Weltmacht des „Asiatischen Jahrhunderts“AUFSTIEG CHINAS

Weltmacht des „Asiatischen Jahrhunderts“

Weltmacht des „Asiatischen Jahrhunderts“

Es wird eine Verschiebung des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Epizentrums von Europa und Amerika nach Asien geben. Die unilateralen Zeiten für die USA sind vorbei. China wird in Kürze eine ebenbürtige Weltmacht sein. Ob Washington dies akzeptiert, ist die Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts. Bleiben die USA lernunfähig, ist der Weltfrieden in Gefahr. Diese Thesen vertritt Karl Pilny in seinem Buch „Das asiatische Jahrhundert“. Das Eurasische Magazin hat nachgefragt.

Von Hans Wagner

Zur Person: Karl H. Pilny  
Dr. Karl H. PilnyDer Wirtschaftsjurist Dr. Karl H. Pilny ist ein profunder Kenner Ostasiens. Er setzt sich seit zwanzig Jahren vor allem mit Geschichte, Kultur und Wirtschaft Chinas und Japans auseinander. Pilny hat als Rechtsreferendar der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Tokio gearbeitet, danach im Japanreferat des Max Planck Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht in München. Einige Jahre hielt er als Assistenzprofessor für deutsches Recht an der Universität Kyoto und der Universität Osaka Vorlesungen auf Japanisch und Deutsch.

Im Anschluß war er für verschiedene internationale Anwaltssozietäten in Asien und Europa tätig. Seit 2001 leitet er als Managing Partner des Berliner Büros das Deutschlandgeschäft von Travers Smith, einer renommierten britischen Anwaltssozietät. Er betreut eine große Anzahl an Mandaten mit Asienbezug. Seit 1980 unternimmt er regelmäßig Privat- und Geschäftsreisen nach China und in den südostasiatischen Raum.

Im Frühjahr 2005 veröffentlichte Pilny im Campus Verlag unter dem Titel „Das asiatische Jahrhundert – China und Japan auf dem Weg zur neuen Weltmacht“ ein sehr aufschlußreiches Buch über den unaufhaltsamen Aufstieg Asiens. Das Eurasische Magazin wird es in einer der nächsten Ausgaben besprechen.
 

Eurasisches Magazin: Wenn ein asiatisches Jahrhundert bevorsteht, welche Rolle wird darin Europa und den USA zufallen?

Pilny: Langfristig werden sich Europa und die USA wirtschaftlich, politisch und kulturell mit schwindender Dominanz konfrontiert sehen. Bildlich ausgedrückt: das Mittelmeer ist der Ozean der Vergangenheit, der Atlantik ist es noch in der Gegenwart, aber der Pazifik wird der Ozean der Zukunft sein. Es wird im Verlauf des Jahrhunderts eine Verschiebung des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Epizentrums nach Asien geben.

EM: Europa und die USA waren es bislang - oder sind es auch noch - gewohnt zu dominieren – heißt das, sie müßten in eine neue, ihnen bislang unbekannte Rolle erst noch hineinfinden?

Pilny: Das wird eine der großen Herausforderungen vor allem für die USA. Sie müssen lernen, sich damit abzufinden, daß es eine multipolare Welt gibt mit einer Vielzahl an neuen, starken Mitspielern, in vorderster Linie China und Indien. Das heißt, daß die unilateralen Zeiten für die Vereinigten Staaten vorbei sind und daß sie gezwungen sein werden, sich zu arrangieren. China ist aufgrund seiner 5.000 Jahre alten Geschichte und seiner inneren Struktur weit besser gerüstet, mit einer multipolaren Welt zurechtzukommen, als die USA.

Woran abzulesen ist, daß der Pazifik der Ozean der Zukunft sein wird

EM: Wenn wir das Bild mit den Ozeanen noch einmal aufnehmen, dann heißt das doch, das verflossene 20. Jahrhundert war das amerikanische Jahrhundert?

Pilny: Das kann man durchaus so sehen. Es fing mit der massiven Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts an. Damals war allerdings auch Deutschland ein Anwärter auf eine künftige Weltmachtposition. Platzhalter für die neue Weltmacht USA war dann das britische Empire. Der Aufstieg für Amerika begann mit dem Ersten Weltkrieg, aus dem es als Sieger hervorgegangen ist. Es hat seine Chance genutzt. Im Zweiten Weltkrieg war das noch deutlicher. Die Staatenstruktur, die vorher für Europa prägend war, wurde dadurch beendet. Wir erlebten den Kalten Krieg einer bipolaren Welt, den die USA nach eigener Definition auch noch gewonnen haben, nachdem die sozialistische Gegenmacht zerfallen war.

EM: Woran ist abzulesen, daß der Ozean der Zukunft der Pazifik ist und nun ein asiatisches Jahrhundert begonnen hat?

Pilny: Ein ganz starkes Indiz ist, das seit den 80er Jahren alle zwei drei Jahre ein anderes asiatisches Land weltweit die Schlagzeilen beherrscht. Bis dahin wurde Asien als Armenhaus der Welt betrachtet, das noch elender dastand als Afrika. Aber mit dem Aufstieg Japans, der den Westen damals in den 80ern aufschreckte, begann sich das zu ändern. Als Japan dann der Stagnation anheimfiel, kamen die Tigerstaaten. Und schon wenige Jahre nach deren Währungskrise trat China ins Rampenlicht. Indien steht ante portas. Zwei Drittel der Menschheit lebt in Asien. Diese riesige Bevölkerungsmehrheit wird in erstaunlicher Geschwindigkeit immer wohlhabender, gebildeter und innovativer. Das macht die Dimensionen der Veränderung deutlich.

EM: Der US-Ökonom Jeremy Rifkin, Präsident einer amerikanischen Stiftung zur Erforschung wirtschaftlicher Entwicklungen, sieht statt dessen Europa als neue, leise Supermacht emporkommen, auch wenn die Amerikaner es nicht glaubten und die Europäer es selbst noch nicht gemerkt hätten. Und die Asiaten - lachen sie über solche Prophezeiungen?

Pilny: Letzteres kann nicht ausgeschlossen werden. Angesichts der jüngsten mageren Wachstumsprognosen und der immensen Strukturprobleme, mit denen sich Europa konfrontiert sieht, ist Rifkins These aus heutiger Perspektive kühn. Dennoch wird Europa in Asien als ein Wirtschaftsraum wahrgenommen, der über eine solide ökonomische Basis verfügt, nach wie vor einen enormen Wohlstand aufweist und auf vielen Feldern noch immer Weltspitze ist. Wenn die Länder Osteuropas es schaffen, in großen Schritten zu den westeuropäischen Ökonomien aufzuschließen, wenn die EU ihre dringenden Reformen entschlossen durchsetzt, wird es vielleicht – aber nur vielleicht - eine Chance auf eine derartige Entwicklung geben. Ich persönlich glaube aber nicht daran.

Warum für Europa als neue Supermacht die Latte zu hoch liegt.

EM: Weshalb nicht?

Pilny: Es ist zwar sehr, sehr viel erreicht worden, was die europäische Integration angeht, wenn man sich ansieht, wie es 1945 in Europa ausgesehen hat. Aber es geht nicht mehr oder nur noch zögerlich voran. Die gescheiterten Referenden, die schwierige Integration osteuropäischer Länder, die Frage nach dem Türkeibeitritt bergen viele politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten in sich, so daß trotz Aufbietung aller Kräfte in den nächsten dreißig Jahren eine erfolgreiche Integration und Erweiterung der EU als schwierig erscheint. Und selbst wenn dies gelänge, wäre es mit der bloßen Integration auch nicht getan. Die EU müßte ja – um Rifkins Voraussage zu erfüllen – die Weltspitze erklimmen. Und da liegt die Latte angesichts geringer europäischer Dynamik wohl zu hoch.

EM: Was haben die Asiaten, was wir Europäer nicht oder nicht mehr haben – also warum wird das 21. Jahrhundert kein europäisches?

Pilny: Die Unterschiedlichkeit der Werte sind ein ganz entscheidender Faktor. Es geht um die gesellschaftlichen Wertsysteme, die auch wirtschaftliche Auswirkungen haben. Das heißt, um die vom Konfuzianismus geprägte Lern- und Leistungsgesellschaft, die auch eine gewisse Leidensfähigkeit beinhaltet, um kollektive Tugenden, die bei jedem, der sie anwendet, zum Erfolg führen. Ich möchte den Konfuzianismus damit bewußt auf die Stufe des Protestantismus stellen, wie ihn Max Weber beschrieben hat, oder den Leistungscalvinismus etc. – es geht also um Grundeinstellungen, die einst auch den Unterschied zwischen Sparta und Athen ausgemacht haben.

Weshalb die Primärtugenden der Asiaten entscheidende Wettbewerbsvorteile sind

EM: Können Sie das noch etwas präzisieren?

Pilny: Es handelt sich um Primärtugenden, die das Volk, das Kollektiv verbindet. Bildung steht im Zentrum der Dinge. Bildung ist es, die es den asiatischen Ländern wie Japan, Korea und jetzt China möglich machte, sich quasi aus dem Nichts an die Weltspitze hochzuarbeiten. Das zeigt sich sowohl im großen Rahmen, an den im Vergleich zu Europa wesentlich höheren Ausgaben für Bildung und Forschung dieser Länder, als auch im kleinen an der Einstellung der Eltern, ihrem Nachwuchs von der Wiege an ein Höchstmaß an Bildung zukommen zu lassen. Wissen und Innovation, aber auch Toleranz und pragmatische Flexibilität kennzeichnen die Gesellschaften Asiens.

EM: Wie wirkt sich das aus?

Pilny: Das ergibt per se einen Startvorteil. Die Asiaten sind heute fleißiger, ausdauernder und leidensfähiger, und sie sehen sich in ihren Ländern als ein großes Ganzes. Der Westen hat eine gewisse Sattheit und Trägheit erreicht, die mit einem sehr ausgeprägten Individualismus und Egoismus Hand in Hand geht. Da ist es schwer, mit einer Lern- und Leistungsgesellschaft Schritt zu halten oder sie gar zu überflügeln. Außerdem haben die asiatischen Länder die Möglichkeit gehabt, von den Fehlern des Westens zu lernen.

EM: Jedes europäische Unternehmen, das zur Zeit nach Asien geht, stellt dort seine wertvollsten Ressourcen zur Verfügung: technologischen Vorsprung und eine lange Erfahrung auf den Weltmärkten. Ziehen sich westliche Unternehmer ihre späteren Überwinder selbst heran, ohne es zu merken?

Pilny: In gewissem Sinne kann man das durchaus so sehen. In China wird das ungezügelte Kopieren von allem und jedem, zum Beispiel von Maschinen, von Handys und DVDs halb als Kavaliersdelikt verstanden. Es wird mit dem Hinweis auf die Tradition schön geredet, nach der die Schüler die Werke ihrer Lehrer immer und immer wieder nachahmten. Dadurch besteht diese Gefahr durchaus. Auch in Korea und Japan begann der wirtschaftliche Erfolg mit dem Kopieren westlicher Elektronikprodukte – heute sind die Nationen globale Technologieführer. Allerdings sind sie mit wachsendem Wohlstand für den Westen auch zu wesentlichen Exportmärkten geworden.

EM: Haben die Unternehmen im Westen denn überhaupt eine Wahl oder fehlt ihnen vor allem eine Asienstrategie, wie die Unternehmensberaterin Hanne Seelmann-Holzmann im Interview mit dem Eurasischen Magazin bemängelte ?

Pilny: Die Unternehmen im Westen haben in der Tat keine Wahl. Wenn sie im asiatischen Markt nicht präsent sind, haben sie bereits auf mittlere Sicht auch weltweit keine Chancen mehr. Außerdem - wenn sie nicht nach China gehen, kommen die Chinesen eben zu uns, das beginnt ja bereits. Es kommt eben darauf an, möglichst so geschickt zu operieren, daß man den Schlüssel in Deutschland behält und nur bestimmte Teile nach Asien abgibt. Das sollte die Asienstrategie sein. Und was das Kopieren anlangt – das ist keineswegs eine Erfindung des Ostens. Zur Blütezeit beispielsweise der Quing-Dynastie, der Mandschu-Kaiser, waren die Engländer noch eine kleine Piratennation, die im Reich der Mitte kräftig geplündert und kopiert hat.

„Es ist gut möglich, daß Europa zu einem postindustriellen Disneyland herabsinkt“.

EM: China verkauft weltweit bereits mehr Autos als Deutschland. Jetzt haben chinesische Autobauer auch den Export nach Europa aufgenommen. In der Nano- und Biotechnologie hat Asien Europa abgehängt. Die gigantisch wachsenden Volkswirtschaften Asiens saugen die Energie der Welt auf und treiben die Preise. Ist es aufgrund der Dynamik, die in den asiatischen Volkswirtschaften herrscht, denkbar, daß Europa wirtschaftlich zu einem Anhängsel Asiens wird - analog zur geographischen Situation?

Pilny: In den letzten Jahren war selbst das geringe Wachstum in Westeuropa nicht auf eine Entwicklung von innen heraus zurückzuführen. Es hing vielmehr von Exporten in die Boomregionen ab, und da steht Asien ja neben den USA tatsächlich an erster Stelle. Allein das Wachstum Chinas war 2004 für ein Drittel des gesamten globalen Wachstums verantwortlich. Insofern hängt Europa bereits jetzt wirtschaftlich stark von der Entwicklung in Asien ab. Am Ende des 21. Jahrhunderts dürfte Europa in der Tat nur noch als Apendix, als Wurmfortsatz Asiens existieren. Dafür spricht vieles. Es ist gut möglich, daß Europa dann zu einem postindustriellen Disneyland herabsinkt, in das die wohlhabenden Asiaten kommen, um sich zu bilden, Kultur und Erholung genießen.

EM: Wäre es nicht andererseits auch möglich, daß sich eine Partnerschaft entwickelt - China strebt eine multipolare Weltordnung an, ebenso wie Europa und Rußland. Könnte aus diesen gleichlautenden politischen Interessen eine strategische Allianz sowohl wirtschaftlich als auch politisch und militärisch mit Europa und Rußland erwachsen – ein Stichwort wäre das Navigationssystem Galileo?

Pilny: Traditionell ist die Beziehung zwischen Rußland und China eher problembehaftet. Im Hinblick auf den Energiehunger Chinas und den schwindenden Einfluß Rußlands in der geopolitischen Weltordnung hat sich in den letzten Jahren jedoch eine intensivere Kooperation zwischen den Ländern entwickelt, die man aber nicht überbewerten sollte. Da Europa zwar ein komplexes Verhältnis insbesondere zu Rußland hat, dennoch aber mit beiden Ländern ausgezeichnete Beziehungen pflegt, gibt es durchaus Chancen auf eine strategische Partnerschaft. Je mehr sich der Interessenkonflikt mit Japan zuspitzt, um so wichtiger wird es für China, den Rücken freizuhaben, um so bedeutender wird die Kooperation mit Indien, mit Rußland und verschiedenen anderen Partnern im eurasischen Bereich. China ist nicht auf eine unilaterale Weltdominanz im amerikanischen Sinne aus. Ich glaube nicht, daß China sich als Weltpolizist fühlen oder gerieren möchte. China braucht für seine Entwicklung möglichst einige Jahrzehnte lang ein stabiles Wachstum von fünf oder sechs Prozent, um die pro Jahr 14 Millionen benötigten Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist an einer ruhigen Entwicklung in Asien interessiert und an einer guten Partnerschaft mit Europa.

Weshalb militärische Auseinandersetzungen nicht ausgeschlossen sind

EM: In den USA wird China vor allem von den Neokonservativen Falken schon lange als geopolitische Bedrohung empfunden, die man eindämmen muß. Wenn es zu einer Art Vereinigter Staaten von Asien käme, die Sie in Ihrem Buch erwähnen, mit China und Japan in den Führungsrollen, wäre dann die US-Vormacht auf der Welt dahin – zumindest wirtschaftlich?

Pilny: Wenn die enormen Wachstumsraten, die China in den letzten zehn Jahren erzielt hat, nachhaltig sind, womit man durchaus rechnen kann, wird China in fünfzehn Jahren nicht nur Deutschland und Japan überholen, sondern in der Tat auch die USA an ökonomischer Größe übertreffen. Dagegen machen die Neokonservativen in den USA mobil. Ich sehe auch die Gefahr, daß sich die Neokons in den USA durchsetzen. Ein gerade aktuelles Indiz ist der Vorgang um den kalifornischen Energiekonzern Unocal, den der chinesische Ölkonzern CNOOC übernehmen wollte. Sofort begann in Washington der Eiertanz mit dem Bundessicherheitsrat, um das zu verhindern. Da schottet sich plötzlich gerade die Macht ab, die stets den freien Welthandel propagiert. Wenn diese Entwicklung zunimmt, kann es auch zu einer Gegenreaktion Chinas kommen. Die Politik des Containments, der Versuch der Eindämmung Chinas könnte eines Tages böse Folgen haben. Vor allem wenn die USA den Hebel Japan benutzen. In der Beziehung Chinas zu Japan steckt so viel Konfliktpotential, daß sogar militärische Auseinandersetzungen nicht auszuschließen sind.

„Es wäre fatal, wenn Europa sich von den USA als Partner in diesem wachsenden Konfliktpotential zwischen Amerika und China instrumentalisieren ließe“.

EM: Das haben Sie in Ihrem Buch ausführlich dargestellt. Wenn es zu einem amerikanischen Einflußverlust kommt und infolge davon zu einer engeren eurasischen Kooperation – dann hätten wir ja möglicherweise ein eurasisches Jahrhundert?

Pilny: In dem heraufziehenden Konflikt zwischen den USA und China, die eines Tages die einzigen Supermächte weltweit sein werden, bekäme Europa ein sehr wichtige Rolle als Moderator. Es könnte eine ganz eigene Rolle spielen, weil es ja auch eine ganz eigene Interessenlage hat. Es wäre fatal, wenn Europa sich von den USA als Partner in diesem wachsenden Konfliktpotential zwischen Amerika und China instrumentalisieren ließe. Europa hat keine strategischen Interessen im Pazifik wie die USA.

EM: Und wie sieht es auf dem Gebiet der Wirtschaft aus?

Pilny: Aus heutiger Perspektive ist es leider eher unwahrscheinlich, daß Europa zu den hohen Wachstumsraten der asiatischen Länder aufschließen kann. Die hohen Ziele von Lissabon, der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt zu werden, liegen im Moment weit außerhalb der Sichtlinie. Deutschland steht sehr hoch im Kurs in China und dies sollten die Unternehmer hierzulande noch mehr nutzen. Europa insgesamt muß eine sehr differenzierte, eigene Asienstrategie fahren. Die EU war 2004 der wichtigste Handelspartner Chinas. Bei einem intensiven Ausbau und geschickter strategischer Nutzung könnte Europa tatsächlich zum wichtigsten Partner Asiens werden.

EM: Im 11. Jahrhundert gab es in China eine regelrechte Wissensexplosion. Sie weisen darauf hin, daß viele wichtige Grundlagenforschungen wie Buchdruck, Agrartechnik, Hochseekompaß aus dem Reich der Mitte kamen. Dennoch gelang China damals nicht der Wechsel von der Agrar- in die Industriegesellschaft. Warum gelingt das heute – wie kommt es, daß China in Bereichen modernster Technologien sogar Europa und die USA abhängt - was hat sich verändert?

Pilny: Der vorübergehende Niedergang Chinas lag in der nach innen gerichteten und verschlossenen Denkweise der letzten Dynastie der Qing im 18. und 19. Jahrhundert begründet. Sie war zu traditionsverhaftet und zu fortschrittsfeindlich. Seit dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiao Pings im Jahr 1978 hat China alles daran gesetzt, den verlorenen Vorsprung wieder aufzuholen und steht nun am Beginn einer neuen Ära. Das ist durchaus vergleichbar mit dem Aufbruch Japans im 19. Jahrhundert.

„Asien ist traditionell daran gewöhnt, mit einem mächtigen Reich der Mitte zusammenzuleben“.

EM: Auf welchen Gebieten wird Asien langfristig zur Vormacht auf dem eurasischen Kontinent – in der Forschung, der Wirtschaft, im Wohlstand und auch militärisch?

Pilny: In erster Linie auf den Feldern von Wirtschaft und Wissenschaft. Die asiatische Vormacht China strebt keine erkennbare militärische Rolle an. Sein Rüstungsetat ist immer noch kleiner als der von Frankreich beispielsweise. Die Rüstungsausgaben der USA sind größer als die der fünf Nächstplazierten zusammengenommen. Chinas Rüstung dient traditionellerweise seinem Selbstschutz. Ich finde es völlig verfehlt, wenn Japan behauptet, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gehe die größte militärische Gefahr von China aus. Warum sollte China ein Interesse an einem Erstschlag gegen die USA haben – es sei denn zur Selbstverteidigung? Aber in der gesamten Region sammelt sich durch die Nuklearisierung von Nordkorea, Indien und Pakistan, auch von Japan, das innerhalb von Wochen offiziell Atommacht sein könnte, ein brandgefährliches Potential an. Es ist vergleichbar dem kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs im Juni 1914. Aber die dadurch entstandene militärische Gefahr geht nicht von China aus.

EM: China strebt die Führungsposition in Asien an. Mit welchen Mitteln – wird China ein sanfter Hegemon sein?

Pilny: Asien ist traditionell daran gewöhnt, mit einem mächtigen Reich der Mitte zusammenzuleben. Für die asiatischen Länder ist das kein Problem. Daran ändern auch der starke chinesische Patriotismus nichts und die Selbstwahrnehmung als Reich der Mitte, als aufstrebende größte Macht der Erde. Sollte es aber zu Spannungen mit den anderen Großmächten in der Region kommen, wird China sicherlich ungern den kürzeren ziehen.

EM: Wenn Asien einen derartigen Aufschwung nimmt, wie Sie in Ihrem Buch vorhersagen, könnte es dann sogar zum Einwanderungsgebiet für Europäer werden, so wie das heute noch die USA sind?

Pilny: Das könnte gut sein, wobei das aber sicher nur für wenige Menschen relevant sein dürfte, schon alleine aufgrund unserer demographischen Entwicklung.

„Langfristig werden die USA mit ihrer Politik, eine Gegnerschaft Indiens gegenüber China aufzubauen, keinen Erfolg haben.“

EM: Welche Bedeutung hat die Assoziation der südostasiatischen Staaten, ASEAN, für die Entwicklung in Asien – bislang hat die Zusammenarbeit ja nicht besonders gut funktioniert und sich nur schleppend entwickelt?

Pilny: In der Tat hat ASEAN seit seiner Gründung noch nicht viel auf die Reihe bekommen. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern sind, wenn man an das riesige Indonesien denkt, oder an das kleine, reiche Brunei und an China sehr groß. Man darf auch nicht vergessen, daß die Europäische Union mehr als fünfzig Jahre gebraucht hat, um sich zu dem zu entwickeln, was sie jetzt ist. Wie auch in der EU arbeitet die ASEAN an der Schaffung eines integrierten Wirtschaftsmarktes, der sich in der Schaffung der Freihandelszone AFTA bereits zementiert hat. Insofern glaube ich, daß die Vereinigten Staaten von Asien noch in sehr weiter Ferne liegen. Die natürlichere Form ist die einer starken Führungsmacht China, so wie es jahrtausendelang der Fall war. Der chinesische Renmimbi ist ja de facto schon jetzt die Leitwährung Asiens.

EM: Sie haben in Ihrem Buch den Aufstieg Indiens nur punktuell und nur im Vergleich zu Japan und China erwähnt. Von den USA wird jetzt die atomare Macht dieses Landes gefördert. Offensichtlich versuchen die USA Indien gegen China in Position zu bringen. Kann dieser Versuch erfolgreich sein?

Pilny: Das glaube ich nicht. Es ist mal wieder einmal ein ziemlich platter Versuch der USA. Fast könnte man schmunzeln. Amerika muß aufpassen, nicht den letzten Rest von Glaubwürdigkeit zu verspielen. Bis vor kurzem gab es noch Sanktionen wegen der Entwicklung Indiens zur Atommacht, jetzt Unterstützung. Gegenüber Pakistan verhalten sich die USA genauso. Nordkorea und der Iran dagegen, die auch Atommächte sind oder werden wollen, gehören zum Reich des Bösen, weil sie US-Interessen stören könnten. Die Wiederannäherung Chinas an Indien hat viel mehr Substanz. Langfristig werden die USA mit ihrer Politik, eine Gegnerschaft Indiens gegenüber China aufzubauen, keinen Erfolg haben.

Die barbarischen Akte des Kolonialismus sind in Asien nicht vergessen.

EM: In vielen asiatischen Staaten, in Indien, China, Vietnam usw. gibt es eine verbreitete Abneigung gegenüber dem Westen, aus den Zeiten des Kolonialismus und diverser Kriege. Vor allem die USA sind unbeliebt. Beeinflußt die Erinnerung an Demütigungen die heutige und künftige Politik asiatischer Staaten noch?

Pilny: Gerade in China spielt die Erinnerung an die vergangene Zeit tatsächlich noch eine Rolle, und die Demütigungen der damaligen Kontrahenten sind nicht vergessen. Es gibt einige sehr tief sitzende Stachel, wie beispielsweise das Niederbrennen des Kaiserlichen Sommerpalastes in China während der Opiumkriege durch Truppen Frankreichs und Englands. Dieser barbarische Akt ist unvergessen. Besonders gilt das auch für japanische Greueltaten wie das Massaker von Nangking. Japan steht sogar besonders schlecht da, weil es sich im Gegensatz zu den Europäern mit seiner Geschichte nicht kritisch auseinandergesetzt hat.

EM: Können sich daraus also immer noch Nachteile für eine Partnerschaft mit China ergeben?

Pilny: Durchaus. Allerdings ist es auch beeindruckend, wie pragmatisch andererseits asiatische Regierungen sein können. Auf Laos wurden im Vietnamkrieg von den USA mehr Bomben abgeworfen als im Zweiten Weltkrieg auf allen Kriegsschauplätzen zusammengenommen. Für Vietnam gilt ähnliches. Dennoch gehen diese Länder heute sehr pragmatisch mit den USA um. Europäische Länder, die ihre Dorffehden oft über Jahrhunderte mit sich herumschleppen, könnten davon sehr viel lernen.

EM: Sie schreiben, es werde im 21. Jahrhundert voraussichtlich keine militärisch-aggressiven Großmächte mehr geben. Außer den USA wohl – oder glauben Sie wirklich, daß Washington seine weltweite Militärpräsenz aufgibt und zum friedlichen Globalplayer wird, der sich von Asien an die Wand spielen läßt?

Pilny: Das möchte ich präzisieren. Gemeint war, daß es keine Macht mehr gibt, die aus ideologischen Gründen Eroberungspolitik betreibt und Weltrevolutionen militärisch durchsetzen möchte. Der größte Unsicherheitsfaktor für den Frieden ist die Denkweise des 19. Jahrhunderts, die von den USA auch noch im 21. Jahrhundert verfolgt wird. Sie versuchen sich moralisch als Worldleader zu etablieren und sich das Recht herauszunehmen, qua Präventivschlag weltweit eine ihnen genehme Ordnung durchzusetzen. Dieses Bestreben, aber auch das militärische Potential, das man dafür braucht, sehe ich bei keiner anderen Macht. Für den Frieden auf der Welt wird deshalb alles davon abhängen, wie lernfähig die USA sein werden, ob sie es schaffen, zu akzeptieren, daß China in Kürze eine ebenbürtige Weltmacht ist. Das wird die Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts sein.

EM: Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.

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