09.08.2023 13:11:56
UNICEF-WETTBEWERB
Von Juliane Inozemtsev
Bild aus der Serie „Gefährdete Kindheit“, das Irina Popova zum UNICEF-Wettbewerb eingereicht hat. (Foto: Irina Popova) |
m Mittelpunkt der Aufnahmen von Irina Popova stand die damals knapp zweijährige Anfisa, die mit ihren Eltern in der Punkszene von St. Petersburg lebte. Man sieht unter anderem, wie sich das Kind beim Spiel Zigaretten in den Mund steckt, ungesichert aus einem offenen Fenster in die Tiefe schaut oder nachts in einem klapprigen Sportwagen durch die Straßen gezogen wird. Die damals 22-jährige Fotografin (...) wollte mit den Aufnahmen Sozialkritik üben, nannte die Serie „Gefährdete Kindheit“. Von der Jury des Unicef-Wettbewerbes „Foto des Jahres 2009“ bekam sie dafür eine „ehrenvolle Erwähnung“. Es gab aber auch Stimmen, die ihr vorwarfen, das Kind nicht aus dieser Umgebung herausgeholt zu haben. Die Kritik fiel so heftig aus, dass die Fotografin dadurch in eine tiefe persönliche Krise stürzte.
Dabei fing alles scheinbar harmlos an. „Ich war mit meiner Kamera auf Motivsuche, als ich zufällig Lilija, Anfisas Mutter, kennenlernte“ erinnert sich Popova. Lilija hängt an diesem Tag mit anderen auf der Straße herum und ist stark angetrunken. „Sie hatte aber trotzdem etwas sehr Faszinierendes an sich“, sagt die Fotografin. Als sich herausstellt, dass Lilija eine etwa anderthalbjährige Tochter hat, ist Popova nicht besonders schockiert. „Ich bin niemand, der schnell über andere Leute urteilt“, sagt sie.
Popova wird von Lilija nach Hause eingeladen, nimmt an. „Ich wollte eine Art Milieustudie machen“, sagt sie. In der heruntergekommenen Ein-Zimmer-Wohnung trifft die Fotografin auf Lilijas Freund Pascha – Anfisas Vater. Dieser reagiert sehr ungehalten auf die Kamera, doch Lilija kann ihn besänftigen. Das Paar ist gerade in einer extremen Lebensphase, macht Tag und Nacht Party. Popova erinnert sich: „Musik dröhnte pausenlos, es gab Mengen an Alkohol und auch Drogen, ständig gingen Leute ein und aus, einige wurden im Rausch aggressiv. – Es war, als sei ich in der Hölle zu Besuch“, sagt sie. Die kleine Anfisa ist mittendrin, passt sich den extremen Bedingungen so gut an, wie sie kann. „Wenn sie müde war, hat sie sich einfach irgendwo hingelegt und ist eingeschlafen“, sagt Popova. Von dem Lärm habe sie sich nicht stören lassen, so als sei sie daran gewöhnt.
Die Fotografin verkraftet diesen Lebenswandel nicht lange. „Nach einigen Tagen brauchte ich eine Pause“, sagt sie. „Ich hatte kein Auge zugetan, war körperlich, aber auch seelisch völlig erschöpft von den Eindrücken.“ Popova fährt in ihre Unterkunft und schläft sich richtig aus. Danach kehrt sie noch einmal in die Partywohnung zurück. Insgesamt verbringt sie 14 Tage mit der Familie.
Die Fotografin Irina Popova |
Schon während Popova fotografiert, gerät sie emotional in einen Zwiespalt. Einerseits sieht sie, dass Anfisas Eltern in berauschten Zustand nicht mehr die Verantwortung für das Mädchen übernehmen können. Andererseits fühlt sie, dass sie ihr Kind auf ihre Art sehr lieben. Auf einem Bild sieht man, wie Pascha die Füßchen des Mädchens küsst. Für Popova ist es eines der Wichtigsten. Als Fotografin entscheidet sie, nur zu dokumentieren, nicht zu richten.
Nach der Veröffentlichung ihrer Bilder bricht ein Sturm der Entrüstung los. In Internetforen fragen Menschen wütend, wie die Fotografin es habe mit ansehen können, dass ein kleines Kind so lebt. Sie allein trage die Verantwortung, wenn der Kleinen etwas zustoße, schreibt jemand. „Dann fingen die Polizei und Vertreter der staatlichen Behörden an, mich massiv unter Druck zu setzen, damit ich preisgebe, wo Anfisa wohnt“, erzählt Popova. „Ich habe aber nicht nachgegeben, weil ich finde, dass es sich die Behörden damit zu leicht gemacht hätten“, sagt sie.
Es müsse sich in Russland grundsätzlich etwas in der Sozial- und Familienpolitik ändern“, sagt sie. „Solche Familien brauchen Hilfe, nicht dass man sie trennt.“ Im Februar vor einem Jahr ist die Fotografin seelisch auf dem Tiefpunkt. „Ich war sehr deprimiert, die Geschichte begann mich zu erdrücken“, sagt sie. Sie spürt, dass sie sich aus der Situation herausziehen muss, bevor sie selbst abrutscht. Popova kauft sich kurzentschlossen ein Flugticket nach Kuba. Das hilft, der Tapetenwechsel und die Sonne tun ihr gut.
Im Januar dieses Jahres beschließt Popova, die Familie noch einmal zu besuchen. Sie will sehen, wie es der inzwischen dreijährigen Anfisa geht. Von Pascha erfährt sie, dass Lilija die Familie verlassen hat, er kümmert sich seitdem allein um die Tochter. „Ich gebe mir eine Mitschuld daran, dass die Familie zerbrochen ist“, sagt die Fotografin. Aufgrund meiner Bilder wurde Lilija auf der Straße erkannt und beschimpft. „Wahrscheinlich hat sie danach gedacht, Anfisa sei ohne sie besser dran und ist gegangen“, vermutet Popova.
Nun leide das Kind sehr unter dem Verlust. Paschas Leben habe sich inzwischen etwas normalisiert, sagt die Fotografin. Doch gemessen an der Mehrheit der Gesellschaft lebe er immer noch exzessiv. „Immerhin hat er die Kleine aber in einem Kindergarten angemeldet, dort habe ich sie auch fotografiert“, sagt Popova. „Es ging ihr nicht schlecht, aber glücklich wirkte sie nicht.“
Seit kurzem lebt die Fotografin in den Niederlanden. Die Vorstellung, Anfisas Mutter möglicherweise durch ihre kritischen Bilder vertrieben zu haben, belastet sie nach wie vor. „Ich hoffe, Lilija eines Tages wieder zu finden und mit ihr über alles sprechen zu können“, sagt sie. „Erst dann werde ich endlich mit der Geschichte abschließen können.“
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Informationen zum UNICEF-Wettbewerb: http://www.unicef.de/ehrenvolle-erwaehnungen-2009-fot.html
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