13.01.2023 14:10:35
GELESEN
Von Andreas Gruschke
ange Zeit sind Tibet und seine Bewohner ausschließlich von der spirituellen Warte aus betrachtet worden. Kaum jemand im Westen ließ es in seinem Denken zu, sie anders denn als passive Opfer der Politik zu sehen oder als erhabene Mittler zwischen den streng gläubigen Buddhisten unten auf einer von Bürden schweren Erde und einer Göttlichkeit, die weit oben in einem strahlend goldenen Himmel angesiedelt wird. Wie groß nun muss die Überraschung für idealistisch gesinnte und zu Idealisierung neigende Leser sein, die erfahren müssen, dass auch die Menschen auf dem Dach der Welt Leute mit weltlichen Sehnsüchten und körperlichen Begehren sind, zuweilen voller Stärke und Altruismus, die aber auch Schwäche und Gleichgültigkeit, ja mitunter sogar Bösartigkeit an den Tag legen können.
Tibeter habe ich bei den meisten Dingen, die sie in die Hand nehmen, als in hohem Grade aktive Menschen erlebt. Daher sehe ich es als ein großes Verdienst der Herausgeberin, Michelle Kleisath, und ihrer tibetischen Kollegen an, Lesern weltweit Zugang zum „wirklichen Leben in Tibet“ zu geben: durch die Sammlung von Geschichten, die im vorliegenden Band veröffentlicht sind. Hier endlich haben wir die Möglichkeit, aus erster Hand über tibetische Frauen und ihr Leben unterrichtet zu werden. Was es über ihre Sorgen und ihr Glück zu sagen gibt vernehmen wir durch ihre eigenen Stimmen und nicht mittels wohlmeinender, aber gleichwohl selbsternannter westlicher Tibetkenner und –Bewunderer. Viele von diesen nämlich wollen uns zuweilen einen der tibetischen Gesellschaft innewohnenden Feminismus weismachen, spiegeln damit aber nur das wider, wovon der Westen glaubt, dass es so sei. Mit der Alltagswirklichkeit in Tibet hat das oft wenig zu tun.
Nach fast einem Vierteljahrhundert Reisen und Forschungen in Tibet habe ich zu viele bittere Lebensroutine erlebt und von allzu vielen traurigen Lebensgeschichten tibetischer Frauen gehört. Manchmal schon war ich es müde, westlichen Mitmenschen deutlich zu machen, dass auch in der tibetischen Gesellschaft – wie an anderen Orten dieser Welt – Frauen sehr häufig mehr alltägliche ernste Probleme haben, als es das gewöhnliche Tibetbild vermittelt. So war es überfällig, dass Tibeterinnen selbst davon berichten, Frauen, die noch in Tibet leben und nicht schon durch die „Schule der westlichen Tibet-Rezeption“ im Exil gegangen sind, die die wie die Traditionalisten im Schneeland selbst dazu neigt, eine problemorientierte Sicht auf die Gesellschaft zu verbergen.
Endlich aber liegt uns eine Sammlung von Kurzgeschichten vor von einem unschätzbaren Wert, die sich um die Biographien einiger junger tibetischer Frauen entfalten, die in einfachen Nomadenfamilien oder armen bäuerlichen Haushalten aufgewachsen sind. Und doch haben sie neue Wege eingeschlagen und sich – mit Unterstützung oder gegen den Widerstand ihrer jeweiligen Dorfgemeinschaften – langsam durch das Schulsystem nach oben gekämpft. Sie haben hart studiert und schließlich diese für sie eigenartige Sprache erlernt, Englisch, über die sie nun direkt mit uns sprechen. Sie sehen sich auf einmal imstande – und verpflichtet – selbst zu erklären, wie ihr Land und ihre Mitmenschen sind, oder wie sie diese sehen.
So einfach das Erzählschema auch erscheinen mag – die Grundlinie ihres jungen Lebens und damit Erzählens ist jeweils dieselbe und folgt ihrem Weg zur Schulausbildung und deren Ende –, so interessant sind die äußerst unterschiedlichen Lebenshintergründe sowie die persönlichen Erfahrungen dieser tibetischen Frauen. Wir lesen von den sich wandelnden Lebensbedingungen einer Familie, nachdem deren Goldmine einstürzte und von lebhaften Erinnerungen einer zeitgenössischen Kindheit im nordosttibetischen Amdo, eng verwoben mit den lokalen Gewohnheiten und ihrer Kultur.
Eine Autorin, Samtsogye, beginnt mit dem liebevollen Blick auf Pilger, die sich ihren mühseligen Weg in die heilige Stadt Lhasa erarbeiten, um anschließend über die „Pilgerschaft“ ihres jungen Lebens zu sinnieren. Lum Tsering dagegen thematisiert in ihrer Geschichte „Mother’s eyes“ das allerorten schwierige und im tibetischen Kontext tabuisierte Thema häuslicher Gewalt, während Lhamotso in „A Farm in the Desert“ von armen Bauern berichtet, die einem Staudammprojekt weichen mussten und daher umgesiedelt wurden, und all den daraus resultierenden Problemen und Leiden. Wir fühlen uns von den Autorinnen behandelt wie innig vertraute, herzlich in ihren Familien aufgenommene Gäste, da sie uns beim Lesen erlauben, ihre Gefühle und Gedanken kennen zu lernen. Auf diese Weise gewähren sie uns einen außerordentlich tiefen Einblick in die Verhältnisse tibetischer Jugend in der heutigen Zeit.
Es bereitet Vergnügen, diese autobiographischen Essays zu lesen, und erzeugt doch zuweilen auch massive Betroffenheit. Wie ein frischer Wind berührt die Art, wie sich diese erst kürzlich aus der Welt der Nomaden und Bauern entstammenden gebildeten jungen Frauen, neugierig geworden zum Rest der Welt geöffnet haben und dieser nun ihre ureigenen Fragen stellen – nachdem sie festgestellt haben, wie viel weitläufiger diese Welt ist. Dies lässt die Texte so authentisch und unbefleckt wirken, trotz aller Schatten im Leben und der Gesellschaft der Protagonisten.
Die vorliegende Sammlung von zwölf Frauenbiographien gibt uns einen ausführlicheren und nachvollziehbareren Einblick in das tägliche Leben (eines Teils) der tibetischen Gesellschaft, ihrer Probleme und Sehnsüchte, als es all die methodischen Studien und gut gemeinten Unterstützerberichte taten und je tun können - und gleichzeitig sind sie überaus unterhaltsam. Ich hoffe sehr, dass es Dawa Drolma, Samtsogye, Lhamotso und den anderen jungen tibetischen Verfasserinnen dieses Buches vergönnt sein wird, viele Leser zu erreichen, auch wenn es nur auf Englisch vorliegt. Diese Tibeterinnen haben in einer Sprache geschrieben, die nicht ihre Muttersprache ist, damit sie auch Leser erreichen, deren Muttersprache sie nicht verstehen. Tun wir ihnen den Gefallen und hören dem zu, was sie uns zu sagen haben, denn es ist ein wichtiges Buch, mit dem sie uns großartige Einblicke in eine uns immer noch ferne Welt bieten.
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Rezension zu: „Heavy Earth, Golden Sky: Tibet Women Speak about Their Lives“, herausgegeben von Michelle Kleisath, 142 Seiten, 16,08 Euro.
Heavy Earth, Golden Sky: 142 Seiten, Paperback, Preis: 16.08 € Nur direkt bestellbar über:
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Tibet Nomad Childhood 108 Seiten, Paperback, Preis: 8.04 € Nur direkt bestellbar über:
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Jahzong: Tibet Tribal Leader 148 Seiten, Paperback, Preis: 7.24 € Nur direkt bestellbar über:
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A Northeastern Tibet Childhood 135 Seiten, Paperback, Preis: 8.04 € Nur direkt bestellbar über: |
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