Die Russische Geographische Gesellschaft und die Erforschung Asiens„EX ORIENTE LUX“

Die Russische Geographische Gesellschaft und die Erforschung Asiens

Die Russische Geographische Gesellschaft und die Erforschung Asiens

Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der großen Expeditionen russischer Wissenschaftler. Der Osten und Süden des Zarenreiches sollten erforscht und ökonomisch nutzbar gemacht werden. Die Historikerin und Slavistin Eva-Maria Stolberg schildert Verlauf und Erfolge der Entdeckungsreisen.

Von Eva-Maria Stolberg

Die Expansion in fremde Kulturräume führte im 19. Jahrhundert zur Gründung geographischer Gesellschaften in den europäischen Staaten, zunächst in Frankreich 1821, in Preußen 1828 und England 1830. Das russische Zarenreich folgte schließlich 1845. Vor Gründung der Russischen Geographischen Gesellschaft (Russkoe Geografičeskoe Obščestvo /RGO) lag die Organisation von Expeditionen bei der von Zar Peter dem Großen eingerichteten Akademie der Wissenschaften, die sich im 18. Jahrhundert vor allem um die Erforschung Sibiriens verdient gemacht hatte. Eine der größten Expeditionen des 18. Jahrhunderts war die Zweite Kamčatka-Expedition (sog. Große Nordische) in den Jahren 1733-1742.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Expeditionen in das Innere Eurasiens privat von Naturwissenschaftlern organisiert. Einer ihrer Teilnehmer Fedor P. Litke unterbreitete nach seiner Weltumsegelung in den Jahren 1825-1827 dem russischen Innenministerium den Vorschlag, eine staatliche Organisation zur geographischen Erforschung des Russischen Reiches zu gründen. Der Plan geriet jedoch in der St. Petersburger Ministerialbürokratie in Vergessenheit und wurde erst im Mai 1845 vom russischen Innenminister L.A. Perovskij gebilligt. Mit der Gründung der Russischen Geographischen Gesellschaft begann im 19. Jahrhundert Rußlands glanzvolles Zeitalter der Geographie. Die Expeditionen russischer Geographen führten nicht nur in die asiatischen Gebiete Rußlands, sondern auch in die asiatischen Nachbarländer: von Zentralasien bis nach Tibet und China sowie darüber hinaus nach Ozeanien.

Abteilungen der RGO im ganzen Zarenreich

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Malerisch gelegene Siedlung von Holzhäusern im Ural – um 1905  

Die Russische Geographische Gesellschaft wurde direkt dem Innenministerium unterstellt. Nach der Gründungssatzung von 1845 unterhielt die RGO vier Abteilungen: 1) allgemeine Geographie, 2) Geographie Rußlands, 3) Statistik Rußlands und 4) Ethnographie Rußlands. 1851 erfolgte die Gründung zweier regionaler Abteilungen der Geographischen Gesellschaft – der kaukasischen in Tiflis und der sibirischen in Irkutsk. In den nächsten vier Jahrzehnten kamen noch weitere regionale Abteilungen hinzu: in den 1860er Jahren die Orenburgische, und die südwestliche (Vil’no, ab 1872 in Kiev), 1877 die westsibirische Abteilung in Omsk, 1894 die für den russischen Fernen Osten zuständige Priamur-Abteilung (Chabarovsk) und 1897 die Turkestanische (Taškent).

Die Organisationsstruktur der Russischen Geographischen Gesellschaft spiegelte das regionale Bewußtsein, das sich in dem Aufkommen der Heimatkunde (kraevedenie) niederschlug. Es entsprach einer bürgerlichen Wissenschaftskultur, daß die regionalen Abteilungen der RGO bei ihrer Arbeit verstärkt Heimatforscher einbezogen. Geschichte und Geographie erfuhren so eine Popularisierung. Von ihrer wissenschaftlichen Arbeitsweise war die RGO multifunktional angelegt und die Gliederung in regionale Abteilungen sollte der territorialen und ethnischen Verschiedenheit des Russischen Reiches Rechnung tragen. In diesen Prozeß schalteten sich die regionalen Eliten ein. Bereits am 17. November 1851 eröffnete N.N. Murav’ev, der Generalgouverneur Ostsibiriens, die sibirische Abteilung der RGO in Irkutsk. Dies war die Geburtsstunde der sibirischen Heimatkunde, an der Honoratioren und Bürger sibirischer Städte aktiv teilnahmen. Sie zeigten ein starkes Eigeninteresse: die Bevölkerung Sibiriens, aber auch des übrigen Russischen Reiches sollte über die Geschichte des weiten, unbekannten Ostens aufgeklärt werden.

Die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Russischen Geographischen Gesellschaft waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts denkbar günstig. Nach den Großen Reformen von 1861 wie z. B. der Bauernbefreiung erwachte das Interesse der russischen Gesellschaft an der nationalen wie auch regionalen Geschichte. Politisch aufgeklärte Bürger und nicht zuletzt die aus politischen Gründen Verbannten trugen sich mit dem Gedanken, daß die Heimatkunde „volksverbunden“ und damit von ihrem Wesen „demokratisch“ sei. Dies schlug sich im übrigen im Etat der RGO nieder: der staatliche Zuschuß betrug im Jahr 1871 15.000 Rubel, 1896 bereits 30.000 Rubel. Die RGO finanzierte sich jedoch hauptsächlich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden, ohne die eine Feldforschung kaum möglich gewesen wäre. Vor dem Hintergrund der Großen Reformen verfolgten die ethnographischen Studien auch eine politisch-gesellschaftliche Intention. Nach der Bauernbefreiung und Ansiedlung von Kolonisten aus dem europäischen Teil Rußlands in Sibirien, dem Kaukasus und später Turkestan wurden vor allem die Auswirkungen dieser Migration auf die Lebensverhältnisse der indigenen Bevölkerung untersucht, so z.B. die Folgen der Landvergabe für die Viehzucht und der Einfluß der Geldwirtschaft auf die Nomadengesellschaft.

Die russischen Besitzungen: Sibirien, Zentralasien, Kaukasus

Mitte des 19. Jahrhunderts waren noch weite Teile Sibiriens und des russischen Fernen Ostens ein unbekanntes Land. Zu dessen Erforschung trug insbesondere der rußlanddeutsche Wissenschaftler Alexander von Middendorf (1815-1894) bei. In nur wenigen Jahren bereiste er Mittelsibirien, die Baikalregion, Ostsibirien bis zum Amur und Ochotskischen Meer und sammelte dabei reichhaltiges Material zu Geographie, Zoologie, Botanik und Klimatologie, das in den 1860er und 1870er Jahren in dem vierbändigen Werk „Putešestvie na sever i vostok Sibiri“ („Reise in den Norden und Osten Sibiriens“) veröffentlicht wurde. Middendorfs Untersuchungen bildeten die Grundlage für alle weiteren Expeditionen.

Die einsetzende Industrialisierung, die Aufhebung der Leibeigenschaft im Zarenreich und die verstärkte Ansiedlung von Bauern aus dem europäischen Teil Rußlands in Sibirien machten genaue Kenntnisse über die Naturreichtümer der Region erforderlich. Für viele russische Wissenschaftler verbanden sich die Expeditionen in Rußlands unbekannten Osten nicht nur mit Wissensdrang, sondern auch mit Abenteuerlust und Pioniergeist. Der später bekannt gewordene Anarchist Petr A. Kropotkin erinnerte sich an seine Forschungsreise nach Sibirien: „Im menschlichen Leben gibt es nur sehr wenige erfreuliche Momente, die nach langen und harten Entbehrungen – eine Bereicherung des Geistes darstellen. In Sibirien habe ich die Harmonie der Natur studiert, Sibirien ist für mich eine bleibende Schule.“

Die Ergebnisse der russischen Expeditionen waren derart bedeutend, daß sie 1875 auf dem Internationalen Geographenkongreß in Paris dem ausländischen Publikum präsentiert wurden und darüber hinaus in dem Werk des bekannten deutschen Geographen Carl Ritter „Erdkunde Asiens“ Berücksichtigung fanden. Da die Russische Geographische Gesellschaft in Sibirien ihre Mitarbeiter vor allem aus der aufgeklärten Intelligenzia und den politischen Verbannten rekrutierte, entwickelte sie reformerischen Anspruch, der vor einer Kritik an der russischen Kolonialherrschaft in Sibirien nicht halt machte. Zwei prominente Mitglieder der sibirischen Abteilung der RGO, Grigorij N. Potanin und Nikolaj M. Jadrincev, bezeichneten die gewaltsame Einverleibung Sibiriens in das Russische Reich als historischen Fehler.

Ähnlich wie Sibirien stellte auch die südliche Peripherie des Zarenreiches im 19. Jahrhundert eine terra incognita dar. Die wilden Gebirgslandschaften und orientalischen Völker des Kaukasus und Zentralasiens erregten das Forschungsinteresse russischer Wissenschaftler. Unter dem Einfluß der Darwinschen Lehre stellten Biologen wie N.A. Severcov die These auf, daß die besonderen klimatischen Bedingungen im Kaukasus und Zentralasien eine reichhaltige Flora und Fauna haben entstehen lassen.

Asien jenseits der russischen Grenzen

 
Blick ins Tal des Amurflusses, der heute über weite Strecken die Grenze Sibiriens zu China bildet – um 1890.  

Bereits kurz nach ihrer Gründung organisierte die Kaukasus-Abteilung der Russischen Geographischen Gesellschaft in den 1850er Jahren eine Expedition unter Leitung von N.V. Chanykov in den Norden Persiens. An 30 Orten wurden 100 astronomische Beobachtungsstationen eingerichtet, ferner Untersuchungen zum Klima und Erdmagnetismus vorgenommen. Im Elbrus-Gebirge sammelten die Forscher fast 2.000 Pflanzen. Die Ergebnisse der ersten Persien-Expedition wurden 1874 in russischer Sprache veröffentlicht.

In den 1880er Jahren und um die Jahrhundertwende folgten weitere Expeditionen in das „Land des Pfauenthrons“. Die russische Wissenschaft wurde damals geradezu von einer Faszination für den Orient erfaßt. Bereits in den 1850er Jahren hatte sich der kasachische Gelehrte Čokan Valichanov (1835-1865) um die Erforschung Zentralasiens verdient gemacht. Er beherrschte die türkische, russische, darüber hinaus auch die französische und deutsche Sprache. Vielseitig waren seine Forscherinteressen, die von der Folklore der Turkvölker Zentralasiens bis zur Geologie reichten. Besonders bemerkenswert ist seine These von einer Verwandtschaft der Flora und Fauna Zentralasiens mit der Sibiriens, die seiner Ansicht nach durch gleiche klimatische Bedingungen geprägt worden seien. Nach den Worten des sibirischen Gelehrten Nikolaj M. Jadrincev verband Čokan Valichanov in seinem Schaffen europäische Bildung mit der Achtung vor der Tradition und Geschichte der Turkvölker Zentralasiens.

Ein anderer bedeutender Erforscher Zentralasiens war Nikolaj M. Prževal’skij, der in den Jahren 1870 bis 1873 auf dem Weg in die Mongolei mit seiner Karawane insgesamt fast 12.000 Kilometer zurücklegte. 1879/1880 folgte seine erste, 1883-1885 seine zweite Expedition nach Tibet. Von seinen Forschungsreisen sind Tagebuchaufzeichnungen erhalten, in denen der Gelehrte detailliert die Arbeiten der Expedition und ihre Marschrouten in bisher unbekannte Regionen Zentralasiens festhielt. Wie auch andere russische Forscher empfand Prževal’skij beim Anblick der zentralasiatischen Steppen und Wüsten die Freiheit und die Einfachheit des Lebens in der Wildnis. Auf seiner letzten Forschungsreise starb Prževal’skij am 20. Oktober 1888 an Typhus.

Auf seinen Expeditionen sammelte Prževal’skij 1.700 Pflanzenarten sowie einige Tausend Vögel und Säugetiere. Das in Zentralasien weit verbreitete Wildpferd wurde nach ihm benannt. Nach dem Tod Prževal’skijs trat sein Schüler Petr K. Kozlov das Erbe an. In den Jahren 1907-1909 unternahm Kozlov eine Expedition zur legendären Stadt Kara-Koto,

im 13. und 14. Jahrhundert Zentrum des Tangutenreiches. Sie liegt im Gebirgszug des Gobi-Altais, nordwestlich der heute mongolischen Stadt Dalan-Ozadgad. Bei den Ausgrabungen wurden wertvolle Funde freigelegt: Waffen, Münzen und Kunstgegenstände. Einem anderen russischen Gelehrten, N.A. Nevskij, gelang es, ein tangutisches Dokument zu übersetzen. Später gab er auch ein Wörterbuch der tangutischen Sprache heraus. Ähnliches leistete auch Dmitrij A. Klemenc, der in der Oase von Turfan alte buddhistische Schriften entdeckte.

Geographie und Ökonomie: Die wirtschaftliche Bedeutung der russischen Asien-Expeditionen

Auch wenn die wissenschaftlichen Leistungen russischer Asienforscher unbestritten sind, so wurde im Zarenreich des 19. Jahrhunderts – nicht anders als in anderen europäischen Staaten – die Geographie nicht des reinen Erkenntniswertes betrieben, sondern hatte einen ökonomischen Nutzen zu erbringen. Im Zeichen der Industrialisierung und der wirtschaftlichen Verflechtung mit ausländischen Märkten wurde das Erschließen von Rohstoffen und das Ausweiten der Agrarflächen zu einer zentralen Frage. Der Geograph Alexander I. Voejkov (1842-1916) vertrat die Ansicht, daß man in Sibirien verschiedene Getreidearten kultivieren und Millionen von Menschen ernähren könnte. Auch stellte er die These auf, daß Regionen wie z.B. Zentralasien mit seinen ausgedehnten Wüsten in ihrem Zivilisationsgrad zurückgeblieben seien, jedoch durch umfangreiche Bewässerungssysteme sich zu Hochkulturen entwickeln könnten.

„Die drei Welten des eurasischen Kontinents“

Voejkov wurde in Rußland mit seiner Lehre ein entscheidender Wegbereiter der ökonomischen Verwertbarkeit der Natur. Er legte die Grundlagen für die moderne Wirtschaftsgeographie. Ökonomie wurde dabei als ein Mittel des Menschen angesehen zur Beherrschung der Natur. Vladimir I. Lamanskij nannte in seinem Werk „Die drei Welten des eurasischen Kontinents“ noch ein anderes – die Kultur und wurde mit dieser Ansicht zu einem Begründer der Kulturgeographie. Lamanskij unterschied auf dem eurasischen Kontinent drei Kulturkreise: der römisch-germanische (katholisch-protestantische), d.h. das eigentliche Europa, Asien mit seinen Hochkulturen Naher Osten, Indien, Persien, China und Südostasien und schließlich eine „mittlere Welt“, wo Europa endet und Asien noch nicht beginnt – Osteuropa, der Balkan, die Türkei und der Kaukasus. Kulturelles Zentrum der „mittleren Welt“ sei Rußland.

Die Tatsache, daß Rußland eine eurasische Macht darstellt, erklärt das starke Interesse russischer Geographen des Zarenreichs am benachbarten Asien und ihren konstruktiven Beitrag zur Erforschung dieses Raumes. Mit der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg erlebte die russische Geographie einen Einbruch. Zwar standen Mitte der zwanziger Jahre im Zuge der wirtschaftlichen Erholung wieder finanzielle Ressourcen für die Erforschung Asiens zur Verfügung, doch erreichte die sowjetische Geographie nie die glänzenden Erfolge des Zarenreiches.

Die bolschewistische Ideologie ließ nur wenig Freiräume, machte aus Forschern Funktionäre. Das von russischen Geographen im 19. Jahrhundert entwickelte „eurasische Zivilisationsmodell“ wurde zur sowjetischen Zeit von der marxistisch-leninistischen Gesellschaftslehre in den Hintergrund gedrängt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erfährt die Geographie und mit ihr das „eurasische Zivilisationsmodell“, das sich als Gegenmodell zum „westlich-atlantischen Zivilisationsmodell“ versteht, eine Renaissance. Seit den neunziger Jahren bestimmen geographische Denkkategorien den politischen Diskurs in Rußland. Nicht zuletzt zeigte sich dies 1995 anläßlich der 150-Jahr-Feierlichkeiten der Russischen Geographischen Gesellschaft.

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Der Beitrag beruht auf einer Recherche, die die Autorin 2004 im Archiv der Russischen Geographischen Gesellschaft in St. Petersburg durchführte. Dr. Eva-Maria Stolberg lehrt am Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn.

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