Wo ist hier der Hafen?LEMBERG

Wo ist hier der Hafen?

Wo ist hier der Hafen?

Schnittpunkt aller Handelswege zu sein bedeutet nicht, daran reich zu werden. Vor allem dann nicht, wenn du jedes Jahrhundert zwölfmal von einer Hand in eine andere gerätst und diese Hände nichts Besseres zu tun haben, als dir auch den letzten Faden vom Leib zu reißen. – Lemberg, mein Lemberg.

Von Juri Andruchowytsch

Lemberg – Blick über die Altstadt
Lemberg – Blick über die Altstadt
Foto aus Wikipedia - Lestat (Jan Mehlich)

N ur nach Lemberg!“ wiederholte ich mit 15 wie mit 16 Jahren, als handle es sich um den leicht veränderten Refrain des süßlichen polnischen Liedes, von dessen Existenz ich jedoch keine Ahnung hatte. „Nur nach Lemberg“ war meine Antwort auf die Frage, wohin ich nach der Schule zum Studieren gehen wollte.

Wieso Lemberg? Damals hatte ich nur eine sehr vage Vorstellung von dieser Stadt. Sie war für mich vor allem der Bahnhof, von dem aus wir Jahre zuvor nach Prag aufgebrochen waren. Ich wollte also offenbar deshalb nach Lemberg, weil es mir als Prager Vorortbahnhof erschien. Was, fürchte ich, gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist.

Bis heute freue ich mich, dass es den Engländern 1944 nicht gelungen ist, Stalin die Stadt für die Polen abzuhandeln. Wäre es ihnen gelungen, dann hätte Lemberg im Ausland gelegen – und ade!, meine Hoffnungen. Die Staatsgrenze zwischen der UdSSR und Polen wäre irgendwo bei Vynnyki verlaufen, dahinter hätte der Westen begonnen. Und uns hätte man dort nicht hingelassen.

Die Geschichte kennt keine Möglichkeitsform, und daraus resultierten nicht nur fünf meiner dichtesten und intensivsten Jahre, sondern auch alles, was ich bisher geschrieben habe. Und wenn es für mich ein Dublin gibt, dann ist es Lemberg.

Beim Schreiben über Lemberg muss ich mich einfach wiederholen. Doch werde ich versuchen, aus jeder unausweichlichen Wiederholung wenigstens eine Überraschung zu gewinnen. Ohne Überraschungen, vor allem auch für den Autor selbst, hört das Schreiben auf, Schreiben zu sein, und wird zum Abschreiben. Wenn ich jedoch beim Wiederholen ganz andere Worte wähle, dann ist es schon kein Wiederholen mehr.

Um Taras Prochasko zu paraphrasieren – aus Lemberg kann man mehrere Romane machen. Mehr noch: Ich glaube, man kann daraus immer wieder viele Romane machen. Es ist eine Roman-Stadt in dem Sinne, dass ihre Romane noch nicht geschrieben sind. Ja, Sie haben Recht, es wurden schon welche geschrieben, darunter ein paar ganz wunderbare. Aber undenkbar, alle möglichen Bedeutungen dieser Stadt mit ihren wechselnden Eigenschaften zu erfassen.

So blättere ich nach dem Zufallsprinzip einzelne Bedeutungen auf und merke dabei, dass sie unerschöpflich sind.

Die Hafenstadt

Ich habe sie einmal Stadt-Schiff genannt, jetzt soll sie Hafen sein. Küste also, vielleicht die Mündung eines großen Flusses, ein Aquatorium, Kais, Güter- und Passagierdocks, Kräne, Kähne und 24-Stunden-Spelunken.

In „Das Hohe Schloss“ erwähnt Stanisław Lem das Büro der Schifffahrtsgesellschaft „Cunard Line“ und die Modelle der Ozeanriesen („Lusitania“, „Mauretania“) in jedem Schaufenster. Es befand sich im Lemberg der Zwischenkriegszeit, ich glaube, in der Słowacki-Straße. Wann es wohl verschwunden ist – 1939?

Kakaniens Eisenbahnknotenpunkt

Jedenfalls hörte Lemberg genau dann auf, ein offener Hafen zu sein, und wurde zum geheimen. Überhaupt kein Hafen sein kann es nicht – gemäß dem Willen seiner Gründer, die jahrhundertelang nach diesem Platz genau zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer gesucht haben.

Deswegen gibt es so viele Delfine an den Häusern. Nach dem Löwen ist der Delfin das zweithäufigste Attribut der alten städtischen Dekoration. Vielleicht ist er es, der der Stadt ihre besondere kühle Glitschigkeit verleiht. Jedenfalls könnte man den Lemberger Delfinen einen ganzen Bildband widmen.

Die Atlantikaale im unterirdischen Fluss der städtischen Kanalisation sind einen eigenen Roman wert: Der Weg der Aale aus der Sargasso-See bis zu den Schatzki-Seen und in die Wasser des Bug und der Poltwa, dann wieder zurück in den Ozean, das ist eine zweite „Odyssee“, noch ein „Ulysses“.

Manchmal hat es den Anschein, als wäre Lemberg vor allem eine unterirdische Stadt. Dass also das Wesentliche sehr mächtig tief unter uns weiter existiert. Der Orchestergraben der Oper wäre dann eine Art Raum des Übergangs, Warte- oder Empfangszimmer, unter dem nur noch die Wasser des Styx liegen.

Wer nach zwei Meeren jagt, wird keines je zu fassen kriegen. Lembergs Lage zwischen den Meeren resultierte in seiner Meerlosigkeit.

Die Kreuzungsstadt

Dahinter verbirgt sich nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Überschneidung. Eine Kreuzung ist auch eine Anhäufung von Schichten. Die Liste der alten Handelswege, die auf die eine oder andere Weise Lemberg berührten, würde diesen Text sprengen. Lemberg wurde nicht nur als Mitte der Zeiten, sondern auch als Mitte von Ländern erdacht. Kaufleute aus Europa durchquerten es in Richtung Asien, Kaufleute aus Asien in Richtung Europa, obwohl man damals weder Europa und noch weniger Asien kannte, sondern ausschließlich die Alte Welt. So bestimmte die Existenz Lembergs die spätere Teilung des Kontinents in Europa und Asien voraus.

Die Stadt lag so günstig, dass weder Karawanen aus Britannien nach Persien, noch solche aus Korea nach Portugal sie umgehen konnten. Aus Moskau nach Rom gelangen, wie auch aus Amsterdam nach Bombay, konnte man nur über Lemberg. Aber nicht alle Reisenden machten einfach nur Station an diesem Schnittpunkt. Einige entschlossen sich, für immer hierzubleiben. Darunter nicht nur Kaufleute, sondern auch fahrende Musikanten, Prediger, Deserteure fast aller Armeen, Spione, Seher, Gelehrte, Lehrer, Heiler, geflohene Unfreie und freie Flüchtlinge. Ich wollte einmal eine Liste erstellen, musste aber aufhören, als ich mir ihrer Unendlichkeit bewusst wurde.

Als die österreichische höchste Ingenieursinstanz Mitte des 19. Jahrhunderts einen geeigneten Eisenbahnknotenpunktsuchte, entschloss sie sich ohne Zögern. Der Hauptbahnhof wurde auf der Linie der europäischen Wasserscheide errichtet, was eine Höhe von 316 Metern über der Höhe der beiden hiesigen Meere bedeutete. Obwohl im Wort „Wasser-Scheide“ die zweite Wurzel auf „scheiden“ und „trennen“ verweist, möchte ich noch einmal vom Gegenteil ausgehen. Eine Wasserscheide, diese geografische Falte auf der Erdoberfläche, kann man sich nicht nur als Schnitt, sondern auch als Naht vorstellen. Weil sie zusammennähat, zusammenhält, vereint.

Deshalb ist Lemberg eine gemeinsame Anstrengung von West und Ost. Aber auch von Süd und Nord.

Die Schieberstadt

Lemberg und Geld, ein ewiges Thema. Das Geld folgt den Verlockungen. Füllt sich eine Stadt mit Verlockungen, dann tritt auch das Geld in sie ein. Je mehr Verlockungen – Schenken, Bordelle, Zirkusse und Casinos –, umso mehr Geld. Ist aber ein gewisser Höhepunkt erreicht, dann wirkt es auch umgekehrt. Die Verlockungen gebären Geld – und das Geld Verlockungen. So gleichen sich die Verlockungen und das Geld an. Die Anhäufung von Geld bedeutet nichts mehr und wird Selbstzweck, von dem einen weder der Tod noch die Inflation abbringen können. Genau das ist mit Lemberg passiert. Das Geld trennte sich vom Sein und erhob sich darüber, als das Absolute.

Natürlich ist Lemberg infolge seiner Lage im unglücklichen Teil der Welt eine vor allem arme Stadt. Schnittpunkt aller Handelswege zu sein bedeutet, wie wir gesehen haben, nicht, daran reich zu werden. Vor allem dann nicht, wenn du jedes Jahrhundert zwölfmal von einer Hand in eine andere gerätst und diese Hände nichts Besseres zu tun haben, als dir auch den letzten Faden vom Leib zu reißen.

Armut und Geldkult, das ist eine sehr unerwünschte Verbindung. Aus diesem Grunde verschoben sich in Lemberg die Werte, und man begann, das für Verlockungen zu halten, was in Wirklichkeit grundlegende menschliche Bedürfnisse sind – ein Dach über dem Kopf, Wasser im Hahn, Heizung, ein minimaler Wohlstand. Mit diesen Bedürfnissen zu spekulieren wurde zur Lieblingsbeschäftigung vieler Generationen. So entstand in Lemberg eine ganze Klasse von Stadtbewohnern, die nur durch Betrug an anderen, ebensolchen armen Schweinen überlebte. Die hohen Preise Lembergs, frech und durch nichts gerechtfertigt, sind das Leitmotiv ausnahmslos aller Briefe, Depeschen und Berichte, die schockierte Neuankömmlinge immer und bis heute noch überallhin schicken.

Ich kann mir nicht vorstellen, was los wäre, hätte Lemberg mehr zu bieten. Wären ihm nur ein Hundertstel der Sehenswürdigkeiten von Venedig gegeben, ein Zwanzigstel von Prag oder ein Zehntel von Wien!

Die Opferstadt

In Lemberg wurde immer gemordet. Manchmal auch massenhaft. In Wirklichkeit ist diese leichtfertig-nette, Kaffeehaus-gemütliche und bierselig-berauschte Stadt eine Grube voller menschlicher Leichen. In den alten Vierteln müsste eigentlich jeder einzelne Stein schreien.

Anhäufung von Antikulturen

Lemberg ist ein Schnittpunkt der Sprachen, Religionen und Ethnien. Eine Aufschichtung von Kulturen. Das haben Sie schon gelesen.

In viel größerem Maße aber ist Lemberg eine Anhäufung von Antikulturen. Und Verständigung herrschte hier niemals. Zwar gab es relativ friedliche Perioden, aber alles hing am seidenen Faden. Oder sogar am Spinnweb. Und die Spinnen saßen nicht in Lemberg.

Der gegenseitige ethnisch-konfessionelle Hass, den nur Österreich-Ungarn niederhielt, geriet mit dessen Zerfall außer Kontrolle. Infolge der sozialen Revolutionen und Umstürze in Russland und Europa kam zum ethnisch-konfessionellen noch der Klassenhass.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrscht in Lemberg der Krieg aller gegen alle. Das Anderssein (der Sprachen oder Gebräuche) wird Grund für die bis zur völligen Vernichtung reichende Repression der anderen. Auge um Auge, Zahn um Zahn war die einzige gültige Losung, die einzige Motivation der Verhältnisse im Dreieck zwischen Polen, Juden und Ukrainern. Jede der Seiten des Dreiecks fordert Säuberungen unter den anderen beiden. Wenn schon nicht Assimilierung, so doch wenigstens Marginalisierung. Eine Form der Säuberung von den Andersartigen wurde in den zwei Weltkriegen und im Zusammenhang mit ihnen das entschlossene Verdrängen und sogar Vertreiben hinter die Grenzen der Stadt: der Ukrainer durch die Polen; der Juden durch die Deutschen und die Ukrainer; der Polen durch die sowjetischen Russen, Ukrainer und Juden; der Westukrainer ebenfalls durch diese.

Die Ereignisse im Innern des Dreiecks wurden natürlich von außen manipuliert. Vergessen wir nicht, dass Lemberg, wie der gesamte Teil der Welt, zu dem es gehört, zwischen Deutschland und Russland liegt. Beide Imperialismen spielten ihr Spiel. Mitte des Jahrhunderts hatte die Stadt fast ihre gesamte frühere Bevölkerung verloren. Dadurch schien sich der Hass zu verringern. Aber gleichzeitig verringerten sich die Sprachen, die Kulturen, die Kontinuität. Letztere verringerte sich in katastrophalem Maße.

Alle, die mir in der Stadt fehlen, wurden ermordet, sind geflohen, haben es nicht ausgehalten oder wurden nicht geboren.

*

Der Text von Juri Andruchowytsch entstammt dem Band „Kakanien – Neue Republik der Dichter“, herausgegeben von Plinio Bachmann, Rita Czapka und Knut Neumayer und erscheint am 26. September 2011 im Paul Zsolnay Verlag Wien. http://bit.ly/m4vMW6

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