13.01.2023 14:10:35
GELESEN
Von Andreas Gruschke
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„Roter Mohn“ von Alai |
ine schriftliche Erzählliteratur unabhängig von religiösen Traktaten und geschichtlichen Annalen, existiert in Tibet erst seit wenigen Jahrzehnten. Daß bislang kaum etwas davon seinen Weg in deutsche Übersetzungen fand, zeigt, wie wenig dies dem Westen passend erscheint. Es ist das Verdienst des Unionsverlages, nach einem vor mehreren Jahren herausgebrachten Band mit Kurzgeschichten nun mit Alais „Roter Mohn“ auch den ersten tibetischen Roman bei uns erhältlich zu machen.
Alai wurde 1959 in der Nähe der osttibetischen Region Barkham (chin. Ma’erkang, Nord-Sichuan) geboren. Sie gehört zum Gyarong, einer von Schluchten zerfressenen Landschaft, in der sich - wie in „Roter Mohn“ beschrieben - bis tief ins 20. Jahrhundert hinein Kleinfürstentümer dauerhaft bekriegten. Alai schreibt auf Chinesisch, da die tibetische Gesellschaft bis heute überwiegend aus Bauern und Nomaden besteht, denen mit einem hohen Anteil an Analphabeten der Zugang zur Literatur und oft auch das Interesse an ihr fehlt. So wendet sich der Schriftsteller mit seinen Werken an die riesige, literarisch interessierte Bevölkerung Chinas. Alai veröffentlichte bislang Gedichte und Erzählungen, er ist heute Chefredakteur von Chinas größtem Science-Fiction-Magazin „Science Fiction World“.
Alais Roman ist in vieler Hinsicht einzigartig. Fern vom westlichen Tibet-Klischee einer heilen Welt im Schneeland stellt er eine abgelegene osttibetische Region in der Zeit des politischen Umbruchs zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt seines Werkes. Alai erzählt aus dem Blickwinkel des zweiten Sohnes von Fürst Maichi, der sich selbst als einen Idioten betrachtet und damit das Urteil aller anderen teilt. Um so unvoreingenommener beobachtet der Erzähler seine Umgebung: die Festung seines Vaters, der zusammen mit dem ältesten Sohn im äußersten Osten Tibets eine rücksichtslose und grausame Feudalherrschaft ausübt; die in kleinliche Streitereien verwickelten Lamas; die Intrigen um schöne Frauen, sowie die Fehden zwischen benachbarten Fürsten.
Den mittelalterlichen Lebensalltag beschreibt Alai ebenso deutlich wie den Einbruch der Moderne in die tibetische Gebirgslandschaft. Dieser bahnt sich zunächst wie ein in der Ferne erklingendes Echo an und mündet schließlich in einen mächtigen Donnerhall. Ausgelöst wird all dies dadurch, daß Fürst Maichi sich von einem Sondergesandten der chinesischen Regierung zum Anbau von Mohn anstiften läßt. Dessen betörende rote Blüten und der Duft seiner reifenden Kapseln bringt dem Fürstentum unermeßlichen Reichtum ein und zusammen mit den aus China gelieferten Waffen auch eine militärische Vormachtstellung. Als die Nachbarherrscher dem Fürsten Maichi nacheifern und der Idiot seinem Vater aus einer Laune heraus rät, mehr Getreide anzubauen, kommt es durch eine Hungersnot zum großen Konflikt. Zu sehr mit sich selbst beschäftigt erkennt niemand von den Fürsten, daß sich durch die politischen Ereignisse in China das Ende einer Ära abzeichnet und die Machtergreifung der Kommunisten bevorsteht. Einzig der Idiot, der als Protagonist von seinem eigenen Ende berichtet, weiß was die Stunde geschlagen hat.
Zunächst von vielen chinesischen Verlagen wegen der heiklen politischen Thematik abgelehnt, wurde „Roter Mohn“ 1998 ein Verkaufsschlager im Reich der Mitte. Im Jahr 2000 erhielt das Buch die wichtigste chinesische Literaturauszeichnung, den Mao-Dun-Preis.
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Rezension zu: „Roter Mohn“ von Alai, Unionsverlag, Zürich 2004, 448 Seiten, EUR 22,90, ISBN 3--00327-3.
Der Autor: Andreas Gruschke, studierter Ethnologe und Sinologe, bereist seit über 20 Jahren den Mittleren und Fernen Osten. Er ist gefragt als Referent und Reiseleiter und publizierte zahlreiche Bücher, u.a. über die Seidenstraße, den Dalai Lama und chinesischen Tee. Seit letztem Jahr ist Gruschke wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich „Differenz und Integration“ der Universitäten Wittenberg-Halle und Leipzig. Sie erreichen den Autor über seine Netzseite www.gruzim.de.
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