Ist Demokratie für Russland etwas „Künstliches“?RUSSLANDDEBATTE

Ist Demokratie für Russland etwas „Künstliches“?

Ist Demokratie für Russland etwas „Künstliches“?

Zwar werden wohl nur wenige Kollegen die Einschätzung, die ich in der letzten Ausgabe des Eurasischen Magazins vorgestellt habe, in ihrer Gesamtheit einschränkungslos teilen. Aber der Grundtenor dürfte sich bei vielen Mitgliedern der politologischen Fachverbände in Ost und West nicht prinzipiell von meiner Interpretation unterscheiden. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass die Politologie als akademische Disziplin de facto eine Demokratiekunde und zudem eine ausdrücklich universalistisch orientierte Wissenschaft ist bzw. als solche zunächst in Großbritannien und den USA entstand.

Von Andreas Umland

Zur Debatte - von Dr. Dr. Andreas Umland
Ich fühle mich geehrt, dass sich mit Alexander Rahr und Kai Ehlers zwei in Deutschland profilierte Kommentatoren aktueller russischer Entwicklungen die Zeit genommen haben, Entgegnungen auf meinen Beitrag „Das postsowjetische Russland zwischen Demokratie und Autoritarismus“ in der letzten Ausgabe des Eurasischen Magazins (EM 11-08) zu verfassen. Ebenso sei Hans Wagner vom Eurasischen Magazin für dessen umsichtige Organisation dieser gesamten Debatte herzlich gedankt.

Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich Rahrs und Ehlers schmeichelhafte Komplimente bezüglich der Relevanz und Novität meiner Ausführungen so annehmen kann. Habe ich doch lediglich versucht, auf engem Raum zusammenzufassen, was mir die Mainstream-Position unter den meisten westlichen, sich mit Russland befassenden sowie einigen führenden russischen Politikwissenschaftlern (allerdings nicht den Moskauer „Polittechnologen“) bezüglich der Verortung Putins in der russischen Zeitgeschichte zu sein scheint.
Andreas Umland  
Andreas Umland  

W enn ich Alexander Rahr richtig verstanden habe, würde dieser Aspekt der Natur bzw. Entstehungsgeschichte der westlichen Politikwissenschaft diese Disziplin zu einem eher ungeeigneten Medium für die Analyse gegenwärtiger russischer Belange machen. Statt dieses klar westlich geprägten Ansatzes würden vielmehr tiefe Kenntnisse der russischen Geschichte, Traditionen, Kultur, Philosophie und Denkmuster einen befähigen, die jüngsten Entwicklungen in Russland adäquat einzuordnen. Sei es denn: Lassen wir die universalistischen Prätentionen nomothetisch orientierter Sozialwissenschaften beiseite und konzentrieren uns stattdessen auf die Besonderheiten Russlands sowie seiner Geschichte.

Russlands Demokratisierung im historischen Kontext

Aus einer idiographisch-hermeneutischen Perspektive kommt man, scheint mir, allerdings zu einem ähnlichen Ergebnis, wie bei einer Bewertung der Putinschen Regentschaft aus dem Blickwinkel einer universal geltenden Präferenz für Demokratie, Gewaltenteilung und politischen Pluralismus. Wie Leonid Luks in seinem Beitrag zu dieser Debatte ausführlich darlegt, ist „die russische Tradition“ letztlich eine Fiktion. Vielmehr gab es – ähnlich der deutschen Geschichte – in der russischen Geschichte höchst gegensätzliche und miteinander konfligierende Traditionsstränge, die sich, wie Luks argumentiert, spätestens seit dem Dekabristenaufstand 1825 in zwar meist illegal agierende, aber nichtsdestoweniger vollwertige politische Strömungen verwandelt haben. Die Bezeichnungen „Westler“ und „Slavophile“ trugen hier teilweise mehr zur Verwirrung als zur Klärung dieser Auseinandersetzung bei, hatten und haben doch einige russische „Westler“ ein ambivalentes Verhältnis zur Idee einer russischen Volksherrschaft, während bestimmte „Slavophile“ als Vertreter einer spezifisch russischen Form von Anarcholiberalismus gelten dürfen.

Wenn man Boris Jelzin, Jegor Gajdar und Anatolij Tschubajs einmal als zentrale Protagonisten der Reformversuche der 1990er Jahre betrachtet, so waren dies keine aus dem Westen eingereisten Politiker, sondern typische Repräsentanten der spätsowjetischen Gesellschaft und russischen Zeitgeschichte: der Provinzpolitiker und Parteifunktionär aus dem Ural, der Prominentensohn und Wirtschaftspublizist aus Moskau sowie der talentierte Ökonom und Manager jüdischer Abstammung aus Leningrad – alle drei russisch sozialisiert, mit klassisch realsozialistischen Biographien. Jelzin, Gajdar und Tschubais waren keine unnatürlichen oder traditionslosen Staatsbürger Russlands, sondern Vertreter eines bestimmten russischen, prodemokratischen Traditionsstranges. Dessen Geschichte könnte man – in Anlehnung an Luks – zurückverfolgen über die prowestlichen Protoparteien der 1990er Jahre, die so genannte „informelle“ Bewegung der 1980er Jahre, das Dissidententum der 1970er Jahre, die Schestidesjatniki der 1960er Jahre, die Konstitutionellen Demokraten des Spätzarismus, gemäßigte Teile der Intelligenzija des 19. Jahrhunderts usw. bis hin zur mittelalterlichen Kiewer Rus mit ihren protodemokratischen Stadtversammlungen („Wetsche“).

Geschichtsmythen und politische Restauration in Putins Russland

Ein wichtiges Problem des heutigen Russlands – im Vergleich etwa zur Ukraine – ist nicht die Abwesenheit russischer demokratischer Traditionen, sondern deren Marginalisierung im öffentlichen Diskurs, welcher sich in den vergangenen Jahren stattdessen immer mehr auf eine Heroisierung nichtdemokratischer Traditionsstränge eingeschossen hat (siehe hierzu auch: http://www.zn.ua/1000/1600/62203/). Das fängt an bei einer Verklärung des byzantinischen Erbes, reicht über die Idealisierung der Autokratie der Moskowiter Großfürsten sowie der Zaren und endet bei mehr oder minder offener Apologetik von Stalins Terrorstaat. Meist drehen sich diese über Medien, Schulen und Universitäten verbreiteten Geschichten um militärische Siege, starke Männer, die einige Nation, hinterlistige Verräter, undankbare Brudervölker und nicht zuletzt den verschlagenen Westen.

Bezüglich letzteren Sujets kommt der Beschönigung der Geschichte der sowjetischen Staatssicherheitsorgane in dutzenden Dokumentar- und Spielfilmen sowie hunderten Publikationen eine immer größere Rolle zu. Dabei bleibt meist unerwähnt, dass die Vorgängerorganisationen des KGB eher bolschewistische Äquivalente für die Gestapo oder das RSHA als russische Entsprechungen des BND oder CIA waren. Die jüngeren Machenschaften des KGB-FSB und weniger „die russische Tradition“ erscheinen denn auch der Hauptgrund für die gescheiterte russische Demokratisierung. Zwar gab es, wie Rahr richtig schreibt, keinen Coup des KGB – zumindest nicht unter Jelzin (man kann allenfalls von einer schleichenden Palastrevolution der Geheimdienstler ab 1999 sprechen). Aber der KGB-FSB hat die Perestroika und Jelzinschen „Reformen“ weitgehend unbeschadet und unter Beibehaltung seines alten Corps des Esprit überdauert – ein Teilaspekt der von Luks thematisierten Unvollständigkeit der politischen Revolution von 1991.

Ein unreformierter KGBler als Präsident

Dass Jelzin gerade einen – anders als etwa Ex-KGB-General Oleg Kalugin – „unreformierten“ KGBler zu seinem Nachfolger gemacht hat, scheint mir, wie im Ausgangsartikels im EM 11-08 bemerkt, jener Aspekt zu sein, den Historiker einmal als einen, wenn nicht den Hauptfehler Jelzins betrachten werden. 1999 sagte der gerade vom FSB-Chef zum Premierminister aufgestiegene Putin auf einer Versammlung vor FSB-Mitarbeitern: „Wir sind wieder an der Macht, und nun für immer.“ (http://www.nr2.ru/134679.html). Am 20. Dezember 2000 – dem „Tag des Tschekisten“ – fügte sein Nachfolger als FSB-Direktor Nikolaj Patruschew in einem Interview hinzu: „Wir haben unsere Vergangenheit nicht geleugnet, sondern ehrlich gesagt: 'Die Geschichte der Lubjanka des vergangenen Jahrhunderts – das ist unsere Geschichte [...]'.“ (Komsomol'skaja pravda, 20.12.00, http://www.fsb.ru/). Wer immer diese „Geschichte“ kennt, braucht weder westliche Politikwissenschaft noch tiefe Einblicke in die russische Tradition um zu verstehen, dass es um Russland schlecht bestellt ist.

Rahr hat zwar in gewisser Hinsicht Recht, wenn er schreibt, dass das Russland der 1990er Jahre „künstlich“ war. Nach dem radikalen Bruch mit den demokratischen Anfängen am Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die scheinbar gänzlich neuen Institutionen und Werte Ende des 20. Jahrhunderts von vielen Russen als „importiert“ betrachtet. Aber ähnliches galt z.B. auch für das Verhältnis vieler Deutscher zur Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg. Nicht nur Kommunisten und Nazis lehnten die erste deutsche Demokratie radikal ab. Auch zahlreiche in der politischen Mitte angesiedelte Beamte, Militärs, Professoren und Publizisten kritisierten, sabotierten bzw. bekämpften das „Weimarer System“ und machten sich über den jungen, noch ungelenken deutschen Parlamentarismus lustig (der Reichstag als „Schwatzbude“). Das heißt zwar nicht, dass die immerhin dritte russische Republik (nach der ersten vom Februar-Oktober 1917 und zweiten 1991-1993) notwendigerweise ähnlich enden wird, wie die erste deutsche. Aber einige Parallelen sind unverkennbar, wie u. a. Leonid Luks jüngst in einem russischsprachigen Aufsatz dargelegt hat (siehe: http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/docs/5Luks07.pdf ).

Putins Versäumnisse

Vor diesem Hintergrund kann ich Rahrs Verweisen darauf, dass ein Mann wie Putin vom Volk „herbeigesehnt“ wurde und dass die Alternative zu Putin Ultranationalisten vom Schlage eines Alexander Dugin wäre, auch nur teilweise zustimmen. Zwar hat Rahr vollkommen Recht, so man seine Einschätzungen für sich betrachtet. Diese zweifellos gültigen Beobachtungen befreien Putin allerdings nicht von dessen historischer Verantwortung als Staatsmann in bewegten Zeiten. Das Grundproblem russischer Geschichte seit spätestens Iwan dem Schrecklichen war nicht ein Mangel an entschlossener Führung, sondern die Allgegenwärtigkeit der staatlichen „Machtvertikale“ – so der heute in Russland gängige Terminus für das an Autokratie grenzende Regierungssystem Putins.

Beeindruckende ökonomische und soziale Modernisierungsschübe hat es auch unter den Zaren und ZK-Sekretären geben. Diese beachtlichen organisatorischen und technischen Leistungen haben Russland allerdings nicht vor Revolutionen, Bürgerkriegen, Hungersnöten, Staatszerfall, Rückständigkeit, Obskurantismus, internationaler Isolation und ähnlichen Phänomenen im 20. Jahrhundert bewahrt. Inhalt der von Rahr scheinbar befürworteten Modernisierung Russlands wäre es ja – gerade aufgrund der spezifisch russischen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte – endlich staatliche Macht zu dezentralisieren und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. So zumindest haben es der Jurist aus Südrussland und Ingenieur aus dem Ural – die beiden Provinzrussen Gorbatschow und Jelzin – verstanden.

Schakale, die um ausländische Botschaften herumstreichen

Im Lichte dieser Betrachtung der heutigen Zeit aus einer breiteren historischen Perspektive oblag es dem in der europäischsten Stadt Russlands, Leningrad/St. Petersburg, aufgewachsenen, zweiten russischen Präsidenten, die noch in ihren Kinderschuhen befindliche Demokratie zu stärken. Es stand ebenfalls in Putins Macht, den schon in der späten Sowjetunion aufkeimenden russischen Ultranationalismus im Zaume zu halten. Putin hat sich entschieden, beides nicht zu tun, sondern – im Gegenteil – die ohnehin erst fragmentarisch existierenden demokratischen Institutionen wieder zu liquidieren und einen an Paranoia grenzenden Nationalismus zu schüren, wenn er etwa öffentlich seine politischen Opponenten als Verräter charakterisiert, die „ wie Schakale“ um ausländische Botschaften herumstreichen.
 
Auch ist die von Rahr erwähnte Figur Dugins für eine empathische Interpretation des Putin-Phänomens denkbar ungeeignet – zumindest nicht als ein Beispiel für eine schlechtere Alternative zu Putin, wie bei Rahr geschehen. Der sich selbst so bezeichnende „Neoeurasier“ und „Konservative“ Dugin soll bereits in den neunziger Jahren, d.h. zu einer Zeit als er noch offen die Waffen-SS gepriesen hat und begeistert einen „faschistischen Faschismus“ in Russland kommen sah, Verbindungen zu Wiktor Tscherkesow gehabt haben. Tscherkesow, einst hoher KGB-Offizier in Leningrad, später Bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten für den Nordwestlichen Föderalen Bezirk und heute Leiter des mächtigen Föderalen Antidrogendienstes ist ein „Russlandinsidern“ bekannter Mann, der zum engeren Vertrautenkreis von Putin gezählt wird (siehe hierzu http://www.km.bayern.de/blz/eup/02_08/2.asp).

Der politische Aufstieg Dugins seit Beginn des neuen Jahrhunderts sowie die anschließende Multiplikation seiner Verbindungen ins politische Establishment begann in etwa zeitgleich mit Putins Machtübernahme und Rezentralisierung um den Jahrhundertwechsel herum und könnte unter Umständen mit dem parallelen Aufstieg Tscherkesows, der im Windschatten Putins politische Karriere machte, zusammenhängen.

Im Februar 2008 wurde zudem – wohl kaum ohne Putins Wissen – der bekannte russische Fernsehproduzent und -moderator Iwan Demidow zum Leiter der Ideologiesektion der Politischen Abteilung des Zentralen Exekutivkomitees der Partei „Einiges Russland“ ernannt. Dies geschah, obwohl Demidow einige Wochen zuvor ausdrücklich erklärt hatte, ein Schüler Dugins zu sein und seine Talente als PR-Manager nutzen zu wollen, die Ideen des „Chefneoeurasiers“ zu verbreiten. (Dugin und Demidow blickten damals auf eine bereits jahrelange Zusammenarbeit in verschiedenen TV-Projekten zurück.) Demidow bezeichnete sich in dem besagten Interview für Dugins Webseite Evrazia.org selbst als einen „überzeugten Eurasier“. Dies war kurioserweise die gleiche Formulierung, die Dugin 15 Jahre zuvor zur Charakterisierung von Reinhard Heydrich (1904-1942), seinerzeit SS-Obergruppenführer, Leiter des RSHA und maßgeblicher Organisator des Holocausts, verwendet hatte. Bleibt hinzuzufügen, dass die hier erwähnten profaschistischen Äußerungen Dugins nicht seine einzigen derartigen Statements waren und dass Tscherkesow und Demidow nur zwei der vielfältigen Verbindungen des inzwischen zum Professor der Moskauer Staatlichen Universität ernannten „Neoeurasiers“ in höchste politische Kreise sind (mehr dazu unter: http://www.blaetter.de/artikel.php?pr=2721).

Eine andere Volksstimme

Dass, um diesen Abschnitt abzuschließen, nicht alle Russen die Jelzinsche Periode, wie von Rahr formuliert, als „künstlich“ ansahen, illustriert z.B. folgender Kommentar, den ein Moskauer Blogger zur russischen Version meines Artikels („Čto upustil Putin?“, http://www.newsland.ru/News/Detail/id/320535/cat/42/) unter dem Kodenamen „vvdom“ abgab:

Blogger-Text

Unter JeBN [= Jelzin, Boris Nikolajewitsch: die Abkürzung erinnert an ein unflätiges russisches Schimpfwort – A.U.], wie es heute in Mode gekommen ist, den ersten Präsidenten [Russlands] zu nennen, [geschah folgendes]:

1. In irgendeinem Bezirksgericht wurde 1993 das erste Mal seit 1917 nicht zu Gunsten der staatlichen Opritschniki [politische Polizei unter Iwan dem Schrecklichen], sondern zu Gunsten eines gewöhnlichen Klägers entschieden. Die Fußballmannschaft „Asmaral“ gewann einen Gerichtsprozess gegen die Präsidialadministration bezüglich der Kontrolle ihres Sportgeländes, das man zu „prichvatisieren“ [Wortspiel aus „privatizirovat’“ - „privatisieren“ und „prichvatit’“ - „abfassen“] versuchte. Unter Putin wurde dagegen ein Rechtssystem geschaffen, das man die Basmannyj Rechtssprechung nennt [nach dem notorisch korrupten Moskauer Basmannyj Stadtbezirksgericht].

2. Die Gouverneure strichen nicht das Gras [grün], wenn der Präsident zu Besuch kam, wie das jetzt geschieht, um zu zeigen, dass das Geld nicht verschwendet, sondern für einen guten Zweck eingesetzt wurde. [...]

3. Beim Versuch Jelzins einen unliebsamen Gouverneur abzusetzen, wandte dieser sich an das Verfassungsgericht, welches feststellte, dass unabhängige Gouverneure die Organisationsgrundlage des Föderalstaates sind und [sie daher] nur vom Volk gewählt werden können. Dieser Beschluss des Verfassungsgerichts war endgültig und kann sogar vom Verfassungsgericht selbst nicht verändert, sondern nur durch einen Volksentscheid über die Veränderung des Staatsaufbaus [aufgehoben werden]. Unter Putin wurde der Beschluss des Verfassungsgerichts über die Wählbarkeit der Gouverneure außer Kraft gesetzt, was absolut gesetzwidrig ist.

4. Die parlamentarische Mehrheit stellte Jelzins Opposition – jene Sjuganow- und Shirinowskij-Leute, die nur knapp bei ihrem Versuch eines Impeachments Jelzins scheiterten. Wer hat diese Leute ins Parlament entsandt? Jelzin oder das Volk? Gibt es unter Putin reale Oppositionelle im Parlament?

5. Unter Jelzin wurde über alle TV-Kanäle der von [dem politischen Satiriker Wiktor] Schenderowitsch erfundene Begriff „Familie“ [für die nächste Umgebung Jelzins] verbreitet. Und alle lachten über die [politische Satiresendung] „Die Puppen“ [russ. Äquivalent von „Hurra Deutschland"]. Lassen die Puppen es jetzt zu, dass Schenderowitschs „Puppen“ gezeigt werden?

Jelzin hat betrunken ein Orchester dirigiert, aber das war menschlich verständlich: er hat einen über den Durst getrunken, sich entspannt – so etwas kommt vor. Aber den Schnee, den der jetzige Präsident Russlands verbreitet – wird das zu Ende sein, wenn dieser einmal seinen Rausch ausgeschlafen hat, oder wird er auch weiter diesen Schwachsinn zum besten geben? Die Zeit Jelzins war keine Zeit eines idealen Präsidenten, aber das war eine Zeit realer Demokratie, die zu nutzen man lernen musste – Menschen ins Parlament zu wählen, welche wirklich Interessen vertreten können und sich nicht mit Populismus befassen, wie die Leute Shirinowskijs und Sjuganows [...]. Man hätte auch den Präsidenten abwählen können, wenn das Volk es gewollt hätte: Jelzin hat, um seinen Posten zu erhalten, [während des Präsidentschaftswahlkampfes 1996] vor dem Volk Polka getanzt, während der jetzige [Präsident oder Premierminister? – A.U.] das Volk zum Teufel geschickt hat und sogar zu feige war, an öffentlichen Debatten mit seinen Opponenten teilzunehmen. Wenn Jelzin auf Manipulationen mit [Wahl-]Bulletins hätte zählen können, hätte er wohl kaum während eines Herzinfarkts [bei den Präsidentschaftswahlen 1996] getanzt. Kurz und gut: Es gab eine Chance, heute gibt es diese nicht mehr. (http://www.newsland.ru/News/Detail/id/320535/cat/42/#comments227525)

Der Kommentar dieses russischen Bloggers ist nicht wissenschaftlich fundiert. Seine Frustration macht jedoch deutlich, dass selbst unter den Bedingungen gleichgeschalteter Massenmedien und täglicher Gehirnwäsche durch das Moskauer Staatsfernsehen zumindest manche Russen die Jelzinzeit nicht als „künstlich“ ansehen. Interessant ist zudem, dass bei diesem Kommentar unklar bleibt, auf wen der Kommentator seinen Vergleich mit Jelzin bezieht: Vielleicht meint er den amtierenden Präsidenten Medwedjew, vielleicht aber auch den tatsächlichen Herrscher Russlands Putin – eine Ambivalenz, die symptomatisch für das heutige Russland ist und in der Zukunft ein Faktor politischer Instabilität werden könnte (mehr dazu unter: http://www.res.ethz.ch/news/sw/details.cfm?lng=en&id=94368).

Zur Methodik der Transformationsforschung

„Instabilität“ ist auch das Stichwort für eine kurze Erwiderung an Ehlers, der wiederholt meine Formulierung „nachhaltig stabil“ zitiert. Ehlers' Kommentar ist hier insofern wertvoll, als er weitgehend dem Grundtenor offizieller russischer Darstellungen der Putinschen Rezentralisierung entspricht und sogar teils deren Rhetorik reproduziert, wenn etwa von Putins Beendigung des „faulen Friedens“ in Tschetschenien 1999 die Rede ist.

Zunächst einige Fehldarstellungen: Im Teaser vor Ehlers' Artikel heißt es, dass ich Russland als „Denkfigur“ betrachten würde. Worauf diese Unterstellung beruht, kann ich nicht nachvollziehen. Es käme mir nie in den Sinn, irgendein Land als „Denkfigur“ zu bezeichnen, schon gar nicht Russland.

Auch erwähnt Ehlers, dass ich aus einer „geschichtsphilosophischen“ und „politikpragmatischen“ Position heraus schreibe. Ich verwendete zwar diese Begriffe, bezog sie jedoch nicht auf meine Argumente, sondern bezeichnete so die beiden maßgeblichen Ansätze der Putinapologeten. Die „Geschichtsphilosophen“ sagen, dass Russland eben „anders“ ist, weshalb man keine „westlichen“ (sprich: demokratietheoretischen) Maßstäbe anlegen dürfe. Die „Politikpragmatiker“ meinen, dass Russland heute anderes nötiger habe als Demokratie. Ich hatte mehrfach deutlich gemacht, dass mein Ansatz eben nicht „geschichtsphilosophisch“ oder „politikpragmatisch“, sondern demokratietheoretisch und diachronisch-vergleichend ist.

Auch wenn Ehlers insinuiert, ich hätte argumentiert, dass „Putin [...] das Chaos von Jelzin geerbt“ hat, ist dies das genaue Gegenteil meiner Argumentation. Der ganze Artikel drehte sich ja darum, dass Putin 1999 kein Chaos, sondern ein zwar noch unvollkommenes, aber bereits grundlegend existentes neues Staats- und Gesellschaftssystem von Jelzin erbte. Dies war der prinzipielle Unterschied zur Lage beim Machtantritt Jelzins, der 1991 eine in vielfacher (ökonomischer, politischer, verwaltungstechnischer usw.) Hinsicht chaotische Situation übernahm. Zudem hatte die russische Wirtschaft bereits vor Jelzins Machtübernahme ihre Talfahrt angetreten, während sie schon etliche Monate vor Putins Amtsübernahme als Präsident am 1.1.2000 in ihre bis vor kurzem andauernden Aufschwungphase eingetreten war.

Da Ehlers, wie in seiner Kurzbiographie erwähnt, Transformationsforscher ist, dürften ihm die Formulierungen „spurrious correlation“ (Scheinkorrelation) oder „omitted variable error“ (Fehler der unbeachteten Variable) bekannt sein, die ein Grundproblem der vergleichenden Sozialwissenschaften bezeichnen. Gemeint ist hier, dass Kovariation nicht immer Korrelation und schon gar nicht notwendigerweise Kausation bedeutet.

Die Standardanekdote zur Illustration dieses Problems in Statistikseminaren behandelt die wichtige Frage, ob der Storch die Babies bringt. Man kann zwar u. U. eine Parallelität der geographischen Verteilung von Störchen und Babies z.B. in Deutschland nachweisen. Diese Kovariation – selbst wenn sie statistisch signifikant wäre – ist jedoch nicht notwendigerweise ein Beweis dafür, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen Störchen und Babies gibt. (Die alternative Erklärung ist, dass Störche eher in ländlichen Gebieten leben und dass die Geburtenrate auf dem Land i. d. R. höher ist als in der Stadt, wo weniger Störche leben. Der Stadt/Land-Unterschied wäre dann die „omitted variable“ – die ignorierte Variable.) Parallelität von zwei Phänomenen bedeutet nicht notwendigerweise einen Zusammenhang zwischen beiden.

Testfall Ukraine

Ähnlich verhält es sich mit Putins Rezentralisierung und der Stabilisierung Russlands. Lässt sich aus der zweifelsfrei vorhandenen zeitlichen Parallelität dieser beiden Phänomene – Machtkonzentration und politökonomischer Erfolg – eine kausale Beziehung zwischen ihnen schlussfolgern? Transformationsforscher würden zur Beantwortung dieser Frage sofort nach ähnlichen, zumindest teilweise vergleichbaren Situationen suchen. Und da liegt die Gegenüberstellung Russlands mit der Ukraine am nächsten – „Kleinrussland“, wie das Land, dessen Sprache lexikalisch dem Polnischen näher als dem Russischen ist, in Russland immer noch gerne genannt wird. Wenn es eine Kausalität zwischen Machtkonzentration und Wirtschaftswachstum als wichtigster Faktor sozialer Stabilisierung gibt, dann hätte Russland mit Putins Machtantritt ein erheblich höheres Wirtschaftswachstum haben müssen als die Ukraine. „Erheblich höher“, weil die Ukraine nicht nur mit keiner der Putinschen „Machvertikale“ vergleichbaren Struktur gesegnet war, sondern auch über deutlich weniger natürlichen Ressourcen verfügt und insbesondere nicht am rapiden Anstieg der Weltmarktpreise für Energieträger im neuen Jahrhundert partizipieren konnte.

Jahr

Ukrainisches Bruttoinlandsprodukt - reale Wachstumsrate (%)

Russisches Bruttoinlandsprodukt - reale Wachstumsrate (%)

2000

-0,4

3,2

2001

6,0

6,3

2002

9,0

4,0

2003

4,1

4,2

2004

9,4

7,3

2005

12,0

6,7

2006

2,6

6,4

2007

7,1

6,7

2008

6,9

8,1

Quelle: CIA World Factbook – Version, 1. Januar 2008.

Zwar unterscheiden sich diese zwei Wachstumsdynamiken, aber die Entwicklung beider Länder zeigt in die selbe Richtung – mit dem wichtigen Unterschied, dass die Ukraine für ein im Ergebnis nahezu ebenbürtiges Wirtschaftswachstum nicht, wie Russland, mit einer Liquidierung ihrer in den Neunzigern entstandenen protodemokratischen Institutionen bezahlte. Mehr noch, die Ukrainer schafften es, auf dem Höhepunkt ihres Wirtschaftswachstums einen zweiten, unter der Bezeichnung „Orange Revolution“ bekannt gewordenen Demokratisierungsschub durchzusetzen, der das Land quasi aus dem typisch postsowjetischen Kontext hinauskatapultierte und heute eher wie Polen in den Neunzigern als Russland im neuen Jahrhundert aussehen lässt.

Wir Deutschen machen bezüglich der Ukraine – übrigens genau wie viele Ukrainer selbst – den Fehler, dass wir dieses osteuropäische Land mit zentral- oder nordeuropäischem Maß messen und im Angesicht der häufig instabilen Zustände in der Kiewer Politik die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Dabei bleibt unbeachtet, dass nicht nur das z.B. vergleichsweise politisch geordnete Deutschland der Nachkriegszeit eine europäische Erfolgsstory war. Die – zumindest aus deutscher Sicht – chaotischen politischen Zustände etwa im Nachkriegsitalien haben die Italiener nach 1945 nicht daran gehindert, ähnliche ökonomische Wachstumsraten wie Deutschland zu erzielen. Trotz der bei Kriegsende deutlich schlechteren Ausrüstungsbasis der noch weitgehend agrarischen italienischen Wirtschaft, schaffte es die junge südeuropäische Republik, unter der Leitung zwar demokratisch legitimierter, aber nahezu jährlich wechselnder und zudem mafiös verstrickter Regierungen ein beachtliches Wirtschaftswachstum zu erzielen – eine Kombination, die an ukrainische Verhältnisse erinnert.

Zudem muss bemerkt werden, dass die weit verbreitete Auffassung vom einerseits „stabilen“ sowie „geordneten“ Russland und der andererseits „instabilen“ sowie „ungeordneten“ Ukraine auf einem gerüttelt Maß an „spin“ beruht, d.h. auf dem Russlandbild, dass die kremlkontrollierten Massenmedien und „Polittechnologen“ im In- und Ausland (etwa durch den englischsprachigen TV-Sender „Russia Today“) gezielt projizieren. Dass die ukrainische Politik und Wirtschaft oft als wesentlich problembehafteter erscheint als die russische, hat auch damit zu tun, dass Schwierigkeiten und Konflikte in den ukrainischen Massenmedien offen benannt, täglich vor aller Welt diskutiert und in der Außendarstellung des Landes nicht geleugnet werden. Es gibt in dieser Beziehung, um eine Formulierung Mykola Rjabtschuks aus anderem Kontext aufzugreifen, eine „reale“ und eine „imaginierte Ukraine“, genau wie es scheinbar ein reales und ein imaginiertes (bzw. projiziertes) Russland gibt. Bei der letzten internationalen Messung von staatlicher Korruption durch Transparency International vom September 2008 z.B. lag die Ukraine mit dem Wert 2,5 des Corruption Perception Index auf Platz 135. Die Russische Föderation landete – trotz ihrer „Machtvertikale“, eines höheren Lebensstandards sowie einer Dominanz von Politikern mit einem militärischen oder geheimdienstlichen Hintergrund im Establishment des Landes – mit einem Wert von 2,1 als deutlich korrupter auf Platz 147 (http://www.transparency.de/Tabellarisches-Ranking.1237.0.html).

Jelzins Politik im historischen Kontext

Dies führt wieder zu Ehlers wiederholter und – so scheint es – sarkastischer Zitierung meiner Formulierung „nachhaltig stabil“, die sich darauf bezog, dass Putin eine historische Chance Russlands vertan habe, eine demokratische und daher dauerhafte Struktur für den russischen Staat zu schaffen. Warum sind die meisten wirtschaftlich und sozial erfolgreichen Staaten der Welt (die nicht über große Naturressourcen verfügen) demokratisch und umgekehrt? Einen offensichtlichen direkten Einfluss von Demokratie auf wirtschaftlichen Erfolg gibt es nicht. Allerdings zeichnen sich Demokratien dadurch aus, dass sie Krisen durch friedliche Regierungs- und nicht gewaltsame Eliten- oder Regimewechsel bewältigen – also langfristig stabilere staatliche Gebilde formen als Autokratien.

Diese nachhaltige Stabilität scheint ein – wenn auch nicht der einzige – Faktor zu sein, der den Westen international so dominant gemacht hat. Das scheint vielen Russen (und womöglich auch Ehlers) bis heute entgangen zu sein: Der Westen ist nicht nur demokratisch, weil er einen entsprechenden ökonomisch-sozialen Unterbau hat. Er hat diesen Unterbau und ist so relativ hoch entwickelt, stabil sowie einflussreich, unter anderem weil er demokratisch ist. Das nicht enden wollende Plädoyer der Russen für eine „multipolare“ Welt wirkt daher pathetisch: Die USA sind bislang der einzige tatsächliche Pol der Welt nicht nur weil sie dies sein wollen, sondern schlicht weil sie es sind. Die USA werden aufgrund ihrer flexiblen Gesellschaftsstruktur darüber hinaus in näherer Zukunft diese führende Position (wenn auch scheinbar nicht ihre derzeitige Hegemonie) beibehalten. Russland hat mit seiner Teilmodernisierung, begrenzten Fähigkeit zu selbstkritischer Reflexion und halboffenen Gesellschaft unter den Anwärtern auf einen weiteren „Pol“ in der Welt die wohl geringsten Chancen, sich je zu einem ernsthaften internationalen Konkurrenten der USA zu entwickeln.

Ehlers Artikel zu kritisieren ist schwierig, da bei ihm vieles verschwimmt: Jelzin war ein Zentralisierer von Macht und Wegbereiter für Putins Kurs; Putin wurde 2000 „ohne Manipulationen [wie bei den Präsidentschaftswahlen 1996] gewählt“; Russland war von „Tschetschenisierung“ bedroht; Demokratie bedeutet Sicherheit und Versorgung usw.

Auf eine solche Vernebelung will ich aber kurz eingehen. Wenn Ehlers davon spricht, dass Jelzin 1993 die „Duma zusammenschießen“ ließ, dann scheint dies nicht nur ein terminologischer Fehler zu sein, sondern weist auch auf ein breiteres Missverständnis hin. Auch ich habe in meinem Artikel die Ereignisse vom Oktober 1993 als Tiefpunkt in Jelzins Herrschaft erwähnt.

Allerdings muss man diese gewaltsame Aktion des ersten russischen Präsidenten, wie die gesamt Jelzinperiode, im historischen Kontext betrachten. Dieses Parlament (so man einen solchen Begriff überhaupt gebrauchen sollte) war nicht, wie Ehlers berichtet, die Duma, sondern der Volksdeputiertenkongress (VDK), der 1990 gewählt wurde – zu einer Zeit als (beim ersten Wahlgang) noch Artikel 6 der sowjetischen Verfassung galt, welcher die führende Rolle der KPdSU festschrieb. Auch hatte in einem Referendum im April 1993 eine Mehrheit der Abstimmenden dem VDK das Misstrauen und sich für eine Neuwahl des Parlaments ausgesprochen (http://www.electoralgeography.com/new/en/countries/r/russia/russia-april-referendum-1993.html).

„Eine für russische Verhältnisse geradezu bizarre Form politischer Selbstdarstellung“

Neuer Siemens Hochgeschwindigkeits-Zug in den russischen Nationalfarben auf dem Bahnhof in St. Petersburg  
Kämpfer der Russischen Nationalen Einheit vor dem Moskauer „Weißen Haus“, Anfang Oktober 1993.
(Foto: http://i.ixnp.com)
 

Zudem war der Erlass Jelzins zur Auflösung des VDK nicht unprovoziert: Jelzin tat diesen Schritt kurz vor einer geplanten Kompetenzbeschneidung und damit faktischen Entmachtung des Präsidenten durch den VDK. Hierbei ist anzumerken, dass Jelzin 1991 zum Präsidenten gewählt wurde, als es bereits ein (freilich noch rudimentäres) Mehrparteiensystem in Russland und reale Alternativen zu Jelzin bei den Wahlen gab (Ryshkow, Shirinowskij, Bakatin, Makaschow). Damit war Jelzins demokratische Legitimation höher als die des VDK und zudem im Aprilreferendum nur wenige Monate zuvor nochmals bestätigt worden.

Letztlich ist anzumerken, dass Parlamentsauflösungen in Demokratien nichts Ungewöhnliches sind. Jelzins Erlass vom September 1993 schaffte nicht den russischen Parlamentarismus ab, sondern ordnete Neuwahlen an. Formal war seine Aktion illegal, vor dem Hintergrund der Ergebnisse des  Aprilreferendums allerdings legitim und im Lichte internationaler Praxis nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war die Reaktion der „Parlamentarier“: Sie verbarrikadierten sich im Parlament, bewaffneten sich, setzten Jelzin als Präsidenten ab und heuerten die neonazistische Schlägertruppe Russische Nationale Einheit von Alexander Barkaschow zur Verteidigung des Parlaments an (siehe Foto). Barkaschows Gruppierung verwendet ein leicht abgewandeltes Hakenkreuz und den Hitlergruß als Parteisymbole (man erkennt die Hakenkreuze auf den Uniformen unten) – eine für russische Verhältnisse geradezu bizarre Form politischer Selbstdarstellung. Dass sich die "Volksdeputierten" nicht zu fein waren, mit solchen, ungeniert als Neonazis posierenden Ultranationalisten gegen Jelzin zu paktieren, spricht Bände über die politische Gesinnung der VDK-Führung. Letztlich waren es die „Parlamentarier“, die zuerst in die Offensive gingen und begannen, Überfälle auf öffentliche Gebäude in Moskau durchzuführen. Jelzins Panzer waren eine Reaktion auf diese bewaffneten Aktionen aus dem Moskauer „Weissen Haus“ (damals der Parlamentssitz). So traurig diese Ereignisse waren: Die womöglich einzig reale Alternative – Jelzins Entmachtung und eine Usurpation der Macht durch die VDK-Führung – wäre wohl noch problembehafteter gewesen und hätte im schlimmsten Fall zu einem richtigen (d.h. nicht nur auf Moskau und wenige Tage beschränkten) Bürgerkrieg geführt.

Jelzin ist eine schwer einzuschätzende historische Figur – ambivalent, im günstigsten Fall. Allerdings war dieser einfache, erst wenige Jahre vor seiner Machtübernahme aus der Provinz nach Moskau gewechselte Mann 1991 im bislang demokratischsten russischen Wahlgang zum ersten Präsidenten des größten Landes der Welt gewählt worden (ausgenommen freilich die – ohnehin letztlich irrelevanten – Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung vom November 1917). Dies geschah in einer der unruhigsten Perioden der neueren russischen Geschichte – einer Ära, die nicht der erste russische Präsident aus dem Ural, sondern das spätsowjetische Moskauer politische und akademische Establishment eingeleitet hatte. Die Geschichte wird, so vermute ich, vor diesem Hintergrund milde über den simplen Jelzin urteilen. Den intelligenteren und formal hochgebildeten Putin dagegen werden Historiker im Lichte der Rahmenbedingungen, auf die der zweite russische Präsident im Jahr 2000 traf, und aufgrund der Ergebnisse, die Putin scheinbar hinterlassen wird, kritischer betrachten.

Die Russlanddebatte im Eurasischen Magazin

EM 11-08

EM 01-09

Russland

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