Das Mädchen aus VietnamEINWANDERUNG

Das Mädchen aus Vietnam

Das Mädchen aus Vietnam

Schicksal einer jungen Frau vom anderen Ende Eurasiens, die illegal nach Deutschland gekommen ist, und die nun mit einem Kind und vielen Schulden in Deutschland festsitzt.

Von Juliane Inozemtsev

Dr. Andrea Schmitz  
Allein im Westen - junge Migrantin aus Vietnam.
(Foto: Waechter)
 

L ynn Pham hat ihr Bett ganz dicht an das ihrer Zimmergenossin herangeschoben. Vor der Mädchen-Schlafecke steht, wie eine Schutzwand, ein großer Kleiderschrank. Wenn man aus Lynns Wohnheimfenster blickt, sieht man eingezäuntes Bauland, dahinter einen Supermarkt und ringsumher Plattenbauten. „Hier ist es trotzdem viel besser als zu Hause“, sagt sie und schaut in den grauen Himmel. „Unser Leben auf dem Land in Vietnam war hart und elend. Ich habe von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet, und wir wären trotzdem fast verhungert.“ Mit ihrer Mutter, der Großmutter und den zwei jüngeren Schwestern teilte sie sich in ihrem Heimatdorf ein Zimmer in einer winzigen, zugigen Hütte.

Lynn ist 16 Jahre alt, sie ist illegal nach Deutschland gekommen und lebt nun, ebenso wie 19 weitere Jugendliche aus Vietnam, in einem Wohnheim für minderjährige Asylsuchende im Berliner Stadtteil Hellersdorf. Die vietnamesischen Jugendlichen bilden in Berlin schon seit Jahren die größte Gruppe unter den unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden. Im vergangenen Sommer wurde Lynn, noch 15-jährig, von ihren Verwandten mit einer Schlepperbande nach Deutschland geschickt. Das Mädchen sollte hier Geld verdienen, um die Not der Familie in Vietnam zu lindern. Doch nach ihrer Ankunft wurde ihr schnell klar, dass dies nicht so leicht sein würde.

Die Schulden bei den Schleppern erdrücken sie schier

Als Asylbewerberin hat sie keine Arbeitserlaubnis bekommen. Mittlerweile wird sie von den Schulden, die sie bei den Schleppern hat, erdrückt. Man sieht Lynn nicht an, wie verzweifelt sie ist. Äußerlich wirkt sie völlig ruhig, Vietnamesen lernen schon in frühester Kindheit, ihre Gefühle Fremden gegenüber stark zu kontrollieren.

„Als mein Onkel mir sagte, dass ich allein nach Europa gehen müsse, wollte ich das zuerst nicht und habe sehr geweint“, sagt sie. „Aber ich wusste, dass es nicht anders geht, wenn wir überleben wollen.“ Sie spricht leise, der sanfte Singsang ihrer Worte passt in westlichen Ohren nur schwer zu dem, was sie erzählt. Ein muttersprachlicher Sozialarbeiter übersetzt alles. Er hat ihr als Landsmann das Versprechen abgenommen, ehrlich zu sein. Ihr wahrer Name werde nicht genannt, sagt er. Lynn nickt ihm ernst und ergeben zu. Sie hat kindliche und zugleich scheue braune Augen, lange, seitlich gescheitelte Haare, und sie trägt kleine goldene Mond-Ohrstecker. „Die hat mir meine Mutter in Vietnam zum Abschied geschenkt“, sagt sie. In Vietnam wird der Mond auch „große Schwester“ genannt und ist ein Beschützersymbol. „Zuhause in Vietnam war ich immer die große Schwester“, sagt sie.

Lynns Vater starb, als sie in der vierten Klasse war. Danach war an Schulbildung nicht mehr zu denken, sie musste Geld verdienen. „Ich habe die Wasserbüffel der Reisbauern gefüttert und ausgemistet“, erzählt Lynn Pham. Dafür habe sie im Monat umgerechnet acht bis neun Euro bekommen. Ihre Mutter habe von früh bis spät auf den Reisfeldern gearbeitet. „Zusammen haben wir umgerechnet 15 bis 20 Euro verdient. Davon konnten wir gerade einmal genug Reis für alle kaufen.“ Als ihre Mutter krank wurde und nicht mehr arbeiten konnte, verschlechterte sich die Lage der Familie. Staatliche Hilfen für sozial Schwache gibt es in Vietnam nicht. Wer in Not gerät, ist auf Verwandte oder Nachbarn angewiesen, doch die sind meist selbst bettelarm. In dieser Situation erschien die Flucht nach Deutschland als rettende Idee. Anders als hier haben die Schlepper in der vietnamesischen Bevölkerung ein gutes Ansehen, werden sinngemäß sogar „Die uns den richtigen Weg weisen“ genannt. „Meine ganze Familie und ein Teil der Dorfbewohner haben zusammengelegt“, sagt Lynn, „und meine Mutter hat außerdem bei einer Bank unsere Hütte beliehen.“ Von diesem Geld hätten sie die Schlepper angezahlt. Den größten Teil der insgesamt 10.000 Euro mussten sie aber schuldig bleiben.

Wenn die Familie nicht zahlen kann, wird sie obdachlos

„Die Männer, die mich hierher gebracht haben, sagten, dass ich nach der Ankunft in Deutschland sechs Monate Zeit habe, die Schulden abzuzahlen“, erzählt Lynn. Diese Frist läuft jetzt im Januar ab. Das Geld hat Lynn aber noch lange nicht zusammen. Sie bekommt wöchentlich 70 Euro Jugendhilfe von ihren Wohngruppenbetreuern ausgezahlt. „20 Euro lege ich gleich für meine Familie beiseite“, sagt sie. „Alle drei Monate schicke ich dann etwas nach Hause.“ Seit Juli habe sie das aber erst zwei Mal geschafft. Auf Schwarzarbeit hat sie sich bislang nicht eingelassen, weil ihr die Sozialarbeiter einschärften, dass schon eine polizeiliche Festnahme ihre ohnehin kleine Chance auf eine Zukunft in Deutschland zunichte machen könnte. Noch findet sich kein negativer Eintrag in Lynns Wohnheimakte. Doch das Mädchen steht unter enormem Druck. „Ich weiß, dass die Gläubiger meine Familie in Vietnam bedrohen werden, wenn das Geld nicht wie vereinbart zurückgezahlt wird“, sagt sie. Auch die Bank in Vietnam fordert inzwischen den Kredit für die Hütte zurück. Wenn die Familie nicht zahlen kann, wird sie obdachlos.

Man sieht Lynn nun an, dass es sie Mühe kostet, die Tränen zu unterdrücken. Der vietnamesische Sozialarbeiter hilft ihr, die Fassung zu bewahren, indem er sie bittet, zu erzählen, wie sie nach Deutschland gekommen ist. „Als meine falschen Papiere fertig waren, haben mich Verwandte in die nächste größere Stadt gefahren“, sagt Lynn. Von dort habe sie den Zug in die Hauptstadt Hanoi genommen und sei dann ins Flugzeug gestiegen. „Gepäck durfte ich aber nicht mitnehmen und auf keinen Fall persönliche Gegenstände“, fügt sie hinzu. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, dass die deutschen Behörden sie zum Beispiel anhand von Familienfotos hätten identifizieren können. „In den Asylanträgen geben Flüchtlinge fast immer an, sie seien Vollwaisen und hätten in ihrem Heimatland niemanden mehr, zu dem sie zurückgeschickt werden könnten“, sagt die Vietnamesin Thuy Nonnemann. Sie ist Mitglied im Migrationsrat und der Härtefallkommission des Berliner Senats, die über Einzelschicksale abgelehnter Asylbewerber entscheidet.

Erstaufnahmestelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Wo genau das Flugzeug aus Vietnam landete, weiß Lynn Pham nicht. Vietnamesen im Wohnheim sagen, der Umschlagplatz sei fast immer Moskau. Die Reise nach Deutschland ging im Lastwagen weiter. "Es war Mittag, als wir in einem Vorort von Berlin ankamen", berichtet Lynn. "Das Tageslicht hat geblendet, als die Ladetüren aufgingen." Die Schlepper seien verschwunden, dafür kam ein vietnamesisches Ehepaar und habe sie in die Erstaufnahmestelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Wupperstraße in Zehlendorf gebracht. Mit Hilfe eines Sachbearbeiters hat das Mädchen dort einen Asylantrag gestellt. Insgesamt haben sich im letzten Jahr 87 minderjährige Flüchtlinge aus Vietnam in der Wupperstraße gemeldet. Lynns Antrag wurde nach wenigen Wochen abgelehnt. Dagegen hat ihr vom Familiengericht bestimmter Vormund Klage eingereicht. Ohne diesen Schritt hätte sie schon abgeschoben werden können, obwohl sie noch minderjährig ist. Denn mit Vollendung des 16. Lebensjahres gilt man juristisch als selbstständig. Doch ist der Aufwand zur Abschiebung eines Jugendlichen höher, weil dieser eine Begleitung braucht und im Heimatland in Obhut kommen muss. Daher geben sich junge vietnamesische Erwachsene oft als noch minderjährig aus, obwohl sie schon über 18 sind. Dass Lynn tatsächlich noch so jung ist, wie sie sagt, bestätigt der erfahrene vietnamesische Sozialarbeiter.

Das Mädchen hofft nun, dass sich ihr Verfahren so lange wie möglich hinzieht. Thuy Nonnemann vom Migrationsrat weiß, warum sie auf den Zeitfaktor setzt. „Asylsuchende, die minderjährig und allein in die Bundesrepublik eingereist sind, haben nach sechs Jahren Aufenthalt gute Chancen auf ein dauerhaftes Bleiberecht“, erklärt sie. Allerdings nur, wenn sie so lange straffrei geblieben seien und sich gut integriert hätten, zum Beispiel, indem sie Deutsch gelernt haben. An der Tür von Lynns Zimmer hängen kleine gelbe Klebezettel in Herzform. Darauf stehen deutsche Vokabeln und die vietnamesische Übersetzung. Lynn hat sie in den ersten Wochen ihres Deutschkurses angeklebt, als sie noch hoch motiviert war. Doch seit einiger Zeit geht sie nicht mehr zum Unterricht. Auf die Frage, ob ihr der tägliche Weg bis nach Kreuzberg zu weit ist, schüttelt sie den Kopf. „Ich habe einfach den Anschluss verloren“, sagt sie.

Schwanger und chronische Hepatitis B

Auf dem Flur in der vierten Etage des Wohnheims reihen sich Kinderwagen aneinander. Hier gibt es eine Mutter-Kind-Wohngruppe. Die meisten illegal eingereisten Vietnamesinnen kommen irgendwann an den Punkt, an dem sie versuchen, über ein Kind an eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung zu gelangen. Zurzeit werden zwölf Säuglinge im Wohnheim mit aufgezogen. Wenn ein Baby einen Vater mit deutschem Pass oder einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis hat, dann darf es zusammen mit der Mutter in Deutschland bleiben. Hinter vorgehaltener Hand erfährt man, dass sich deutsche Männer und Vietnamesen mit sicherem Aufenthaltsstatus für die offizielle Anerkennung der Vaterschaft von den jungen Frauen bezahlen lassen. Das ist ein florierendes Geschäft geworden, bei dem sogenannte Übersetzer - Vietnamesen, die Deutsch sprechen - junge vietnamesische Mütter an Langzeitarbeitslose vermitteln. Diese übernehmen pro forma die Vaterschaft im Wissen, dass sie als Hartz-IV-Empfänger keinen Unterhalt zahlen müssen.

Lynn hat sich oft mit den jungen Müttern von der vierten Etage unterhalten, mittlerweile ist auch sie im dritten Monat schwanger. Die Freude der Sozialarbeiter ist gedämpft. Sie sind nun zusätzlich um das Wohl des ungeborenen Kindes besorgt, denn Lynn leidet unter chronischer Hepatitis B, wie bei ihrer Einreise festgestellt wurde. Das Mädchen soll in den nächsten Tagen einem Arzt vorgestellt werden.

Letzter Ausweg Scheinehe

„Der Vater meines Kindes“, sagt Lynn, „ist ein Deutscher, aber ich habe inzwischen keinen Kontakt mehr zu ihm.“ Im Wohnheim wird gemunkelt, ein junger Vietnamese, der auch im Heim wohnt, sei ihr fester Freund und der wahre Vater. Das Mädchen weiß, dass sie damit rechnen muss, die Vaterschaft anhand einer DNA-Analyse zu belegen. Wäre diese dann einem vietnamesischen Asylbewerber zuzuordnen, würde ihr und dem Kind die Abschiebung drohen. Als letzten Ausweg gäbe es in diesem Fall noch die Scheinehe, auch darüber hat sich Lynn bei den anderen Mädchen längst informiert. Doch diese Notlösung würde wieder viel Geld kosten. Geld, das sie nicht hat und das sie sich wieder borgen und abzahlen oder abarbeiten müsste. So geriete sie fast unweigerlich in die Fänge der vietnamesischen Unterwelt.

Zwei Mal im Monat telefoniert Lynn mit ihrer Mutter. „Ich habe ihr noch nicht erzählt, dass sie bald Oma wird. Ich wollte sie nicht noch mehr beunruhigen“, sagt Lynn. In den vergangenen Wochen hat ihre Mutter alles daran gesetzt, sich noch einmal von Verwandten und Bekannten Geld zu leihen, um sich die Schlepper und die Bank vom Hals zu halten. Gestern hat Lynn erfahren, dass das geklappt hat, aber Erleichterung spürt sie kaum. Sie weiß, dass es wieder nur ein Aufschub ist, dass auch die neuen Gläubiger ihr Geld in absehbarer Zeit zurückverlangen werden. Doch sie setzt großes Vertrauen in ihre Mutter und versucht, ruhig zu bleiben. Noch glaubt sie fest daran, dass am Ende alles gut wird.

Mit leeren Händen nach Vietnam zurückzukehren bedeutet Schmach und Schande

Die Senatsverwaltung für Inneres bilanziert hingegen nüchtern, dass im vergangenen Jahr 210 Vietnamesen abgeschoben wurden. Wie viele Minderjährige darunter waren, hat man statistisch nicht erfasst. „Die meisten kamen wie Lynn als Hoffnungsträger ihrer Familien und Dörfer nach Deutschland“, sagt der vietnamesische Sozialarbeiter. Mit leeren Händen nach Vietnam zurück zu müssen, bedeute für sie und ihre Familien oft Schmach und Schande. Zudem biete die vietnamesische Regierung den Rückkehrern keinerlei Perspektiven. „Es kommt immer wieder vor, dass sich Abgeschobene das Leben nehmen, um nicht das Gesicht zu verlieren“, sagt der Vietnamese.

Lynn hat oft Heimweh nach ihrer Mutter und den Schwestern. „Ich versuche, nicht daran zu denken, dass es vielleicht noch Jahre dauern wird, bis wir uns wieder sehen“, sagt sie. Wenn sie das Land Berlin auch nur kurzzeitig verließe, könnte sie den Duldungsstatus verlieren. „Ich kann erst wieder nach Vietnam fliegen, wenn ich eine Aufenthaltserlaubnis habe“, sagt Lynn, „und wenn alle Schulden bezahlt sind.“

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