Russland hat noch einen langen Weg vor sichRUSSLANDDEBATTE

Russland hat noch einen langen Weg vor sich

Russland hat noch einen langen Weg vor sich

Wer nur den augenblicklichen Stand der russischen Entwicklung sieht und daraus auf seine Demokratiefähigkeit schließt, macht es sich zu einfach, erklärt Wladislaw Below. Der russische Wirtschaftsfachmann sieht für sein Land eine Aufwärtsentwicklung voraus, die kaum vorhersehbar und mit der anderer Länder nicht vergleichbar ist. Denn, so Below: Russland ist in vielerlei Hinsicht ein einmaliges Land.

Von Wladislaw Below

  Zur Person: Wladislaw Below
  Dr. Wladislaw Below ist Leiter des Zentrums für Deutschlandforschung an
der Akademie der Wissenschaften in Moskau.
Wladislaw Below  
Wladislaw Below  

Z unächst muss ich bemerken, dass ich kein Politologe, sondern Ökonom bin und die in Russland sowie in seiner nächsten Umgebung vor sich gehenden Prozesse durch ein politökonomisches Prisma betrachte, welches es erlaubt, Probleme der Demokratisierung und Transformation aus der Sichtweise der Interessen einzelner Bürger, ökonomischer Akteure, sowie Gruppierungen und Regionen zu beurteilen.

Mit Interesse habe ich mich mit den Ausführungen von Dr. Dr. Andreas Umland bekannt gemacht, welche man als eine kritisch-theoretische Analyse zweier grundlegender Perioden in der Entwicklung Russlands – der Jelzinschen und Putinschen – auffassen kann. In deren Rahmen charakterisiert der Autor das Wesen der wichtigsten politischen, sowie ökonomischen Umwandlungen. Er stellt seine subjektiven Bewertungen mit „Minus-“ und „Pluszeichen“ vor, und betrachtet sie aus der Perspektive der westlichen Kriterien für Demokratie. In seiner Kritik geht Dr. Umland davon aus, dass man unter anderen Umständen vieles hätte besser machen können. Vielleicht, möchte ich sagen, vielleicht  hätte man es besser machen können - vielleicht aber auch nicht.

Ein Vielvölkerstaat mit 80 Regionen – einmalig in der Welt

Das Problem besteht darin, dass Russland tatsächlich ein in vielerlei Hinsicht einmaliges Land ist – historisch, geographisch-räumlich, staatlich. Der Transformationsprozess in einem Vielvölkerstaat mit mehr als 80 Regionen (1) ist per Definition unikal und ohne Entsprechungen in der Weltgeschichte.

Der Transformationsprozess in Russland kann nur widersprüchlich ablaufen. Er kann nicht schnell vonstatten gehen oder vorhersehbar sein. Er kann nur so sein, wie er auch vor sich geht – mit Aufstieg und Abstieg, vorwärts schreitend und zurückfallend, mit liberalen und zentralistischen Tendenzen, mit Wendungen in Richtung Mehrparteien- und Einparteiensystem. Diese Liste widersprüchlicher Tendenzen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten könnte man fortsetzen, u. a. bezugnehmend auf die von Dr. Umland erwähnten kritischen Punkte der kurzen postsowjetischen Zeitgeschichte Russlands.(2)

Ich denke jedoch, dass nur die Geschichte Antwort geben kann bezüglich der realen „Plus-“ und „Minuspunkte“ der Jelzinschen, Putinschen und folgenden Regierungsperioden, sowie deren Rolle bei der Erhaltung der Einheit Russlands als Föderalstaat, der Errichtung von Demokratie und der Schaffung der Grundlagen für eine Marktwirtschaft. Ebenso wird die Geschichte zeigen, welche konkreten Interessen die Außenwelt hatte. Interessen an einer realen Demokratisierung Russlands und Schaffung der Voraussetzungen (auch der äußeren) für die Durchführung effektiver politischer und ökonomischer Reformen als Fundament für Russlands Macht, aber auch des Wohlstandes seiner Bürger. Beziehungsweise wo Interessen eher auf „demokratische“ zentrifugale Prozesse und die Entstehung neuer Völkerrechtssubjekte auf dem Territorium des einheitlichen russischen Staatsraumes gerichtet waren.

Es ist eine Partei der Macht entstanden

Ja, die Demokratisierungsprozesse in unserem Land wurden unter Putin offensichtlich gebremst. Es ist eine Partei der Macht entstanden, der Staat verstärkt seine Kontrolle von Schlüsselsektoren der Wirtschaft, Föderalismus wird ersetzt durch Zentralismus, und die wichtigsten Massenmedien sind unter der Kontrolle des Kremls, sowie des Weißen Hauses in Moskau.(3)
Jedoch scheint mir heute nicht die Diskussion um Putins Rolle am interessantesten,(4) sondern die Frage nach den künftigen politischen und ökonomischen Prozessen in Russland: Was wird kurz-, mittel- bzw. langfristig passieren? Welche Tendenzen werden dominieren? Eine Antwort auf die Mehrzahl derartiger Fragen gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Die Zahl möglicher Entwicklungsszenarien geht in die Dutzende. Und das ist fruchtbarer Nährboden für zahlreiche Expertendiskussionen, einschließlich derjenigen auf den Seiten des hiesigen verehrten Publikationsorgans.

Es macht Sinn, wie dies auch Dr. Umland tut, anzusetzen bei der heutigen Ausgangssituation. Negativa gibt es aus Sicht der demokratischen Prozesse im modernen Russland ausreichend. Diese Negativa anzufechten bzw. ihre Gründe und Funktionen zu erklären, ist möglich, aber nicht mein Ziel. Ich meine, dass es Sinn macht, sich vielmehr die positiven Momente anzusehen und zu analysieren, welche konstruktiven Voraussetzungen für künftige demokratische Prozesse es im heutigen Russland gibt. Sogleich sei angemerkt: Ich bin überzeugt, dass sich der Demokratisierungsprozess fortsetzen wird, jedoch wird er sich in zeitlicher Hinsicht und bezüglich der Abfolge einzelner Elemente, Instrumente und Institute unvorhersehbar entwickeln.

Mehr noch, viele positive Prozesse finden schon heute statt, auch wenn sie manchmal unbeachtet bleiben. Und darin, dass Russland einen eigenständigen Weg beschreitet, ist nichts Verwunderliches oder Unnatürliches. Dies bezieht sich nicht auf das Ausdenken von neuen russischen Bezeichnungen von Demokratie, sondern auf die erwähnte Einmaligkeit unseres Landes. Ein anderes solches Land gibt es einfach nicht.(5) Aber es gibt internationale Erfahrungen, die Russland bestrebt ist zu berücksichtigen. Und es gibt etliche Chancen und Risiken auf diesem Weg. Über die Risiken und Negativa ist viel gesagt worden. Aber welche Chancen hat Russland? Dr. Umland sagt gar nichts hierüber. Deshalb werde ich hier einige von ihnen nennen. Der Leser kann – soweit sie oder er will – diese Liste fortsetzen.

Die russische Zivilgesellschaft

Unabhängig von den Entscheidungen, die im Kreml oder Moskauer Weißen Haus gefällt werden,(6) nimmt die Formierung der Bürgergesellschaft ihren Fortgang und wurde bisher nicht für einen Tag unterbrochen. Über das Land verteilt gibt es hunderttausende Vereinigungen, die die verschiedensten – auch politischen und ökonomischen – Interessen in den unterschiedlichen Regionen vertreten. Einige von ihnen entwickeln sich dynamisch, andere zerfallen, wieder andere existieren nur formal, und es entstehen neue. Interessengruppen vereinigen sich auf der Grundlage beruflicher, regionaler oder föderaler Anliegen. Mit einem Wort: Die Entwicklung geht voran.

Was ist hieran wichtig? Wichtig ist, dass man in der Lage ist, die Interessen der Mitglieder dieser Gruppen zu erörtern, die wichtigsten Interessen zu aggregieren, sie nach außen zu vertreten und zu verteidigen, sowie – als höchste Form der Tätigkeit solcher Gruppen – die aggregierten Interessen durch Lobbyarbeit zu implementieren. Interessengruppen sind eine der Grundlagen moderner Zivilgesellschaften und eine der wichtigsten Demokratieschulen. Viele russische Bürger durchlaufen unabhängig vom Staat diese Schule schon heute.

Was ist hier noch notwendig? Man braucht professionelles Verbandsmanagement, welches erlernt werden muss. Daran fehlt es bisher (manchmal auch in westlichen Ländern). Die europäischen und insbesondere deutschen Erfahrungen sind hier wichtig und nützlich,(7) und – ich erwähne es nochmals – diesbezüglich jede Art von Interessenvereinigungen. Hier muss man auch solche Phänomene wie Bürgerinitiativen miterwähnen, die immer zahlreicher werden. Sie entstehen in jenen Sphären, wo der Staat abrupt die Interessen einer großen Gruppe von Bürgern verletzt. Die Bürger lernen organisiert zu protestieren, sich demokratisch auszudrücken und ihre Forderungen einzubringen. Eines der jüngsten Beispiele hierfür sind die organisierten Proteste in einigen russischen Regionen gegen die für den 1. Januar 2009 angekündigten Erhöhungen der Einfuhrzölle für ausländische Fahrzeuge.

Das Gerichtssystem

Auch hier ist ein Prozess im Gange. Erstens nutzen reale und juristische Personen selbst das existierende uneffektive und unterentwickelte System immer aktiver, um ihre gesetzlich fixierten Rechte zu wahren – unter anderem bei Auseinandersetzungen mit staatlichen Strukturen (wobei anzumerken ist, dass das Rechtssystem sich insgesamt auf eine – zumindest auf dem Papier – durchaus effektive gesetzgeberische Basis stützt). Hier ist eine breitere Beleuchtung der „besten Vorgehensweisen“ notwendig (z.B. im föderalen Fernsehen, wo bereits verschiedene Gerichtsprozesse inszeniert werden, was für viele Zuschauer eine Art „juristische Alphabetisierung“ darstellt). In jedem Fall gibt es in Russland nicht nur das so genannte Basmannyj-Recht.

Zweitens ist hier der Wunsch des russischen Präsidenten Medwedjew zu erwähnen, das Rechtssystem zu reformieren und effektiver zu machen. Unter anderem benötigt man hierfür Fachleute, d.h. eine neue Generation von Juristen (was die Frage nach der Reform des Hochschulwesens berührt) und ein qualitativ neuwertiges System der Fortbildung der jetzigen Mitarbeiter des Gerichtswesens (einschließlich Gastaufenthalte in westlichen Ländern, insbesondere in Deutschland). Auch diesbezüglich kann man heute schon vieles im Rahmen der russisch-europäischen und russisch-deutschen Zusammenarbeit tun. In jedem Fall gibt es genug Möglichkeiten derartige Reformen durch eine entsprechende Ausbildung konkreter Personen zu beginnen.

Die Mentalität der russischen Bürger

Es ist wichtig zu erkennen, dass – ungeachtet der Zentralisierung und Ideologisierung der wichtigsten Massenmedien – der Prozess der Neuformierung des Bewusstseins der russischen Bürger Gestalt annimmt. Dieser Prozess ist meiner Ansicht nach nicht mehr zu stoppen. Die russische Mentalität war stets kontextabhängig. Zu sowjetischen Zeiten versuchten die Bürger zu verstehen: Was wollte das Politbüro des ZK der KPdSU uns wirklich mitteilen? Was verbirgt sich hinter den Zeilen dieses oder jenes Dokuments usw.? Anders ausgedrückt: Wichtig ist, dass Freidenkertum oder, um genauer zu sein, kritisches Denken keinesfalls der russischen Mentalität fremd sind, wie es manchmal im Westen dargestellt wird. Die Russen nehmen die sie umgebende Realität, sowie die örtliche und zentrale Macht durchaus kritisch wahr, und dies bildet einen geeigneten Nährboden für eine konstruktive Rezeption demokratischer Ideen.

Der russische Bürger als Individuum

Dieses ist noch ein Grundbestandteil des Prozesses, der unsichtbar bleibt, aber sich aktiv entwickelt und eng verbunden ist mit den zuvor genannten Punkten. Die Russen haben in den letzten eineinhalb Jahrzehnten verinnerlicht, dass sie Rechte haben. Das hängt vor allem mit der Konsumsphäre zusammen, wo schon lange das Prinzip gilt: „Der Kunde hat immer Recht.“ Und das Bewusstsein dessen, dass „ich kein bibbernder Untertan bin, sondern Rechte habe“, breitet sich ununterbrochen auf andere Lebensbereiche des Bürgers aus, wo sie oder er sich immer stärker als eigenständige Persönlichkeit, als Individuum sieht, welches über eine ganze Zahl ihr oder ihm durch das Gesetz gesicherter Rechte verfügt, die – nach ihrer oder seiner Meinung – vom Gesetzgeber nicht nur garantiert, sondern auch verteidigt werden müssen. Und dieses Selbstverständnis verwandelt sich mit der Zeit in bestimmte Forderungen der Bürger. In der Zukunft wird sich dieses Verstehen um einfache Rechte in Fragen (des Konsums) in ein Verständnis des notwendigen Besitzes und Schutzes auch komplizierterer Rechte entwickeln: der Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit usw. Sie werden sich mit Sicherheit auch auf das politische Verhalten dieser Individuen auswirken, einschließlich dem Verhalten bei Wahlen. Ich denke, das ist einer der wichtigsten Prozesse, der heute in den Köpfen der Russen stattfindet.

Der Mittelstand

Ungeachtet aller Krisen der letzten Jahrzehnte, einschließlich der heutigen internationalen Finanzkrise, entwickelt sich die Klasse des Mittelstandes folgerichtig weiter und wächst sowohl in absoluter als auch relativer Hinsicht. Zudem entwickelt sich der Mittelstand in einer für ihn unwirtlichen Umgebung (siehe hierzu die Hauptargumente Dr. Umlands). Bezieht man letzteres auf die unternehmerischen Vertreter des Mittelstandes, so betrifft dies vor allem Korruption, administrativen Druck (Medwedjew: „Man muss aufhören, das Unternehmertum in Angst und Schrecken zu versetzen.“), Abwesenheit realer (und nicht nur formaler) staatlicher Unterstützung usw.

Für andere Vertreter des Mittelstandes gilt dies auch noch bezüglich der wiederholten Entwertung ihrer Sparguthaben, sowie der Kürzung ihrer Einkommen unter den Bedingungen aktueller Krisen oder des Verlustes des Arbeitsplatzes. Aber Krisen und eine unwirtliche Umgebung haben auch den positiven Effekt, dass die russische Mittelschicht Auswege aus solchen Situationen sucht und in der Regel konstruktive bzw. kreative Lösungen findet, die sie auf eine qualitativ neue Stufe ihrer Entwicklung hebt.

Dies ist noch ein Bestandteil der russischen Mentalität – die Neigung und die Fähigkeit, unter Bedingungen von Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit arbeiten zu können (bezüglich der Besonderheiten nationaler Kulturen verweise ich auf den holländischen Soziologen Geert Hofstede).

Der Mittelstand lässt sich nicht mehr für dumm verkaufen

Viele kleine und mittlere Unternehmer können die heutige Krise überleben, und dies auch ohne die (leider abwesende) Hilfe des Staates, welcher seine Hauptmittel zur Unterstützung von Großunternehmen verwendet. Die Vertreter dieses Mittelstandes stellen den am aktivsten denkenden Teil der russischen Gesellschaft dar, welcher nur schwer ideologisch bearbeitet bzw. für dumm verkauft werden kann. In der Zukunft wird dies das Fundament einer neuen politischen Partei oder neuer politischer Parteien sein, wobei unwichtig ist, wie sie heißen und auf welcher Grundlage sie entstehen wird oder werden. Wichtig wird sein, dass dies ein neuer Inhalt sein wird, der die politisch-ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder und Wählerschaft reflektieren wird.

Übrigens muss betreffs der russischen Parteien gesagt werden, dass es Parteien im eigentlichen Sinne des Wortes in Russland nicht gibt. Es gibt entweder künstlich geschaffene Pseudoparteien oder Überbleibsel der früheren Parteien oder aber Formationen, die sich um einen Führer herum gruppieren. (Der Leser kann die entsprechenden Namen selbst eintragen.) Nicht eine dieser Organisationen hat eine wirkliche Parteibasis. Es fehlt die Initiative von unten, eine aktive Schicht vor Ort, deren Graswurzelarbeit durch die Ideologie der betreffenden Partei motiviert wird. Es fehlt die Ideologie selbst. Reale Arbeit mit der Bevölkerung – insbesondere auf der Stadt- und Gemeindeebene – findet nicht statt. Die heutigen Parteifunktionäre haben keine Erfahrungen, was die Arbeit mit Grundorganisationen betrifft. Eine Nachwuchsreserve wird nicht herangebildet. Die Bevölkerungen nimmt an Wahlen teil unter dem Motto: „Hauptsache, es wird nicht schlimmer.“(8) Die heutige Existenz einer Partei der Macht und minoritären Opposition in Russland ist lediglich eine Übergangsperiode zu einer künftigen Vertretung realer politischer, sozialer und ökonomischer Interessen im Parlament. Wer diese Interessen wie vertreten wird, ist heute noch nicht absehbar.

Die russischen Regionen

Ungeachtet aller Versuche Moskaus, die Verwaltung der Regionen zu zentralisieren (u. a. durch die Schaffung von Föderalbezirken), setzt sich die Entwicklung des regionalen Selbstbewusstseins, sowie der regionalen Selbstidentifikation auch auf interregionaler Ebene (Wolgagebiet, Uralvorland, Ural, Sibirien, Ferner Osten usw.) fort. Dies betrifft sowohl die Formierung der örtlichen politischen und ökonomischen Eliten als auch die Wiederherstellung regionaler Kultur und Besonderheiten, die häufig von der Sowjetmacht vernichtet wurden (vor allem in den russischen Regionen; in den nationalen nichtrussischen Regionen wurde in der Regel die nationale Spezifik in vieler Hinsicht berücksichtigt und unterstützt).

Die von Moskau eingesetzten Gouverneure wechseln meist schnell auf die Seite der örtlichen Interessengruppen und beginnen, die Interessen der Regionen im Zentrum zu vertreten. Jede der Regionen möchte seine Selbständigkeit wahren und tritt gegen eine Vergrößerung der Föderationssubjekte der RF auf, obwohl dieser Prozess im Prinzip notwendig ist. Mit anderen Worten: Das Fundament und die Voraussetzungen für einen effektiven politischen und ökonomischen Föderalismus existiert und entwickelt sich auf der Ebene der Regionen.

Unter Putin hat sich das reale Potential des Föderalismus nicht verringert – die Regionen haben es auf der Ebene ihrer Eliten erhalten. Dmitrij Medwedjew ist bereit, diesen Prozess zu unterstützen, z.B. durch eine Reformierung der Wahl der Mitglieder des Föderationsrates. Es gibt gute Voraussetzungen für die Fortsetzung der sich herausbildenden Standortkonkurrenz zwischen den russischen Regionen. Die Erfahrung der Kalugaer Region bei der Gewinnung von Investoren auf ihrem Territorium unter Zuhilfenahme des deutschen Standortinstrumentariums ist in dieser Hinsicht erhellend. Eine effektive Standortpolitik kann ein zusätzliches Instrument der regionalen Entscheidungsträger werden, welches die Mechanismen der vertikalen und horizontalen Angleichung ergänzt und eine weitere Grundlage für die ökonomische Selbstständigkeit der Regionen schafft.

Alle beschriebenen Prozesse (und ihre Liste ist keineswegs vollständig), die auf der Ebene einzelner Bürger, ökonomischer Akteure und Regionen stattfinden, entwickeln sich parallel zu all denjenigen „negativen“ Prozessen, die Dr. Umland beschreibt. Es ist notwendig, sie tiefer zu analysieren und in Szenarien für eine künftige demokratische Entwicklung Russlands einzubeziehen.

*

(1) Bemerkenswert ist, dass, wenn man russischen Experten die Frage nach der aktuellen Zahl der „Bundesländer“ in Russland stellt, man selten eine genaue Antwort bekommt.

(2) Ich stehe dem Standpunkt, den Kai Ehlers in seiner Kritik Umlands dargelegt hat, nahe. Deshalb werde ich seine meist kritischen Aussagen nicht noch einmal wiederholen und schließe mich ihnen an.

(3) Unter den Bedingungen der weltweiten Finanzkrise stellte sich die Rolle des russischen Staates als wirtschaftlicher Hauptakteur unvermittelt als positiv heraus und wurde dominant. Dabei gibt es derzeit keine Alternative zur Rolle des Staates unter den heutigen krisenhaften Bedingungen – weder in Russland noch in anderen Staaten der Welt. (Übrigens wünsche ich der der ukrainischen Wirtschaft eine effektive Unterstützung von Seiten des Staates und eine baldige Überwindung der Krisensituation. Die vergleichende Analyse der Ergebnisse solcher Unterstützung in der Ukraine und in Russland könnte eine neue Debattenrunde eröffnen.)

(4) Hier ist die Lage der Dinge weit komplizierter, und Dr. Umland umgeht aus irgendwelchen Gründen viele in Russland existente Machtprobleme, vereinfacht sie und führt sie auf die Persönlichkeit Wladimir Putins zurück.

(5) Selbstverständlich ist jedes Land der Welt auf seine Art einmalig. Ich meine hier die einzigartige Summe an Faktoren, welche Russland unikal macht.

(6)  Es bringt wenig, sich immer nur auf das bekannte Gesetz, welches die Entwicklung der NGOs behindert, zu fixieren.

(7) Das Interesse an deutschen und europäischen Erfahrungen betreffs Verbandsmanagement ist bei den russischen Vereinen und Verbänden hoch. Was zu tun bleibt, ist die Übertragung dieser Erfahrungen zu organisieren.

(8) Mir scheint, dass sich das Parteikonzept in der heutigen Welt oder zumindest die Rolle der Parteien in der modernen Gesellschaft grundsätzlich verändert hat. Traditionelle Parteien haben sich überlebt. Fast alle traditionellen Parteien des Westens befinden sich in einer Krise und Suche nach einer neuen Identität. Parteifunktionäre werden durch bestellte Manager ersetzt, denen egal ist, für welche Partei sie arbeiten. Bei der Bevölkerung wächst die Apathie bezüglich Parteien. Bei Regionalwahlen tauchen immer öfter nichtparteiförmige Bürgervereinigungen auf, die es schaffen, in die Parlamente zu kommen, wie z.B. in Bayern.

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Die Russlanddebatte im Eurasischen Magazin

EM 11-08

EM 01-09

Russland

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