Geopolitische Betrachtungen zu den Wahlen in der UkraineEURASIEN

Geopolitische Betrachtungen zu den Wahlen in der Ukraine

Der russische Politologe Sergej Morosow analysiert den Blick Moskaus auf die Politik des Westens.

Von Sergej Morosow

Die Wahlen in der Ukraine reflektieren die aktuellen Spannungen zwischen dem Westen und Rußland in besonderer Weise. Das Land am Dnjepr ist auf beiden Seiten ein begehrter Partner wegen seiner geographischen Lage als Bindeglied zwischen Ost und West, seinen Transitrouten für Gas- und Öllieferungen und seinem weiträumigen Zugang zum Schwarzen Meer.

Rußland versteht die aktuellen Ereignisse in der Ukraine vor allem als fortgesetzte Desintegration der ehemaligen Sowjetunion. Auch über ein Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges fühlt Rußland sich aus allen Richtungen bedroht. Die Erweiterungen von NATO und EU werden als fortschreitende Eroberung von traditionell unter russischem Einfluß stehenden Gebieten durch den Westen angesehen. 13 Jahre nach dem Ende der UdSSR sind Weißrußland und Kasachstan Rußlands einzige verbliebene Verbündete.

Die slawische Union

Die Strategie Wladimir Putins zielte bisher darauf ab, eine „Slawische Union“ zu begründen. Sie sollte die drei slawischen Staaten – Rußland, Ukraine und Weißrußland – umfassen und zum Kern einer neuen politischen Integrationsgemeinschaft auf dem postsowjetischen Gebiet werden. Ohne die Ukraine, dem flächenmäßig nach Rußland zweitgrößten europäischen Land mit einer Bevölkerungszahl von 48 Millionen Menschen, wäre diese Union stark geschwächt.

Da es Rußland bislang nicht einmal geschafft hat, die Vereinigung mit Weißrußland zu vollziehen, obwohl die Verträge dazu bereits 1998 unterschrieben wurden, wurde die Idee der „Slawischen Union“ zur Idee eines einheitlichen Wirtschaftsraumes abgeändert. Dieser Wirtschaftsraum hat zum Ziel, die ökonomische Integration der vier Staaten Rußland, Ukraine, Weißrußland und Kasachstan in einer gemeinsamen Organisation voranzubringen sowie die Handelsbeziehungen und Zollregelungen zu vereinfachen.

Die Pläne Rußlands zur ökonomischen Integration der slawischen Staaten führten immer wieder zu Spannungen mit dem Westen. Auch die Entscheidung der Ukraine, dem einheitlichen Wirtschaftsraum beizutreten, stieß auf scharfe Kritik seitens der EU und der USA. In Rußland wurde dies als wachsende Angst des Westens vor einer künftig stärkeren Annäherung zwischen Rußland und der Ukraine interpretiert.

Eine „türkische Option“ für die Ukraine

Auch wenn der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, erklärte, daß die Wahrscheinlichkeit eines EU-Beitritts der Ukraine in etwa derjenigen von Neuseeland entspricht, demonstriert die aktuelle Politik Brüssels gegenüber der Türkei, daß die EU wachsendem Druck aus Kiew nicht standhalten könnte. Früher oder später wird man nicht umhinkommen, der Ukraine eine „türkische Option“ anzubieten. Ein Blick auf die Landkarte macht deutlich, daß die Ukraine in Kürze das letzte große und geopolitisch bedeutsame europäische Land außerhalb der EU sein wird. In Rußland befürchtet man, daß diese Entwicklungen mit erheblichen Problemen für die doppelte Staatsbürgerschaft in der Ukraine und den Status der russischen Sprache als zweiter offizieller Amtssprache verbunden sein werden.

Geopolitik der NATO

Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich die Ukraine zukünftig verstärkt um eine NATO-Mitgliedschaft bemühen wird. Für Rußland hätte dies negative Konsequenzen. Die Hoffnungen auf eine selbständige Sicherheitspolitik wären ruiniert. Einer der letzten russischen Schwarz-Meer-Häfen in Sewastopol müßte geräumt werden und das Asowsche Meer wäre vollständig innerhalb des NATO-Gebietes. Dies erklärt, warum Rußland im letzten Jahr den Konflikt mit der Ukraine um das Asowsche Meer und die Straße von Kertsch intensivierte. Moskau versucht, die mögliche Präsenz von NATO-Schiffen im Asowschen Meer unweit der russischen Staatsgrenze zu verhindern.

Allgemein gesprochen fühlt Rußland sich zunehmend von der Außenwelt bedroht. Im Süden besteht diese Bedrohung durch moslemische Extremisten, die zum Ziel haben, im südlichen Rußland ein Kalifat zu errichten. Im Fernen Osten und Sibirien sieht die russische Regierung der latenten und graduellen Kolonisierung aus dem überbevölkerten China mit großer Sorge entgegen. Und schließlich gibt es im Westen die sich erweiternde NATO, in der für Rußland kein Platz ist. In diesem aggressiven Umfeld sehen politische und militärische Eliten in Rußland die eigenen Nuklearwaffen als präventives Instrument zur Verhinderung von militärischen Aggressionen, Kolonisierungen oder Invasionen an. So gesehen sind die Atomwaffen die letzte wirkungsvolle Garantie gegen die weitere Desintegration des Landes. Putin mißt deshalb der Entwicklung der russischen Nuklearstreitkräfte eine hohe Bedeutung bei und warnt vor zukünftigen Bedrohungen, die entstehen könnten, wenn das Nuklearpotential des Landes nicht weiterentwickelt würde.

Die Ukraine spielt eine signifikante Rolle im Entwicklungsprozeß neuer russischer Raketen und anderer High-Tech-Waffensysteme, inklusive der Raumfahrttechnologie. Die größten Betriebe der ukrainischen Rüstungsindustrie sind eng mit der russischen Militärindustrie verschränkt. Mit einem NATO-Beitritt der Ukraine wäre das Ende dieser Kooperation verbunden. Die Aussichten für die russisch-ukrainische Zusammenarbeit in der Luftfahrtindustrie und die Entwicklung des neuen Militärflugzeuges AN-70 gelten bereits heute als unsicher.

Sollten Georgien und die Ukraine Mitglieder der NATO werden, würde das Schwarze Meer größtenteils zu einem Binnenmeer der Atlantischen Allianz. Außer Moldawien und Rußland wären dann alle Staaten mit Zugang zum Schwarzen Meer NATO-Mitglieder. Dieser Umstand würde den USA auch als Argument dienen, um ihre Pläne zur radikalen Veränderung der Transportwege für die kaspischen Energieressourcen zu realisieren.

Geopolitik und Energie

Die Ukraine ist von erheblicher Bedeutung für den Weltenergiemarkt, weil ihre geographische Lage sie zu einem idealen Korridor für den Öl- und Gas-Transport aus Rußland und dem kaspischen Raum zu den europäischen Märkten macht. Der größte Teil der europäischen Ölimporte wird durch die „Druschba“-Trasse transportiert, deren südliche Gabelung durch die Ukraine verläuft. Die Ukraine hofft darauf, zum wichtigsten Transitland für das „schwarze Gold“ aus dem Kaspischen Meer zu werden, dessen Förderung sich in den nächsten Jahren deutlich erhöhen wird

Die „Rosenrevolution“ in Georgien erlaubte den USA, die Pipeline von Aserbaidschan in die Türkei (Baku – Ceyhan) zu bauen, die das russische Transitmonopol auf kaspisches Öl bricht. Auch die „Orange Revolution“ in der Ukraine könnte neue Energierouten eröffnen – aus der kaspischen Region und Zentralasien.

Die USA beabsichtigen, eine weitere alternative Pipeline außerhalb der russischen Grenzen vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer oder zum Schwarzen Meer anzuregen. Die Ukraine könnte in diesen Plänen eine Schlüsselrolle übernehmen. Der russische Einfluß in Zentralasien würde in der Folge deutlich sinken.

Geopolitische Veränderungen

Rußland ist damit konfrontiert, daß sich die geopolitische Lage in der postsowjetischen Ära schnell verändert. Rußland erfährt eine massive Verminderung seines Einflusses in traditionell beherrschten Gebieten und seiner geopolitischen Autorität. Dies verursacht eine neue Nervosität bei der russischen Führung, die die Spaltung zwischen dem Westen und Rußland noch erhöht.

Es ist offensichtlich, daß Rußland und der Westen sich derzeit voneinander entfernen. Die Beziehungen zwischen Putin und Bush sind bei weitem nicht mehr so gut wie noch im Jahr 2001. In Westeuropa zeigt aktuell nur Gerhard Schröder aktive Unterstützung für Rußland. Die neuen EU-Mitgliedstaaten aus dem ehemaligen Ostblock brachten darüber hinaus eine extrem negative und aggressive Haltung gegenüber Rußland in die Europäische Politik.

„Viele Russen verstehen Demokratie anders als die Bürger des Westens“

Die von der EU vor einigen Jahren begonnene Politik der „Vier Räume“ gegenüber Rußland hat keine signifikanten Ergebnisse gebracht. Russische Eliten kommen zu der Erkenntnis, daß man in Brüssel keinen Platz für Rußland auf dem europäischen Schiff vorgesehen hat und Rußland damit zu einem eigenen Entwicklungsweg verdammt ist.

Viele Russen verstehen Demokratie anders als die Bürger des Westens. Sie betrachten die „humanitäre Intervention“ in Jugoslawien als Aggression gegen einen souveränen Staat und teilen auch die Vorstellungen von einer Demokratisierung der muslimischen Welt im Irak nicht. Die „Orange Revolution“ in der Ukraine wird von der russischen Bevölkerung überwiegend als „made in Washington“ eingestuft.

Voraussichtlich wird der Kreml schon seine Europapolitik revidieren. Es ist möglich, daß die Verteidigungsausgaben sehr schnell ansteigen und Europa in naher Zukunft die größte Armee mit modernen Waffen vor seinen östlichen Grenzen haben wird. Die russischen Nuklearstreitkräfte sollen zukünftig eine größere Rolle spielen. Rußland erwartet die nächsten geopolitischen Veränderungen in Kasachstan und Armenien. Daher werden in der neuen Politik Moskaus diese Staaten an Bedeutung gewinnen.

Die westlichen Politiker sollten nicht vergessen, daß Putin der erste russische Staatsführer seit der Zarenzeit ist, der offiziell enge Kontakte mit Europa als Priorität seiner Außenpolitik festgelegt hat. In dieser Hinsicht ist es sehr wichtig für die westlichen Staaten, auch ihrerseits gute Beziehungen mit dem östlichen Nachbarn aufrechtzuerhalten und eine Isolation Rußlands zu vermeiden.

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Sergej Morosow studierte Internationale Beziehungen an der Staatlichen Universität St. Petersburg. Er ist Autor des russischsprachigen Buches „Die Diplomatie von W.W. Putin: Internationale Politik Rußlands 1999-2004“.

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