09.08.2023 13:11:56
ORTHODOXE KIRCHE
Von Julia Schatte
n der Eisenbahnstrecke von Moskau nach Rjazan, nur 110 Kilometer südöstlich der Hauptstadt liegt an der Mündung der Moskwa in die Oka die Stadt Kolomna. Als Grenzstadt des Fürstentums Rjazan im Jahr 1177 in der Laurentius-Chronik zum ersten Mal urkundlich erwähnt, wurde Kolomna bereits vor der Angliederung an die Moskauer Rus im Jahr 1301 als Stadt des Handels und des Handwerks bekannt. Vor der Schicksalsschlacht in Kulikowo versammelte der russische Fürst Dmitrij Ivanovič, genannt Donskoj, dort sein Heer. Damals gelang es, sich von der 300-jährigen mongolisch-tatarischen Herrschaft zu befreien. Durch den Bau der steinernen Festungsanlage zwischen 1525 und 1531 wuchs Kolomnas strategische Bedeutung, von hier aus brachen russische Truppen zu Kriegszügen gegen die Tataren auf.
Das Frauenkloster Nowo-Golutwin ist das jüngste auf dem Territorium des Kremls von Kolomna. Obwohl viele Gebäude auf dem Klostergelände bedeutend älter sind, haben auch die Mauern des Frauenklosters bereits ein ehrwürdiges Alter: Als Gründungsjahr wird 1799 angegeben. Der gesamte Baukomplex entstand Ende des 17. – Anfang des 18. Jh. In den Jahren 1350 bis 1799 befand sich auf dem Territorium des heutigen Klosters eine Priesterresidenz, von dort aus wurde das 1350 gegründete Eparchat von Kolomna verwaltet. Die Anfänge des Eparchats, das zehn Klöster und 931 Kirchen besaß, gehen auf die Regierungszeit (1328-1340) des Fürsten Ioann Danilowitsch Kalita zurück.
In sowjetischer Zeit nutzte man die Gebäude als Verwaltungsämter, Milizquartiere, Krankenhäuser, später als Wohnheime und Kommunalwohnungen. Der Glockenturm wurde 1934 an das städtische Grammophonwerk verkauft und die Dreifaltigkeitskirche an eine Näherei vermietet. Das in den 20-er Jahren geschlossene Kloster gehört seit 1989 wieder der Russisch-Orthodoxen Kirche. Mit Hilfe von Zuwendungen großer Konzerne, einzelner Geschäftsleute und Pilger wurden die Kirchen, der Glockenturm, der Zellentrakt und das Pilgerhaus ästhetisch-schlicht renoviert. Vier geweihte Kirchenräume gehören heute zum Kloster. Nachts strahlen die Bögen und Kuppeln in warmem Licht.
Nowo-Golutwin ist heute eines der bekanntesten Frauenklöster in Russland. Es gilt als progressiv, sehr geschäftig und vielseitig. Besonders junge russische Akademikerinnen fühlen sich davon angezogen. An die hundert Nonnen beherbergt es derzeit, auffällig sind die vielen jungen Gesichter ist. Tatsächlich sind die Frauen im Durchschnitt erst 23-25 Jahre alt.
Bis zu drei Tagen darf man als Pilger das Kloster besuchen. Ein Pilgerhaus, in dem sich gleichzeitig ein kleines medizinisches Zentrum befindet, steht für Übernachtung und eine einfache, vegetarische Verpflegung bereit. Manche kommen allein, andere mit Freunden. Unter den Pilgern sind auch Familien mit Kindern.
Während des Aufenthalts stellen sie dem Kloster ihre Arbeitskraft zur Verfügung. Je nach Jahres- und Tageszeit wird Hilfe im Obst- oder Kräutergarten, in der Küche oder in der Kirche nach den Gottesdiensten gebraucht. Mit einfachem Sonnenblumenöl reinigt man die Kerzenleuchter, denn dieses schützt die Emaille am besten vor dem heißen Wachs, sagen die Nonnen.
Schnell wird deutlich, dass die Klostergemeinschaft auf eine gewisse Art in sich geschlossen ist. Der Alltag besteht auch für den Pilger aus einer Menge Rituale: Gebete, Worte, Gesten. In jeder Zelle findet man eine lange Liste mit Regeln, die im Kloster einzuhalten sind. Das sind nicht nur die üblichen Zeiten der Früh- und Abendgottesdienste oder der Mahlzeiten, nicht nur das obligatorische Kopftuch und der lange, ungeschlitzte Rock für die Frauen. Es wird auch darauf hingewiesen, generell leise zu sprechen, auf Ruhe zu achten. Schimpfworte und Flüche sind ausdrücklich unerwünscht.
Strengstens verboten ist es, von Mitternacht bis 6.30 Uhr das Pilgerhaus zu verlassen. Denn nachts ist das Klostergelände von den „Alabaj“(aus den Turksprachen, vermutlich eine Zusammensetzung aus „ala“- farbig, bunt und „baj“ – reich) bevölkert. Diese mittelasiatische Schäferhunderasse wird im Nowo-Golutwiner Kloster gezüchtet, zum Objekt- und Personenschutz abgerichtet und verkauft: „Gott hilft uns und die Hunde wachen“. Besonders nachts hört man immer wieder das Gebell dieser großen Tiere, bevor sie am frühen Morgen wieder ins Gehege getrieben werden.
Schlicht und natürlich, an anderer Stelle ungewöhnlich und kunstvoll ist die Gestaltung der Kirchenräume. Auf die Fortführung russischer kunsthandwerklicher Traditionen legen die Nonnen großen Wert, betreiben eine eigene Keramikwerkstatt und eine Nähstube. Sie üben sich in Ikonenmalerei und –restauration. Die gesamte Ikonostase der Kirche der Heiligen Ksenija von Petersburg, deren Gottesdienste vom orthodoxen „Radio Blago“ übertragen werden, ist ein Kunstwerk aus Keramik. Mit vielen Keramikleuchtern, filigranen Einzelstücken, ist die hölzerne „Heiliger- Wladimir- und- Heilige- Anastasia- Kapelle“ geschmückt. In leuchtendem Blau, Weiß, Braun und Grün strahlt dort ein großes Kreuz aus Mosaik. Erst bei näherem Hinsehen erkennt man, dass viele Ikonen eigens von den Nonnen handgefertigte Stickereien sind.
Der Laden gleich am Eingangstor ist für alle Besucher geöffnet, außer kleinen Souvenirs verkaufen die Nonnen dort hausgemachten Käse und Marmelade. Die kleinen Zeitungen, die für die Kirchenbesucher ausliegen, geben sich betont volksnah und geben Tipps für einfache, praktische Alltagsdinge: Wie kocht man in der Fastenzeit? Wie verläuft ein Feiertag in der Familie? Was trägt die orthodoxe Frau?
In der kleinen Buchabteilung stehen verschiedene Bibelausgaben, Lebensgeschichten russischer Heiliger, Berichte über Reisen zu Pilgerstätten. In vielen von ihnen tauchen Erzählungen über „Wunder“ auf – heilendes Wasser, Licht, Feuer, Ikonen, die weinen. Schilderungen historischer Ereignisse und Ratgeber für eine christlich-orthodoxe Erziehung sind in einem deutlich pathetisch-patriotischen Ton verfasst. In mehreren Schriften hat die Äbtissin Ksenija ihre Gedanken über Moral und Sünde, das Verständnis der Seele, den Weg zu Gott und zum Leben als Nonne dargelegt. Viele dieser Bücher sind von den Nonnen selbst gestaltet und herausgegeben. Reich damit bestückt ist auch die Klosterbibliothek.
Über die Webseite (http://novogolutvin.ru/en/chronicle/life/soviet.html!) kann man DVDs erwerben, die zum 5-, 10- und 15-jährigen Bestehen des Klosters hergestellt wurden. Lobend und begeistert äußern sich darin prominente Künstler und Wissenschaftler. Der Unterricht in der Sonntagsschule, gemeinsames Singen und Musizieren, Nonnen auf Pferd und Traktor – der Kampf gegen das Böse wirkt fröhlich und idyllisch. Eine perfekte Selbstdarstellung inmitten malerischer Architektur und romantischer Naturaufnahmen.
Ein ungewöhnlicher Anblick vor Klostermauern ist das hauseigene Kamel, ein Geschenk des Kosmonautenzentrums in Bajkonur. Heute dreht es werbewirksame Runden im Nowo-Golutwiner Garten.
Besonders ausführlich berichtet das Kloster über zwei zentrale Ereignisse: den Besuch des inzwischen verstorbenen Patriarchen Aleksijs II. und einen Arbeitsbesuch Wladimir Putins im Dezember 2003. Während auch das Archiv der Webseite des Kremls an diesen Besuch erinnert, beschreibt die Äbtissin Ksenija, eine studierte Journalistin, das Treffen als „freudig“. Putin sei ein Mensch, der „schnell reagiert und Situationen verändern kann“. Auf die Frage an Pilger, warum der hohe politische Besuch im Kloster so enthusiastisch kommentiert werde, heißt es spontan: „Das ist doch so üblich, jeder muss sich irgendwie zu Putin äußern“.
Dies ist nicht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Grundprinzipien der russischen Geistesgeschichte – die göttliche Auserwählung und die Idee der Gemeinsamkeit (sobornost’) - heute nicht nur von der Orthodoxen Kirche vertreten werden. Sie sind auch Bestandteil von Parteiprogrammen, z.B. der Putin-nahen Partei Einiges Russland und der Liberal-Demokratischen Partei.
Obwohl Patriarch Kirill offiziell immer wieder betont, dass Xenophobie der wahren russischen Kultur fremd wäre, warnen Bücher, die dem Wesen der Orthodoxie (z.B. „Orthodoxe Zivilisation“) gewidmet sind, vor westlicher Kunst als einer moralisch verdorbenen. Das kleine Nowo-Golutwiner Blatt „Pedagogitscheskij Vestnik“ beklagt negative Einflüsse westlicher Unterhaltung auf die Kindererziehung. Comicserien und Videospiele seien unnatürlich für ein russisches Kind, so die Autorin, eine promovierte Psychologin, sie behinderten die Entwicklung des Gemeinschaftssinns.
Ein großer Aushang an der Pinnwand der Hauptkirche lädt Jungen zum Training in einen „Orthodox-patriotischen Sportclub“ ein. Soziale Gemeinschaften in Form von Clubs und Camps, die eine Verbindung zwischen sportlichen oder kulturellen, religiösen und politisch-patriotischen Aktivitäten schaffen, sind heute weit verbreitet und nicht nur in Kolomna anzutreffen. Während die Verbindung auf der alltäglichen Ebene durch solche Aufrufe scheinbar natürlich und automatisch entsteht, wird sie im Diskurs orthodoxer Geistlicher hinterfragt, manchmal auch verneint, für schädlich erklärt.
Natürlich sei der orthodoxe Christ verantwortlich für seine Umgebung, schreibt der Priester Maksim Perwozwanskij. Dies sei ohne Liebe zu dem Ort, den Gott für ihn gewählt hat, jedoch nicht möglich. Deshalb sei der Patriotismus eine notwendige Ideologie eines jeden Staates. Definiert wird er als Dankbarkeit, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geboren worden zu sein. Kritik wird geübt, wenn er ausschließlich Heroismus, Macht und Stärke symbolisiert und nicht gleichzeitig nach Glauben und Vollkommenheit strebt.
Der Priester Georgij Zaverschennyj meint, dass man vermeiden müsse, die Orthodoxie mit nur einem Stamm, einem Volk oder einem Staat zu verbinden. Er knüpft damit an die Worte des Patriarchen Kirill an, der die „Russische Welt“ (Russkij Mir) nicht auf die Russische Föderation beschränkt. Vielmehr bestehe ihr Kern aus Russland, der Ukraine und Belarus („Heilige Rus´“), man sei durch den orthodoxen Glauben, die russische Sprache und das gemeinsame historische Gedächtnis, nicht durch politische Institutionen verbunden.
In ihrem Buch “The Politicization of Russian Orthodoxy: Actors and Ideas” (ibidem Verlag, Stuttgart 2005) schreibt die russische Politikwissenschaftlerin Anastasia Mitrofanova, dass aber bereits die Verwendung des Wortes „patriotisch“ in diesem Kontext für eine politische Verwendung der Religion spreche. Während bei den Clubs und Camps, Organisationen und Vereinigungen formell keine nationalistischen Ideen zu finden sind, sei die ideologische Ausrichtung in der Realität von orthodoxen Nationalisten bestimmt. Diese Aktivitäten könnten daher nicht als Erziehung im Geiste der Orthodoxie verstanden werden, vielmehr sei das eine nationalistische und fundamentalistische Auslegung politisierter Orthodoxie.
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