Die Demokratie ist kein AuslaufmodellRUSSLANDDEBATTE

Die Demokratie ist kein Auslaufmodell

Die Demokratie ist kein Auslaufmodell

Rudolf Maresch spricht in seinem Beitrag „Zwischen Ressentiment und Appeasement“ (Eurasisches Magazin 01-09) von den großen wirtschaftlichen Erfolgen mancher autoritär strukturierter Staaten und meint damit u. a. das kommunistische China und das heutige Russland mit seiner „gelenkten Demokratie“. Er fragt in diesem Zusammenhang, ob die liberalen bzw. parlamentarischen Demokratien vielleicht ein Auslaufmodell seien. Diese Frage möchte ich mit einem entschiedenen Nein beantworten. Es gab in der Geschichte schon oft Versuche, parlamentarische Demokratien durch angeblich effizientere Systeme abzulösen – mit jeweils katastrophalen Folgen. Auf einige dieser Versuche möchte ich kurz eingehen.

Von Leonid Luks

Leonid Luks  
Leonid Luks  
  Zur Person: Leonid Luks
  Prof. Dr. Leonid Luks wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte Slavische Philologie, Osteuropäische und Neuere Geschichte in Jerusalem und München. Seine Promotion (1973) und auch seine Habilitation (1981) erfolgten an der Ludwig- Maximilians-Universität München.

Luks war danach  Hochschullehrer an den Universitäten München, Bremen und Köln. Seit 1995 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Außerdem ist Luks Mitherausgeber der Zeitschriften „Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte“ (http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/index.htm) sowie „Forum novejšej vostočnoevropejskoj istorii i kul'tury“ (http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forumruss.html).

B ereits im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt der parlamentarische Staat  in manchen rechts- bzw. linksradikalen Kreisen Italiens, Deutschlands oder Frankreichs als dekadent und altersschwach. Er sei nicht imstande, dringende wirtschaftliche, soziale und nationale Probleme zu lösen, wichtige Entscheidungen würden durch endlose parlamentarische Debatten verzögert. Den politischen Parteien im demokratischen Staat warfen die Kritiker des Parlamentarismus einen schrankenlosen Egoismus vor. Für den deutschen Rechtsgelehrten Carl Schmitt, der viel zur geistigen Aushöhlung der Weimarer Republik beigetragen hat, war der liberal-demokratische Staat im Grunde kein Staat mehr. Schmitt meinte, hier bemächtigten sich einzelne Segmente der Gesellschaft (Parteien, Interessenverbände usw.) der Staatsgewalt und missbrauchten sie ausschließlich für ihre  jeweiligen Interessen. Der Staat als Verkörperung der Allgemeinheit werde in den liberalen Demokratien praktisch abgeschafft.

Nicht zuletzt unter dem Einfluss solcher Argumente sehnten sich viele Kritiker der parlamentarischen Demokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nach einem charismatischen Führer, der die Herrschaft der „unpersönlichen“ parlamentarischen Institutionen durch die Herrschaft des Willens ersetzen sollte. Die Folgen dieser Sehnsucht nach einem „Cäsar“, nach einem Führer, der schnelle Entscheidungen ohne Rücksicht auf die sich zankenden politischen Parteien und Parlamentsfraktionen treffen könne, sind bekannt. Zunächst in Italien und dann in Deutschland wurden anstelle der viel gescholtenen liberalen Systeme scheinbar vitale Führerregime, also Willkürstaaten errichtet.

Der Herrschaft des unpersönlichen Gesetzes überdrüssig

Viele  Verächter der parlamentarischen Demokratie wandten sich später mit Schrecken von den Systemen ab, die auf deren Trümmern errichtet wurden. Zu ihnen zählte auch der  „nationalbolschewistische“ Publizist Ernst Niekisch. 1936 schrieb er über die fatalen Folgen der Führersehnsucht mancher bürgerlicher Kreise Deutschlands: „Sie waren der Herrschaft des unpersönlichen Gesetzes überdrüssig und verachteten die Freiheit, die diese gewährt; sie wollten ... einer persönlichen Autorität, einem Diktator, einem Führer [dienen] ...  Sie zogen die schwankende  Laune und sprunghafte Willkür eines persönlichen ´Führers` der strengen Berechenbarkeit und festen Regeln einer unantastbaren gesetzmäßigen Ordnung vor“ (Ernst Niekisch, Das Reich der niederen Dämonen, Hamburg 1953, S.87).

Die liberale Demokratie wurde bekanntlich nicht nur von rechts, sondern auch von links mit äußerster Radikalität bekämpft. Auch die Bolschewiki hielten die sogenannte „formelle Demokratie“ bzw. das Prinzip der Gewaltenteilung, das sich in Russland seit dem Oktobermanifest des letzten Zaren im Jahre 1905 zu etablieren begann, für ein Relikt der angeblich veralteten „bürgerlichen“ Ordnung und beseitigten nach ihrer Machtergreifung alle demokratischen Institute im Lande. Mit Gewalt jagten sie am 18. Januar 1918 die demokratisch legitimierte Verfassungsgebende Versammlung mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit auseinander.

Leo Trotzki – einer der Urheber des bolschewistischen Staatsstreiches vom Oktober 1917 – sah durchaus Parallelen zwischen der bolschewistischen und der faschistischen Verhöhnung der demokratischen Spielregeln. Kurz nach dem sogenannten „Marsch auf Rom“ von Benito Mussolini (Oktober 1922) sagte er: „Mussolini ist eine Lektion, die Europa gegeben wurde in Bezug auf die Demokratie, ihre Prinzipien und Methoden. In einigen Beziehungen ist diese Lektion analog – natürlich vom entgegengesetzten Extrem – der, die wir Europa Anfang 1918 gaben, als wir die Verfassungsgebende Versammlung auseinanderjagten“ (Leo Trotzki, Fünf Jahre Komintern (russ.), Moskau 1924, S.556).

Die Folgen dieses Feldzugs gegen die parlamentarische Demokratie sowohl für Russland als auch für den Westen sind bekannt. An seinem Ende stand eine beispiellose zivilisatorische Katastrophe, die einen großen Teil des europäischen Kontinents in ein Trümmerfeld verwandelte. Diese verheerenden Erfahrungen führten zu einem grundlegenden Wandel der politischen Kultur in Europa. Der nach 1945 einsetzende europäische Integrationsprozess und das Grundgesetz, das die Prinzipien der wehrhaften Demokratie in Deutschland verankerte, gehören zu den sichtbarsten Zeichen hierfür.

In Russland musste man wesentlich länger als im westlichen Teil des Kontinents auf die Rückkehr der demokratischen Institute warten, die die Bolschewiki am 18. Januar 1918 von der politischen Bühne des Landes verjagt hatten.

Die relative Stabilität von 70 Jahren bolschewistischer Herrschaft

Was sicherte dann dem bolschewistischen Regime, trotz seiner fehlenden demokratischen Legitimierung, etwa siebzig Jahre lang eine relative Stabilität? Dies war in erster Linie der Glaube der Bolschewiki an ihren geschichtlichen Auftrag. Sie fühlten sich nicht den demokratischen Mehrheiten, sondern der Geschichte und ihrer „alleingültigen“ marxistischen Interpretation verpflichtet. Den Kräften, die diesen „Auftrag“ zu gefährden drohten, auch wenn dies die „werktätigen Massen“ waren, in deren Namen sie reagierten, sagten sie einen unversöhnlichen Kampf an. Nikita Chruschtschow war der letzte sowjetische Machthaber, der in unerschütterlicher Weise dieses „Credo“ vertrat. Seine Nachfolger imitierten nur den Glauben an die „lichte kommunistische Zukunft“. Diese Erosion des Glaubens höhlte die ideologische Legitimierung des Regimes aus. Es entstand ein gefährliches ideologisches Vakuum. Nur die Rückkehr der demokratisch legitimierten Institutionen auf die politische Bühne hätte Russland helfen können, die legitimatorische Krise zu überwinden – also die Rückkehr der Institutionen, die von den Bolschewiki im Januar 1918 so leichtfertig auf den „Kehrrichthaufen der Geschichte“ (Trotzki) geworfen wurden.

Als Michail Gorbatschow zu Beginn der Perestrojka verkündete: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“, läutete er damit das Ende des Bolschewismus ein. Denn das demokratische Prinzip, das die Bolschewiki aus ihren Staatstrukturen verbannt hatten, musste zwangsläufig das auf lückenlose Kontrolle programmierte kommunistische System  aus den Angeln heben.

Die Diskreditierung der russischen Demokratie nach 1992

Im August 1991 siegten die russischen Demokraten. Sie haben jedoch bekanntlich sehr schnell ihr Vertrauenskapital verloren. Die im Dezember 1991 erfolgte Auflösung der Sowjetunion, die wirtschaftliche Schocktherapie vom Januar 1992 und die fortwährende Konfrontation zwischen der Exekutive und Legislative, die im Oktober 1993 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in der russischen Hauptstadt führte, trugen erheblich zur Diskreditierung der demokratischen Idee bei. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung assoziiert jetzt mit dem Begriff Demokratie solche Erscheinungen wie den machtpolitischen und wirtschaftlichen Verfall, die chaotischen Zustände und die immer größere Kluft zwischen Neu-Arm und Neu-Reich.

Nicht zuletzt deshalb ist das unter Putin entwickelte System der „gelenkten Demokratie“ durchaus populär. Eines wird aber dabei außer Acht gelassen. Die Tatsache nämlich, dass sich im System der „gelenkten Demokratie“ die herrschenden Gruppierungen  der gesellschaftlichen Kontrolle weitgehend entziehen, was gefährliche Folgen für das Land haben kann. Bis vor kurzem waren die Machthaber, dank hoher Preise für die Energieträger, bereit, einen Teil der Gewinne an ärmere Gesellschaftsschichten abzugeben und trugen dadurch zu einer bescheidenen Anhebung ihres Lebensstandards bei. Aber schon morgen könnten sie, nicht zuletzt wegen der weltweiten Finanzkrise, Entscheidungen ganz anderer Art treffen, und niemand wird sie daran hindern können. So stellt der Abbau gesellschaftlicher Kontrollmechanismen ein gefährliches Spiel für jedes Land dar, das dies zulässt.

Ohne Gewalt und Blutvergießen die Regierung auswechseln

Mit Recht spricht Rudolf Maresch von den vielen Defiziten modernen Demokratien. Sie stellen in der Tat kein Paradies auf Erden dar. Indes handelt es sich bei den demokratischen Staaten um die einzigen Gemeinwesen, die über eine unabhängige Öffentlichkeit und über ein mehr oder weniger effizientes System von checks and balances  verfügen, und imstande sind, auch die arrogantesten Politiker letztendlich in ihre Schranken zu weisen bzw. abzuwählen. Dazu bedarf es, anders als in den autoritären Staaten, keiner gewaltsamer Ausbrüche des Volkszorns und keiner Palastrevolutionen. Dazu schrieb vor kurzem Helmut Schmidt: „Entscheidend ist am Ende – nach einem Wort von Karl Popper –, dass die Regierten [in einer Demokratie] ohne Gewalt und Blutvergießen, allein mit ihrer Stimme in einer Wahl die Regierung auswechseln können und dass die regierenden Politiker und die sie tragenden Parlamentsabgeordneten, um wiedergewählt zu werden, sich vor den Regierten verantworten müssen“ (Helmut Schmidt, Außer Dienst. Eine Bilanz, München 2008, S.122).

Und wie verhält es sich mit der Fähigkeit der Demokratien auf Krisen, zum Beispiel auf die jüngste Finanzkrise, zu reagieren? Sind sie dafür schlechter gerüstet als die autoritären Staaten, wie dies manche Kritiker des demokratischen Modells suggerieren? Zu dieser Frage nahm vor kurzem der ehemalige Ministerpräsident Singapurs Lee Kuan Yew Stellung, den die Hamburger „Zeit“ als den „bedeutendsten Politiker Asiens“ bezeichnete. „Könnte die Finanzkrise zu einer Krise der Demokratie führen?“, fragte ihn „Die Zeit“. Die Antwort Lees lautet: „Nein, ich denke die Demokratie ist nicht in Gefahr, weder in Amerika noch in Großbritannien oder Deutschland. Es ist einfach nicht möglich, zu einer autoritären Herrschaft zurückzukehren, um aus dieser Krise herauszukommen“ (Die Zeit, 31.12.2008, S.9).

Die holprige Umgestaltung des russischen Staatwesesens

Die jungen Demokratien im europäischen Osten befinden sich natürlich in einer anderen Situation. Nach vierzig bzw. siebzig Jahren kommunistischer Herrschaft mussten sie einen beispiellosen  Transformationsprozess erleben: Von einer Gesinnungsdiktatur zu einer offenen Gesellschaft, von einem Polizei- zu einem Rechtsstaat, von einer dirigistischen Plan- zur freien Marktwirtschaft. Zur gleichen Zeit erlebten viele Staaten der Region, vor allem in der ehemaligen Sowjetunion, einen nation-building-Prozess. Was Russland anbetrifft, so erlebte es darüber hinaus den Übergang von einem Imperial- zu einem Nationalstaat und von einer Pseudoföderation zu einem echten föderalen Staat. Kein Wunder, dass diese wohl einmalige Umwälzung sich holprig gestaltet, dass der Weg in Richtung Demokratie mit so vielen Hindernissen behaftet ist. Und von vielen Kritikern werden all diese Schwierigkeiten nicht als Folge von vierzig bzw. siebzig Jahren kommunistischer Diktatur verstanden, sondern in erster Linie mit den neu entstandenen demokratischen Systemen assoziiert. Der Zusammenbruch der Diktaturen im ehemaligen Ostblock, der vor zwei Jahrzehnten euphorisch begrüßt worden war, wird nun von manchen Kreisen in einem anderen Licht gesehen. Viele Schattenseiten der abgewirtschafteten Regime werden verdrängt, nostalgische Stimmungen machen sich breit. Die Defizite der neu errichteten Demokratien hingegen werden mit einer äußersten Strenge bewertet, was in manchen Fällen zur Infragestellung der demokratischen Werte als solchen führt.

Diese verzerrte Perzeption der kommunistischen Vergangenheit und der postkommunistischen Gegenwart beruht nach Ansicht des Eichstätter Politikwissenschaftlers Bernhard Sutor auf einem grundlegenden Irrtum. Mit einem Zitat aus seinem vor kurzem erschienenen Artikel möchte ich diese Replik beenden: „[Dieser Irrtum], so Sutor, besteht in der falschen Annahme, die freiheitliche Demokratie beanspruche, eine Gesellschaft ohne Widersprüche und Ungerechtigkeiten, eine endgültig gute Ordnung darzustellen bzw. herstellen zu können ... Die Sache verhält sich gerade umgekehrt. Die Demokratie mit ihren Institutionen der Machtteilung und Machtbefristung, der vielfältigen Beratung, Kritik, Kontrolle und Opposition ist Ausdruck der Fehlbarkeit des Menschen und der Unvollendbarkeit  menschlicher Gesellschaft. Weil es immer Interessenkonkurrenz, Konflikte, Probleme, Defizite geben wird, brauchen wir humane und rechtsstaatliche Formen ihrer Bearbeitung... [Wir] nehmen die Mühsale der Demokratie, ihren ständigen Streit, ihre Langsamkeit, ihre Konflikte und Kompromisse auf uns als den unentbehrlichen  Selbstschutz gegen unsere Verführbarkeit durch das Versprechen einfacher Lösungen, ... gegen unser Bedürfnis nach Identifikation mit der einfachen ´Wahrheit` oder dem großen Führer in der Politik“ (Bernhard Sutor, Herausforderungen der politischen Bildung zwischen „Ostalgie“ und neuer Rechten, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 12 (2008), Heft 2, S. 140).

Die Russlanddebatte im Eurasischen Magazin

EM 11-08

EM 01-09

EM 02-09

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