Wodka und WalderdbeerenKASACHSTAN

Wodka und Walderdbeeren

Wodka und Walderdbeeren

Zur Sommerfrische in die Kasachische Schweiz. Am Rande der Steppe ist eine beschauliche Zeitfalte übrig geblieben. Tretbootfahrten, der Duft von Bratwürsten und alte Schlager lassen eine Stimmung aufkommen, die man längst vergangen wähnte.

Von Natascha Thoma und Isa Ducke

K urort Burabai“ steht groß an der Wand des Bahnhofsgebäudes. Aber heute gibt es von dem kleinen kasachischen Provinzbahnhof im Städtchen Schtschutschinsk nicht einmal mehr eine Busverbindung in den Erholungsort Burabai, der schon zu Sowjetzeiten in Borowoje umbenannt wurde. Etwas ratlos stehen wir im Nieselregen auf dem Bahnhofsvorplatz und sehen einer Kleingruppe zu, die in einen wartenden Minibus des Sanatoriums „Borowoje“ steigt. „Ihr wollt wohl nach Burabai?“ fragt uns schließlich ein blasser Mann mit Schiebermütze. In der Hand trägt er ein Einkaufsnetz mit drei kleinen Kürbissen. Schnell bietet er an, uns gegen einen Fahrtkostenbeitrag in seinem grasgrünen Lada mitzunehmen.

In den Wäldern hier gebe es Pilze, erzählt er auf der Fahrt, und dass der Sommer zu kalt sei dieses Jahr. Zu verregnet, sonst wären viel mehr Badegäste da. Als Kasachstan noch zur Sowjetunion gehörte, war die waldige Gegend mit den vielen Seen und den schroffen Felsformationen ein beliebtes Ferienziel für Erholungshungrige aus den nahe gelegenen sibirischen Städten, und auch heute noch fahren vom Dorfplatz täglich Direktbusse ins russische Omsk.

„Natascha, Natascha!“, dröhnt ein russischer Schlager durch den nicht enden wollenden Doscht

In Borowoje vermittelt uns der Fahrer eine Ferienwohnung, denn Hotels gibt es hier, abgesehen von den alten exkommunistischen Sanatorien, nur wenige. Die komplett eingerichtete Zweizimmerwohnung ist zwar etwas verwohnt und ein bisschen zu schummrig, beanstanden wir, sind aber ansonsten zufrieden. Wegen des schlechten Wetters können wir Mascha, eine resolute Mittfünfzigerin, schnell auf 4000 Tenge pro Tag, etwa 25 Euro, herunterhandeln.

Am nächsten Tag regnet es noch immer. Doscht heißt der Regen auf Russisch. Das klingt schon irgendwie fies, und bald wird aus dem Nieseln genau der duschende rauschende Schauer, den das Wort suggeriert. Trotzdem stapfen wir am Seeufer entlang. Die anderen Sommerfrischler haben offensichtlich den Wetterbericht gehört und ihre Steppjacken mit Fellkragen mitgebracht. Unbeeindruckt fröhlich sitzen sie in den zahlreichen überdachten Imbissbuden am See. Bier und Wodka fließen reichlich. „Natascha, Natascha!“, dröhnt ein russischer Schlager durch den Doscht. Auf dem Parkplatz im Ort sitzt ein Greifvogel mit ledernen Scheuklappen auf einem Hirschgeweih und wiegt ob des Regens bedächtig den Kopf. Ein Besitzer ist nicht auszumachen.

Kefir ist noch billiger als Wodka

  Informationen zur Kasachischen Schweiz
  Anfahrt: Borowoje ist per Bus in ca. 4 Stunden von der Hauptstadt Astana zu erreichen. Der nächste Zugbahnhof ist in Schtschutschinsk, ebenfalls fast 4 Stunden Fahrt von Astana.
Flüge nach Astana sind mit Turkish Airlines ab etwa 600 EUR (mit 1 Zwischenlandung) erhältlich.

Einreisebestimmungen:
Für die Einreise nach Kasachstan ist ein Visum erforderlich, das bei der kasachischen Botschaft in Berlin (Tel: 030-47 00 7-111/110; http://www.botschaft-kasachstan.de) beantragt werden kann. Für Touristenvisa bis 30 Tage ist keine Einladung nötig.

Beste Reisezeit:
Juli und August. Burabai liegt im Norden Kasachstans in der sibirischen Steppe. Das Klima ist kontinental und von sehr kalten Wintern und kurzen, trockenen Sommern geprägt.

Währung:
Ein Euro entspricht 177 kasachischen Tenge. In den größeren Städten gibt es vereinzelt Geldautomaten, die Kreditkarten akzeptieren.

Sehenswürdigkeiten:
In Burabai selbst außer einem kleinen Heimatmuseum wenig. Am besten vertreibt man sich die Zeit wie die lokalen Touristen mit Bratwurst, Bier und Tretbootfahren. Auch eine Rundwanderung um den See hat ihren Reiz. In Astana ist das neue megalomane Regierungsviertel nach Plänen des Architekten Kurokawa Kisho zu bestaunen. Kasachstans größtes kulturelles Erbe ist das Mausoleum des Hoja Achmed Yassawi in Turkistan an der Grenze zu Usbekistan. Zu den beklemmenderen Sehenswürdigkeiten gehört dagegen der seit Jahrzehnten schrumpfende Aral-See im Westen Kasachstans.

Reiseführer:
Dagmar Schreiber, Kasachstan entdecken. Trescher-Reihe Reisen, 2005. ISBN: 3-ISBN 89794-079-5.

„Wie, ihr seid für Urlaub hier?“ Die Verkäuferin im Tante-Emma-Laden sieht uns entgeistert an und zieht ihre Strickjacke enger um sich. Nein, westliche Ausländer verirren sich selten hierher. Als wir ein Glas selbsteingekochte Walderdbeermarmelade erstehen, empfiehlt sie uns dazu einen kasachischen Wodka aus ihrem reichhaltigen Spirituosenangebot. Klingt verlockend, doch wir bleiben beim Kefir. Der ist noch billiger als Wodka und auch überall erhältlich.

Auf dem Heimweg rechnen wir aus, dass 200 Euro reichen würden, um eine 30-köpfige Schiffsbesatzung für 37 Wochen mit je einem halben Liter Kefir pro Tag zu versorgen.

Kaum haben wir in unserer heimeligen Holz-und-Linoleumküche Teewasser aufgesetzt, fällt der Strom aus. Auch beherztes Drücken und Drehen an sämtlichen Hebeln des Sicherungskastens im Flur ändern nichts an der misslichen Lage. Ein Mann wie ein Schrank im roten Trainingsanzug schlurft mit zwei Frauen in Wollmänteln die Treppe herunter. „Njet Elektriskij“ gestikulieren wir wild und zeigen auf die dunkle Wohnung, doch leider ignorieren uns die Nachbarn völlig. Schließlich kommt der Mann allein zurück, versetzt wortlos einer der Sicherungen einen kräftigen Schlag und nickt dann bestätigend in die jetzt beleuchtete Türöffnung.

Frühling und eine Stimmung wie früher auf elterlichen Gartenfesten

Auch in Borowoje haben Schlechtwetterperioden irgendwann ein Ende. Die letzten zwei Tage verbringen wir ohne Doscht bei strahlend blauem Himmel. Die Sonne spiegelt sich im See, es ist leidlich warm, irgendwie frühlingshaft sogar. Die Kioskbesitzer verkaufen mehr Bier und Fanta, Wodka und Bratwürste und drehen die Musik noch etwas lauter. Es herrscht eine Stimmung wie auf Gartenfesten unserer Eltern, und das macht uns erstaunlicherweise ausnehmend gute Laune.
 
Heute haben auch die Bootsverleihe wieder geöffnet. Kleine Gesellschaften strampeln in Tretbooten zu einer der Felseninseln hinaus, die aussehen wie ungelenke Bastelarbeiten eines Riesen. Warum nur sind Tretboote überall beliebter als Ruderboote? Man macht reichlich Urlaubsfotos: Ratschratsch, tönt es ungewohnt, wenn der Film weitergedreht wird.

„In einem Tag können Sie den See bequem zu Fuß umrunden“, verspricht unser deutscher Reiseführer, und wir machen uns auf den Weg. Zwischen den Felsen erstreckt sich schattiger Fichtenwald, und am Seeufer reiht sich eine klare Bucht an die andere. Anfangs sehen wir noch zahlreiche barbäuchige Angler, deren Familien sich auf Badetüchern im Uferkies räkeln, barbusig gar zuweilen, oder ungerührt im Wasser planschen. Wir würden in den See nicht mal den kleinen Zeh hineinhalten, aber wir kennen auch die hiesigen Winter nicht.

Idyllische Ausblicke auf Seen und Wälder

Weiter folgen wir dem gut ausgeschilderten Waldweg - nur wohin, das können wir ohne Karte leider nicht erschließen. Hin und wieder erklettern wir eine der zahlreichen Felsnasen am Wegesrand. Von dort oben bieten sich idyllische Ausblicke auf den See und die Wälder ringsum, weitere Seen im Hintergrund und noch mehr Hügel und Felskuppen. Kasachische Schweiz heißt diese Gegend, das erscheint uns etwas verwegen und nur im Kontrast zu der umliegenden platten kasachischen Steppe gerechtfertigt.

Mittlerweile ist es still geworden, keine Schlagerfetzen dringen mehr zu uns herüber, und auch die badenden Familien haben sich verloren. Immer kurvenreicher schlängelt sich der Weg durch den Forst. Das Seeufer ist jetzt exklusiv abgesperrt, dort reihen sich verlassene Ferienlager und Sanatorien aneinander, die ihre Blüte längst hinter sich haben. Bald haben wir vollkommen die Orientierung verloren. Wir kreuzen einige Wege mit aufgewühlter, fast schwarzer Erde und zahlreichen Hufspuren. Doch weit und breit sind weder Reiter noch Pferd noch Spaziergänger zu sehen. Am Spätnachmittag – wir befassen uns bereits mit dem Gedanken, im Wald zu übernachten – gelangen wir an den Zaun eines weiteren Geistersanatoriums und dahinter dann schließlich doch auf die Zufahrtsstraße zurück in den Ort Borowoje.
 
Als wir am nächsten Tag in den Minibus nach Astana steigen, um in die futuristische Hauptstadt zurückzufahren, ergreift uns fast so etwas wie Melancholie. Ob Mascha weiß, dass sie in einer Zeitfalte lebt? Ob Bratwürste und Tretboote hier auch bald Sushibars und Mountainbikeverleihen werden weichen müssen?

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Die Autorinnen führen ein Blog mit Fotos und Texten im Internet: http://westwards.typepad.com

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