09.08.2023 13:11:56
REISE
Von Thomas Bauer
Knapp fünfzehn Millionen Einwohner hat Kambodscha, und heute kam es mir vor, als hätten sie sich alle auf den Weg in die Hauptstadt gemacht. Rikschafahren in Phnom Penh, das wurde mir schnell klar, gehörte zu den ganz großen Herausforderungen, die sich mir im Laufe meines Reiselebens in den Weg stellten. Eine Armada von Mopedfahrern knatterte um mich herum. Wie ein Wespenschwarm kam sie mir vor. Geschickt nutzten ihre Mitglieder die wenigen Lücken aus, die sich vor mir auftaten. Am Straßenrand schepperten Fahrradrikschas über Schlaglöcher, zogen Verkäufer Garküchen an verbogenen Holzstäben hinter sich her. Und immer wieder spritzte unsere Formation auseinander, wenn sich ein Uraltlaster seinen Weg durch den Tumult bahnte.
Man sieht Phnom Penh noch deutlich an, dass es vor wenigen Jahrzehnten vom Terrorregime der Roten Khmer evakuiert und weitgehend zerstört worden ist. Moderne Hotelanlagen schießen direkt neben Hausruinen und vor Hinterhöfen aus dem Boden, die aus nichts als Schutt bestehen. Phnom Penh kommt wieder empor. Jetzt regiert der Kapitalismus. Seit westliche Touristen Kambodscha als Reiseland entdeckt haben, verdoppeln sich alle sechs Monate die Eintrittspreise für Museen und weitere Sehenswürdigkeiten in der Hauptstadt, ohne dass sich die jeweils entsprechende Gegenleistung in irgendeiner Weise verändern würde.
Vermutlich ist kein Land der Welt derart für eine einzige Attraktion bekannt wie Kambodscha für die Tempelanlagen von Angkor. Angkor ist omnipräsent, man begegnet dem Begriff auf Schritt und Tritt. Es gibt Angkor-Kekse, Angkor-Bier und ein erfolgreiches Halbschuhmodell namens „Angkor Wat Explorer“. Jedes zweite Restaurant hat den Namen in irgendeiner Weise in seinen Titel integriert.
Kambodschas ökonomische Entwicklung verläuft ruckartig und bleibt undurchsichtig. Die Korruption ist im ganzen Land praktisch mit den Händen zu greifen. Da ist es wohl symptomatisch, dass das liebste Gericht der Kambodschaner „Amok“ heißt und aus einer Mischung an Zutaten besteht, die westliche Gaumen kaum entschlüsseln können.
Wenn es nur eine Straße geben würde, die diesen Namen verdiente! Mit jedem Tag, den ich im Dreck und Staub unterwegs war, war ich verblüffter, dass ich noch immer ein Fahrrad unter mir hatte. Mit zwanzig Stundenkilometern krachte mein SMIKE in badewannengroße Schlaglöcher. Der Beiwagen vollführte tollkühne Bocksprünge aus, wenn ein Stein oder ein Stück Holz unter sein Rad geriet. Auf den Abschnitten, die mit Wellblech ausgelegt waren, wurden wir beide durchgerüttelt wie bei einem Schüttelfrost. Von oben bis unten besudelt gelangte ich schließlich nach Poipet, die letzte kambodschanische Stadt vor der thailändischen Grenze. Mein Zustand passte indessen gut zu jenem der Stadt. Poipet strengt sich an, um sein Image als schmuddeliger Sündenpfuhl aufrecht zu erhalten. Statt beispielsweise in Straßenbaumaßnahmen zu investieren, zog man vor zwei Jahren neben den aufgereihten Bordellen einen immensen Kasinokomplex hoch, dessen gepflegte Glasfront heftig mit den vergessenen Bettlern und Minenopfern kontrastiert, die vor der Eingangstür um ein paar Baht bitten.
Was für ein Kontrast zu Thailand. Unmittelbar hinter der Grenze begann die Zivilisation, und nach den Entbehrungen der vergangenen zwei Wochen sehnte ich sie auch regelrecht herbei. Ehre sei den thailändischen Straßenbauern, denn sie haben ganze Arbeit geleistet! Gelobt seien die Oreo-Kekse (ganz besonders die mit Erdnussbutter), die ich ab sofort wieder am Straßenrand kaufen konnte. Ein dreifaches Hoch auf den real existierenden Kapitalismus, der diese Errungenschaften ermöglicht hat!
„One night in Bangkok, and the world’s your oyster“, sang ich lauthals, während ich der Hauptstadt entgegen fuhr. Es war gar nicht einfach, den näselnden Gesang nachzuahmen, den ich immer wieder unter Einsatz meiner Fahrradklingel mit Queens „Bicycle Race“ kombinierte. Ab hier hatte ich keinerlei Probleme mehr, etwas Essbares aufzutreiben. In Thailand scheint eine Hälfte der Bevölkerung permanent damit beschäftigt zu sein, für die andere Hälfte zu kochen.
Bangkok erforschte ich schließlich ganz dekadent per Taxi. Wie üblich verlangte der Fahrer für die vierstündige Fahrt einmal „Nicht-der-Rede-wert“, was ich mit „So-gut-wie-nichts“ als Trinkgeld anreicherte. Einer der Vorteile, in München zu wohnen, ist, dass einem praktisch alle anderen Orte auf der Welt günstig vorkommen.
Nantopol Limpatyakrom, so der Name meines Taxifahrers, der groß auf einem Pappschild stand, das er um den Hals trug, führte mich souverän durch ein Gewirr von vierspurigen Autobahnen, über größenwahnsinnige Brückenanlagen hinweg und in vollgestopfte Einbahnstraßen hinein.
Ich hatte gut daran getan, die thailändische Hauptstadt nicht per Rikscha zu erkunden. Nach einem Tag voll fremder und extremer Eindrücke suchte ich eines der übelsten Hotels der Stadt auf, das sich jedoch geografisch günstig am Südrand der Metropole befand. Von hier aus sollte es morgen weitergehen. Anderthalbtausend Kilometer fehlten noch bis Singapur. Anderthalbtausend Kilometer in zwei Wochen. Das war wohl das, was man ein „ehrgeiziges Programm“ nennt.
Hitze.
Schwüle Hitze.
Hitze wie ein nasses Handtuch in der Sauna.
Hitze, die vom Boden aufsteigt, von den Hügeln herabkriecht.
Hitze, die sich um mich legt wie eine Zwangsjacke.
Hitze, die alle Poren der Haut öffnet und herauszieht, was darunter ist.
Seit ich Bangkok verlassen hatte, wurden die Bedingungen um mich herum zunehmend tropisch. Kokosnüsse fielen neben der Straße zu Boden. Linkerhand erstreckten sich kilometerweit Gummibaumplantagen. Mehrmals täglich ringelte sich eine Schlange die Strasse entlang. Und meine Kekse teilte ich während mancher Pause mit Makaken, stämmigen, mürrisch aussehenden Affen, die aus den angrenzenden Wäldern gekommen waren.
Die Hitze, in Kombination mit einer ungesund hohen Luftfeuchtigkeit, machte mir zusehends zu schaffen. Bereits zehn Pedalumdrehungen nach meinem Aufbruch von Bangkok war ich schweißgebadet. Nach einer Viertelstunde legte sich das T-Shirt um mich wie eine zweite Haut. Nach einer Stunde hatte ich das Gefühl, ich zöge einen Streifen aus Schweiß hinter mir her. Dabei war es erst kurz nach neun Uhr morgens.
Auch die Menschen, denen ich begegnete, veränderten sich auf dem Weg nach Süden. Die Männer trugen Rebellion im Blick, schauten mir herausfordernd in die Augen. Die Frauen grüßten mich mit Augenaufschlägen; ihre Kopftücher wehten im Wind, wenn sie auf ihren Mopeds an mir vorbei fuhren. Die Verkäufer bewegten sich ungleich zackiger als im Norden. Niemand verbeugte sich mehr, wenn er etwas sagte. Der Buddhismus verlor mit jedem Kilometer an Kraft. Das islamisch geprägte Malaysia kündigte sich an.
Eine Sache sollte jedoch in ganz Thailand gleich bleiben – egal ob ich mich im buddhistischen Norden oder im islamisch geprägten Süden aufhielt: Während in Deutschland die Hupe eines Autos oder Motorrads ein Warnsignal darstellt, das eine akute Gefahrensituation anzeigt, ist die Hupe in Thailand ein vielseitig einsetzbares Multifunktionsinstrument. Sie wird betätigt, um andere Verkehrsteilnehmer zu begrüßen und zu verabschieden. Ein thailändischer Autofahrer hupt grundsätzlich, bevor er überholen will, während er überholt und nachdem er überholt hat. Er hupt außerdem, wenn er selbst überholt wird, und generell vor, in und nach einer Kurve. Die Hupe erfreut sich des Weiteren in diesem Land großer Beliebtheit als Blinker- und als Bremsersatz. Und etliche Verkehrsteilnehmer, davon war ich täglich fester überzeugt, betätigten dieses Instrument schließlich, um sich davon zu überzeugen, dass das wichtigste Teil ihres Fahrzeugs noch funktionierte.
Schwitzend, mit dem ständigen Lärm in den Ohren erreichte ich Malaysia. Hier änderte sich erstmals das Wort, das mir die Kinder auf meinem Weg hinterher riefen. Statt „Falang“, also Langnase, wurde ich ab sofort „Madsale“ genannt. Diese Bezeichnung gilt für alle westlichen Ausländer und geht zurück auf das englische „Mad Sailor“. Weder die britischen, noch die portugiesischen und holländischen Seefahrer, die das malaysische Malakka einst als Handelshafen nutzten, waren dem Alkohol abgeneigt – und pflegten nach ausufernden Gelagen alberne Dinge zu tun.
Über eine dreizehn Kilometer lange Brücke, die längste in Südostasien, erreichte ich die Insel Penang. Seit jeher ist dieses Fleckchen Erde ein beliebtes Ausflugsziel deutscher Touristen. Hermann Hesse und Karl May waren hier gewesen. Insofern machte es Sinn, dass mich die Malaysisch-Deutsche-Gesellschaft zu einem Vortrag über meine Rikschafahrt eingeladen hatte. Eine Brücke zu meinen fünfzig Zuhörern baute ich, indem ich auf ein international verständliches Mittel zurückgriff: auf Humor. Ich demonstrierte den Farbunterschied zwischen Ober- und Unterarm, berichtete von meinen Kommunikationsschwierigkeiten in Thailand und schilderte plastisch, wie ich in Südlaos Ratte gegessen hatte. Dabei merkte ich, dass es mir gut tat, die Eindrücke, Begegnungen und Erlebnisse meiner Reise auf diese Weise Revue passieren zu lassen. Der Vortrag stellte zudem eine gute Übung dar: In Singapur sollte ich, abermals in Englisch, eine ähnliche Veranstaltung vor über zweihundert Zuhörern halten.
Die sich anschließende Strecke zwischen Kuala Lumpur und Malakka führte mir eindrucksvoll vor Augen, wie multikulturell Malaysia ist. Hinduistische und chinesische Tempel, Kirchen und Moscheen ließ ich auf beiden Seiten der Straße hinter mir. Manchmal befanden sich die Gebäude von drei verschiedenen Weltreligionen sogar in derselben Straße, in Sichtweite voneinander.
Einmal mehr waren die klimatischen Bedingungen etwas für Schlangen und Insekten. Für einen Rad fahrenden Mitteleuropäer war es gefühlte zwanzig Grad zu heiß, und die Tatsache, dass sich die Luft bereits kurz nach dem Aufstehen anfühlte wie ein heißer Wadenwickel trug nicht wesentlich zur Leistungssteigerung bei. Ich entschloss mich, jeden Tag eine lange Siesta einzulegen. In einem Restaurant kurz vor Malakka aß ich bei einer solchen Gelegenheit kleingeschnittene Haifischflossen mit einer Soße aus reichlich Knoblauch, Soja und salziger Fischpaste. Abgerundet wurde mein Festmahl durch Eier der Roten Waldameise.
Als ich Malakka erreichte, waren die Straßen voller Löwen und Drachen. Reihen roter Lampions zogen sich von Haus zu Haus. Comicfiguren schmückten die Schaufenster. Überall wurden mir paarweise Orangen entgegen gehalten. Das Spektakel wird „Chinesisches Neujahrsfest“ genannt und würde die Stadt vier Tage lang in Atem halten. „Willkommen im Jahr der Ratte“, begrüßte mich der Inhaber des Hotels, in dem ich Unterschlupf gefunden hatte. Dieses Tier schien mich während meiner Rikschatour dauerhaft zu begleiten.
Ich erreichte Singapur am Morgen des elften Februar. Wie eine Verheißung erhoben sich seine Wolkenkratzer vor mir, während ich zwei Zollbeamten drei Mal versichern musste, dass ich in den vergangenen sechs Monaten nicht in Afrika gewesen war und sie darum keine Angst haben mussten, dass ich den AIDS-Virus in ihre Stadt brächte.
Der Tachometer meines SMIKE zeigte dreieinhalbtausend Kilometer an. Ich hatte geschafft, woran ich bis zuletzt gezweifelt hatte: Ich hatte diese Strecke tatsächlich in nur vierzig Tagen hinter mich gebracht. Es war das ambitionierteste Vorhaben, das ich je in die Tat umgesetzt hatte. Und ganz nebenbei: Zuhause besitze ich nicht einmal ein eigenes Fahrrad. Denn eigentlich bin ich ja gar kein Radfahrer.
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Den ersten Teil des Reiseberichtes von Thomas Bauer finden Sie in EM 01-08.
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