09.08.2023 13:11:56
RUSSISCHE MEDIEN
Von Ulrich Heyden
ringend! Am Staudamm sterben Leute.“ Mit diesem Hilferuf wandte sich der Chefredakteur der südsibirischen Internetzeitung „Nowyj Fokus“, Michail Afanasjew, am 18. August an die Öffentlichkeit. Das war einen Tag nachdem in den Turbinen-Saal am Staudamm Sajano-Schuschensko die kalten Wassermassen des Jenessej gestürzt waren. Offenbar wegen einer veralteten Turbine, war es in dem Elektrizitätskraftwerk zum Wassereinbruch gekommen. 71 Kraftwerk-Arbeiter und Techniker ertranken.
Wie der Journalist Afanasjew erklärte, hatten Angehörige von vermissten Arbeitern, ihn um den öffentlichen Hilfe-Aufruf gebeten. In einigen Räumen in der Nähe der zerstörten Turbinen-Halle seien Klopfzeichen gehört worden. Dort gäbe es noch Überlebende, schrieb der Journalist in seinem Internet-Artikel. Durch eine andere Wasser-Regulierung am Staudamm, könne man den Wasserspiegel in der überfluteten Turbinen-Halle senken und Menschenleben retten. Tatsächlich wurden in den Trümmern des Turbinen-Saales unmittelbar nach der Katastrophe noch zwei Überlebende gefunden, wie eine Sprecherin des russischen Notstands-Ministeriums mitteilte.
Die Behören fürchteten nach der Katastrophe eine Panik in dem nahe gelegenen Ort Abakan. Der Hilfe-Aufruf in der Internet-Zeitung passte nicht in das Konzept der Behörden, denen es vor allem darum ging, die Menschen in der Region zu beruhigen. Die Staatsanwaltschaft lud den Journalisten Afanasjew zum Verhör, seine Wohnung wurde von Ermittlern durchsucht. Schließlich leitete die Anklagebehörde ein Strafverfahren wegen Verleumdung von staatlichen Stellen und der Kraftwerksleitung. „Mein Computer und alle Disketten und Flash-Datenträger wurden beschlagnahmt“, erzählt der Journalist gegenüber „Radio Svoboda“.
Nach dem Bericht von Ilja Barabanow, einem Kollegen von Afanasjew, im Info-Radio „Echo Moskwy“, hatten staatlichen Stellen dann versucht, Afanasjew zu einer öffentlichen Entschuldigung zu bewegen, doch Journalist Afanasjew ließ sich auf keinen Tauschhandel ein. Zwei Wochen nach Eröffnung des Strafverfahrens wurde das Verfahren dann ohne Angaben von Gründen eingestellt.
Doch damit waren die Unannehmlichkeiten für den Journalisten Afanasjew noch nicht beendet. Am 9. September wurde er in der Nähe seiner Wohnung von zwei Unbekannten von hinten angefallen und geschlagen. Der Überfallene vermutet, dass dies mit seiner öffentlichen Kritik zu tun hatte.
Westliche Medien nahmen kaum Notiz von dem Vorfall. Wenn es nicht gerade ein Journalisten-Mord ist, erfährt die westliche Öffentlichkeit wenig über den Alltag von Journalisten in den russischen Regionen. Diese Lücke schließt der kürzlich von „Reporter ohne Grenzen“ (ROG) veröffentlichte Bericht „Helden und Handlanger“. Fünf deutsche Journalisten untersuchten die Situation der Regional-Medien zwischen Moskau und Wladiwostok. Die Untersuchung liefert ein differenziertes Bild. Danach gibt es in Russland trotz aller Versuche der Gängelung durch Beamte und der Einflussnahme von Geschäftsleuten durchaus noch unabhängige Regionalzeitungen. Die Verlagshäuser, welche unabhängige Zeitungen herausgeben, fahren folgende Strategie: Um der gedruckten Zeitung das Überleben zu ermöglichen, nimmt man Geld vor allem mit „unpolitischen“ Druckerzeugnissen ein, wie Hochglanzmagazinen und Werbezeitungen.
Laut Studie hat sich bei vielen nichtstaatlichen Regional-Zeitungen die Praxis etabliert, dass Regierende oder Geschäftsleute über so genannte „Informationsverträge“ Artikel in Auftrag geben. Als „Image-Reklame“ bezeichnete Werbe-Artikel für einen Politiker oder Geschäftsmann tauchen im Redaktionsteil der Regionalzeitungen auf und sind für den Leser nicht als solches zu erkennen. Derartige Praktiken gibt es auch bei Internet-Zeitungen und beim Fernsehen. So hat der Fernsehkanal „Poisk TV“ in der nordwestlich von Moskau gelegenen Stadt Klin mit dem Bürgermeister einen „Informationsvertrag“ abgeschlossen, nachdem der Kanal pro Quartal 960 Minuten über die Tätigkeit der städtischen Regierungs-Organe zu berichten hat. Nach Schätzung eines in der Studie zitierten Experten, sind 80 Prozent des Inhaltes von Internetzeitungen „bezahlte Artikel“.
Häufig nutzen Geschäftsleute Regionalzeitungen auch, um Konflikte mit staatlichen Verwaltungsorganen auszutragen, wobei man sich auch schon mal als Sprachrohr einer Bürgerinitiative präsentiert, wie die Zeitung „Soglasije i Prawda“ in der Kleinstadt Klin. Trotz der massiven Einflussnahme von Geschäftsleuten und Beamten gibt es laut ROG-Studie in Russland unabhängige Medien, die „niemals auch nur einen einzigen Rubel aus Informationsverträgen mit staatlichen Stellen erhalten haben.“ Die Situation der Medien in Russland ist also nicht völlig hoffnungslos.
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Zur Information der Bericht von Reporter ohne Grenzen im Internet:
http://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/rte/docs/2009/ROG-Atlas.pdf
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