uns und unseren geplanten Seminaren, in denen es hauptsächlich darum gehen soll, beidseitige Vorurteile zu überprüfen und im Idealfall aufzugeben. Dazu ist ein Vortrag über die deutsche Küche und Eßkultur mit anschließendem Kochnachmittag geplant. Tortenböden, Puddingpulver, Maggi und andere Utensilien sind mitgereist und warten nur darauf, ausprobiert zu werden. Auch das deutsche Bildungssystem und die Medienlandschaft der Bundesrepublik sollen vorgestellt und diskutiert werden. Für Vorschläge seien wir jederzeit offen und sehr daran interessiert, etwas über das Leben in Archangelsk zu erfahren, versichern wir den Studenten, die uns anfangs ziemlich verdutzt und nicht ohne Skepsis anschauen. Auf unsere Fragen kommen zunächst keine Antworten, stattdessen wird getuschelt und gekichert.

Also beginnen wir Studenten direkt anzusprechen: „Warst du schon einmal in Deutschland?“, „Wie waren denn deine Eindrücke?“ Die Angesprochenen antworten brav, dann kommt das Gespräch wieder ins Stocken. Daraufhin beschließen wir, erst einmal einen Film von der Stadt Halle zu zeigen.

Erste Kontakte mit Ausländern

Zugefrorene Dwina - majestätische Stille  
Zugefrorene Dwina - majestätische Stille  

Der Projektor wirft sommerliche Aufnahmen von der Stadt an der Saale an die Wand, klanglich untermalt von Halles berühmtesten Sohn Georg Friedrich Händel. Ein Mädchen aus unserer Gruppe weist auf die Bedeutung der jährlichen Händel-Festspiele hin. Ein Blick in die fragenden Gesichter der russischen Studenten läßt sie hinzufügen, daß Händel ein deutscher Komponist ist – sicher ist sicher.

Nach dem Film ist die Atmosphäre schon ein klein wenig entspannter. Vereinzelt gibt es jetzt sogar Wortmeldungen. Später erklärt uns die Leiterin des Fachbereichs Elena Wladimirovna, daß wir ein bißchen Geduld haben müßten, weil unser Besuch für die meisten russischen Studenten der erste Kontakt mit Ausländern sei. Tatsächlich legte sich die Schüchternheit in den nächsten Tagen.

Tilo und Tanja aus unserer deutschen Gruppe bieten ein Seminar zum interkulturellen Lernen an, und Jana spricht über deutsche und russische Stereotypen. Schnell merken wir, daß die Studenten es nicht gewohnt sind, den Lehrer als Partner beim Lernprozeß zu sehen. Wie in der Schule vermittelt der Dozent in der Regel das Wissen im Frontalunterricht. Die Studenten schreiben eifrig mit und lernen den Stoff für die nächste Prüfung auswendig. Bei dieser Lehrmethode bleibt wenig Zeit für Diskussionen, eigene Meinungen und Ideen. Unsere Seminare sind aber darauf angelegt, daß sich Gespräche entwickeln und ein Dialog entsteht. Am Anfang sind deshalb beide Seiten ein wenig verunsichert. In einem Café besprechen wir diese Startschwierigkeiten bei Bliny (russischen Eierpfannkuchen) mit Schokoladensoße.

Zum Glück stehen auch einige gemeinsame Freizeitaktivitäten auf dem Programm. Erst hier lernen wir die kulturellen Unterschiede wirklich kennen. So sind die russischen Studenten äußerst unangenehm berührt, wenn wir geräuschvoll ins Taschentuch schneuzen. Sie selbst verlassen zu diesem Zweck eigens den Raum. Wir hingegen empfinden es als sehr unerfreulich, wenn jemand die Nase hochzieht, anstatt ein Taschentuch zu benutzen.

Erstaunt bin ich auch, als mir meine Gastschwester Tanja erzählt, daß die russischen Studenten unser häufiges Lächeln als ziemlich befremdlich einstufen. Man sei es gewohnt, in der Öffentlichkeit das „Gesicht zu wahren“. Es gäbe ein russisches Sprichwort, klärt mich Tanja auf, wonach jemand, der ohne Grund lächelt, nicht ganz richtig im Kopf sei. Daß jemand die Deutschen für ein besonders offenes und stets gut gelauntes Völkchen hält, höre ich zum ersten Mal, entgegne ich ihr. Die Südländer werfen uns oft genau das Gegenteil vor, sagen wir würden unterkühlt und griesgrämig wirken. Tanja kann das gar nicht glauben. So ist eben alles relativ und ich freue mich über das Kompliment.

Von Tag zu Tag läuft es deutlich besser in den Seminaren, und die Zusammenarbeit beginnt allen Beteiligten richtig Spaß zu machen. Nachdem wir die ersten Tage vollauf am Institut beschäftigt waren, hatten wir endlich Zeit für die lang ersehnte Stadtbesichtigung. Aufgrund des eisigen Windes fiel sie jedoch ziemlich knapp aus. Trotzdem, unsere Führerin Larissa, selbst Germanistikstudentin, wußte neben Daten und Fakten auch viele interessante Anekdoten zu berichten.

„Ich mag meine Stadt.“

  Zehnköpfige Studentengruppe der Martin-Luther-Universität Halle zu Besuch in Archangelsk: Von links Claudia Ulbrich, Tilo Kolbe, Tanja Dvinina, Janine Reichel, Sophia Bellmann, Maria Eckert, Enrico Prinz, Andrea Seifert, Katja Bebina, Ulrike Nowitzki, Jana Schneegass, Juliane Schoenherr
  Die zehnköpfige Studentengruppe der Martin-Luther-Universität Halle zu Besuch in Archangelsk: Von links Claudia Ulbrich, Tilo Kolbe, Tanja Dvinina, Janine Reichel, Sophia Bellmann, Maria Eckert, Enrico Prinz, Andrea Seifert, Katja Bebina, Ulrike Nowitzki, Jana Schneegass, Juliane Schoenherr

In Archangelsk leben derzeit gut 340.000 Einwohner, also etwa 100.000 mehr als in Halle. Sechs Monate im Jahr herrscht hier an der Küste des Weißen Meeres strenger Winter mit Temperaturen von bis zu 30 Grad unter Null. Der mächtige Fluß Dwina ist dann so stark vereist, daß man ohne die geringsten Befürchtungen darauf spazieren gehen kann und sogar Autos den direkten Weg zum anderen Ufer nutzen. Auch zu dieser Jahreszeit bleibt der große Hafen befahrbar – entgegen der verbreiteten Annahme, er würde in eine Art Winterstarre verfallen. Dafür sorgen mächtige Eisbrecher, die beständig die Fahrrinne freihalten. Die Übergangsjahreszeiten Frühling und Herbst sind in dieser Gegend recht kühl und deutlich kürzer als in unseren Breitengraden. Der Sommer dauert nur wenige Wochen, ist heiß und feucht mit Temperaturen um 30 Grad und einer großen Mückenplage. Als ich Tanja frage, ob sie nicht schon einmal daran gedacht habe, in eine Region mit milderem Klima umzuziehen, lacht sie nur und sagt: „Ich bin das Wetter doch von klein an gewöhnt. Mir macht das nichts aus und ich mag meine Stadt.“

Archangelsk bietet jungen Menschen in bezug auf Arbeitsmöglichkeiten zwar keine idealen Bedingungen, aber wo gibt es die schon. Es gibt Werften, Holzverarbeitung und Fischfang, außerdem eine Fabrik, die Seegras aus dem Meer zur Delikatesse und zu Arzneien verarbeitet. Viele Russen, darunter auch Tanjas Eltern, schwören auf die grünen Schlingen, die bei Herzproblemen, Rheuma und Gicht helfen sollen.

Archangelsk ist keine Stadt, die auf den ersten Blick durch Schönheit besticht. Ihr Reiz erschließt sich dem Betrachter erst bei genauerem Hinsehen. So läßt sich die ehemalige Pracht der oftmals mehrstöckigen, bunten Holzhäuser nur noch erahnen, denn für ihren Erhalt fehlen der Stadt die notwendigen Mittel. Die 22jährige Journalistikstudentin Olga ist schon Mutter eines kleinen Sohnes und erzählt uns, daß das staatliche Kindergeld auf 80 Rubel monatlich festgesetzt ist. Das entspricht etwa zwei Euro. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß die Einheimischen eine Restauration der alten Holzhäuser nicht als das dringlichste empfinden.

Und so werden die einst wunderschönen Häuser zusehends morsch und unansehnlich. Die Stadt hat sich trotzdem entschlossen, sie nicht abzureißen, weil sie ein Teil der Geschichte und Kultur sind. Zum Trost gibt es nicht weit von Archangelsk das größte Freilichtmuseum Nordrußlands „Malyje Karely“, wo es verblüffend gut erhaltene Häuser, Kirchen und Mühlen aus Holz gibt. Teilweise stammen sie aus dem 17. Jahrhundert und kommen dank einer einzigartigen Bauweise ohne einen einzigen Nagel aus. Sie stehen inmitten einer urwüchsigen Landschaft und vermitteln den Besuchern ein besonders romantisches Rußlandbild.

Die Archangelsker Plattenbauten aus Sowjetzeiten sind teilweise in schlechterem Zustand als die jahrhundertealten Bauwerke in „Malyje Karely“. Wenn auch so manche sanierte Fassade darüber hinweg zu täuschen versucht, ein Blick in die Treppenhäuser verrät, daß hier seit Jahrzehnten nichts getan wurde. Auch in der Wohnung von Tanjas Eltern sind die Fenster undicht. Obwohl die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht ist, entweicht so viel Wärme, daß es nachts empfindlich kalt wird und ich mit Skiunterwäsche unter dem Pyjama zu Bett gehe.

Sozialistische Spuren und Zwiebeltürmchen aus Eis

Wenn man durch das Stadtzentrum von Archangelsk läuft, kommt man an Lenin nicht vorbei. Meterhoch und in Eisen gegossen steht er trotzig vor einer grauen Häuserwand. Möglicherweise war er zu gewaltig, als daß man ihn ohne weiteres hätte entfernen können. Vielleicht möchte man die Statue aber auch einfach als Mahnmal erhalten, um diesen Teil der Geschichte nicht zu verleugnen. Und es wäre mehr als verwunderlich, wenn es im Norden Rußlands nicht auch Nostalgiker gäbe, die sich bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 150 Euro die soziale Sicherheit der Sowjetära zurück wünschten.

Das Phänomen des immer noch gegenwärtigen Sozialismus begegnete einigen unserer Studenten auch, als sie für einen Tag in eine Sprachschule eingeladen waren, um dort in den Deutschklassen zu unterrichten. In der siebten Klasse hing ein uraltes Plakat am Fenster mit den kämpferischen Worten von Karl Marx: „Eine fremde Sprache ist eine Waffe im Kampf des Lebens“. In der Bibliothek der Schule fand sich die Biographie Ernst Thälmanns und ein Buch zur Landeskunde der Deutschen Demokratischen Republik. Den Lehrerinnen war das augenscheinlich unangenehm. Das Plakat habe man eigentlich schon längst abnehmen wollen, aber für neue Bücher fehle schlicht das Geld, erklärten sie.

Nicht weit entfernt von der Lenin-Statue gibt es im Stadtzentrum während der langen Wintermonate etwas von besonderer Schönheit zu entdecken – das sind die filigran geschnitzten Eisfiguren. Sie glitzern in der milchigen Wintersonne, als wären sie aus klarem Glas. Und weil es in Archangelsk sehr unwahrscheinlich ist, daß die strahlenden Gebilde so schnell dahinschmelzen wie die Schneemänner in Hallenser Vorgärten, geben sich die Künstler auch besondere Mühe, zum Beispiel, wenn sie einen kleinen Kreml mit Zwiebeltürmchen aus Eis erschaffen.

Wenngleich unser zehntägiger Aufenthalt in Rußland recht kurz war, so war es doch eine sehr intensive Zeit. Rußland ist ein so großes und vielgesichtiges Land, daß man es tatsächlich immer wieder neu entdecken kann. Und so reisten sowohl die Rußlanderfahrenen unter uns, als auch jene, die sich das Land gerade erst anfangen zu erschließen, mit vielen unvergeßlichen Eindrücken heimwärts.

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Die Autorin: Juliane Elisabeth Schoenherr studiert Diplom-Journalistik an der Universität Leipzig und Slavistik an der Martin-Luther-Universität Halle. Sie arbeitet als freie Mitarbeiterin bei den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“.

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